Lessing gehört für ihn ins Museum, seine Schauspieler sagen nur, was sie wollen. Theateransichten eines Gegenwartsdramatikers.

Hamburg. Er ist der "Schopenhauer unter den Edgar-Wallace-Imitatoren", der "letzte Antikapitalist des Theaters", der "Sitcom-Systemkritiker". Mangels passender Schubladen inspiriert Rene Pollesch das Feuilleton zu immer fantasievolleren Einordnungsversuchen. Unumstritten gehört der 46-Jährige zu den einflussreichsten Theatermachern der Gegenwart. Bei den Autorentheatertagen ist er gleich doppelt vertreten: Am Sonntag mit "Fantasma", einer aberwitzigen Geisterbahnfahrt aus dem Wiener Akademietheater mit den Theaterstars Sophie Rois und Martin Wuttke. Am 9. Mai feiert seine Inszenierung "JFK" Uraufführung. Ein Abendblatt-Gespräch über die Sehnsucht nach politischem Theater - und über das Bezahlen von Praktikanten, spießige Zuschauer und autoritäre Literatur.


Hamburger Abendblatt:

Was ist das eigentlich: politisches Theater?

Rene Pollesch:

Nicht unbedingt ein Theater, das an der Oberfläche politisch ist. Wo zum Beispiel moralisch Kapitalismuskritik geübt wird, die dann von jedem, der zuschaut, abgenickt werden kann. Sich über überzogene Managergehälter aufzuregen ist jedenfalls noch nicht politisches Theater. Das Theater hält sich automatisch für politisch, seit den Siebzigern, das ist ein Problem.



Abendblatt:

Volker Lösch wurde mit dem Stück "Marat / Sade", in der Arbeitslose eine Reichenliste verlesen, zum Theatertreffen eingeladen. Ist Agit-Prop-Theater wieder in Mode?

Pollesch:

Kann sein. Kann aber auch sein, dass sich ein paar Milliardäre nur ärgerten, dass sie nicht auf der Liste waren. Heute hat mir übrigens eine ehemalige Praktikantin von Volker Lösch erzählt, dass er sie aus eigener Tasche bezahlt hat, was ich ziemlich toll finde. Das ist politisch!



Abendblatt:

Bezahlen Sie Ihre Praktikanten?

Pollesch:

Also, in ein paar Produktionen ja, aber nicht regelmäßig.



Abendblatt:

Aha. Das ja nicht gerade konsequent.

Pollesch:

Genau. Manchmal denke ich nicht dran. Es ist auch blöd, dass das von meiner Willkür abhängt. Wie bei einem Ehemann, der die Kohle nach Hause bringt.



Abendblatt:

Beobachten Sie eine Sehnsucht nach politischem Theater?

Pollesch:

Ich wäre jedenfalls dafür: für mehr zeitgenössische Stücke, für mehr politische Stücke. Nicht dieses ewige Wiederkäuen der Klassiker. Die sind eher museumstauglich, aber nichts fürs Theater. Einen Störenfried auf der Bühne finde ich besser als die soundsovielte Inszenierung eines Klassikers von einem, der das handwerklich solide macht.



Abendblatt:

Kann man nicht auch aus Lessings "Nathan" Rückschlüsse auf die Gegenwart ziehen?

Pollesch:

Ich glaube, da geht es nur darum, die Stücke weiter spielen zu können. Es ist absurd, wenn ein Dramaturg sagt: Die besten Stücke zum Irak-Krieg haben die alten Griechen geschrieben. Das kann nicht sein! Wir sind historische Subjekte. Die Ansicht, dass wir eine konstante menschliche Wahrheit mit uns herumtragen, die sowohl für die Klassiker als auch für uns heute gilt, ist ahistorisch. Das bildungsbürgerliche Publikum holt sich da seine klassischen Rollenbilder ab. Das Alibi für sein spießiges Leben.



Abendblatt:

Ausgerechnet spießig ist doch eine aktuelle Inszenierung wie die Thalia-"Räuber" nicht. Es gibt durchaus ablehnende Reaktionen eines bildungsbürgerlichen Publikums.

Pollesch:

Ach, das regt sich ganz gern auf. Das bleibt auch unpolitisch, wenn Regisseure etwas Blut verspritzen und ein paar Rocksongs orgeln.



Abendblatt:

Wie sieht es mit Ihnen und der Gegenwartsdramatik aus? Gehen Sie oft als Zuschauer ins Theater?

Pollesch:

Ganz selten. Mir hat zuletzt einiges von Regisseuren gefallen, die gerade angefangen haben. Und ich habe meine Heroen - Schlingensief, Castorf - von denen sehe ich alles. Bei vielen Dramatikern habe ich den Verdacht, dass Literatur produziert wird.



Abendblatt:

Und das ist schlecht?

Pollesch:

Ich produziere keine Literatur. Literatur hat etwas Autoritäres. Jeder wird zum Sklaven des Textes, der auf die Bühne gebracht wird. Ich stelle meine Texte zur Disposition.



Abendblatt:

Aber auch Sie veröffentlichen Ihre Texte. Keine Literatur?

Pollesch:

Diese Texte kommen ja erst heraus, nachdem wir das Stück im Probenprozess erarbeitet haben.



Abendblatt:

Das könnte aber doch jetzt einer inszenieren wollen.

Pollesch:

Würde ich nicht erlauben.



Abendblatt:

Autoritär!

Pollesch:

Eben nicht. Weil ich nicht will, dass sich Schauspieler auf die Autorität meines Textes beziehen, sich etwas für ihn überlegen, ihn "knacken" müssen. Meine Schauspieler sagen nur das, was sie sagen wollen. Das ist nicht wiederholbar für einen anderen Schauspieler.



Abendblatt:

Ihre Mutter wollte, dass Sie eine Banklehre machen, stattdessen wurde aus Ihnen der "Antikapitalist des Theaters". Wie gefiel ihr das?

Pollesch:

Meinen Eltern ist dieser Beruf total fremd. Eine ganze Weile haben sie gesagt: O Gott, wie konnten wir das zulassen? Da hab ich eine Zeit lang sehr wenig Geld verdient, sie hatten Angst, dass ich am Hungertuch nage.



Abendblatt:

Wie haben Sie ihnen Ihren Erfolg vermittelt? Kritiken geschickt?

Pollesch:

Nein, ich habe mal den Theaterpreis "Nestroy" bekommen. Und die Verleihung wurde im Fernsehen übertragen. Auf 3sat. Eltern denken bei so was ja sofort an die Oscar-Verleihung und wissen, dass man sich bei dieser Gelegenheit bei seinen Eltern bedankt. Meine Mutter saß also vorm Fernseher und hat erwartet, dass ich sie da jetzt grüße. Aber ich konnte das nicht. Echte Gefühle im Fernsehen, das ging doch nicht! Auf 3sat meiner Mutter danken! Das haben meine Eltern nie verstanden.