Hamburg. Das Stück des Berliner Theatermachers René Pollesch stellt die Frage nach der Systemrelevanz von Künstlern und anderen Wiederkäuern.

Der heilige Berg dampft. Toll sieht er aus, wie er so erhaben da steht, fast die gesamte Bühne des Schauspielhauses einnimmt und ein wenig an einen hübschen Zahn erinnert. Über und über mit Kunst versehen, mit farbigen Fabelwesen, die wie Höhlenmalereien anmuten. Es stellt sich heraus, diese Kunstinstallation (Bühne: Barbara Steiner) ist ein Hotel für nicht alltägliche Besucher.

Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch hat in einem frühen Lockdown vermutlich die ambitionierte und empfehlenswerte Science-Fiction-Serie „Westworld“ nach dem Buch von Michael Crichton geschaut – in den 1970er-Jahren gab es dazu schon mal eine Verfilmung mit Yul Brynner. Vermögende, von ihrem eigenen Leben gelangweilte Gäste schlüpfen darin in einem Vergnügungspark in verschiedene Rollen.

Westernshow-Szenarium im Schauspielhaus

So landen sie zum Beispiel in einer Wild-West-Umgebung im 19. Jahrhundert und können ihre Schießwut an Revolverhelden auslassen, die dabei immer den Kürzeren ziehen, und sich anschießend im Saloon vergnügen. Die Revolverhelden allerdings sind Androiden, also Roboter. Doch es kommt zu Systemfehlern. Auf einmal funktionieren die Schießeisen nicht mehr so, wie sie sollen. Und die Roboter auch nicht.

Dieses Westernshow-Szenarium wird bei René Pollesch in seinem neuen Stück „J’accuse!“, das er wie immer selbst zur Uraufführung bringt, zum Durchlauferhitzer für seine muntere und unterhaltsame Diskursmaschine. Die musikalische Eva Maria Nikolaus glänzt als Hotelbetreiberin, Angelika Richter, Marie Rosa Tietjen und Sophie Rois fallen als Gäste in Latzhosen mit Cowboyhüten (Kostüme: Tabea Braun) ein. Und Sachiko Hara muss sich als Revolverheld dauernd erschießen lassen und effektvoll zu Boden gehen.

Nachdenklich, bissig und erkenntnisreich

Was wie ein heiteres Spiel wirkt, dreht sich mit wachsender Dringlichkeit um die Frage, ob einer Roboter sei oder echt. Ob der Erschossene fest angestellt oder Gast gewesen sei. Um Liebesbeziehungen, um das Menschliche des Begehrens, das sich niemals mit Alternativen zufriedengebe. Und um Macht und Geld, die eher zum Handeln motivierten als die Liebe.

René Pollesch, inzwischen Intendant der Berliner Volksbühne, enttäuscht die Anhänger seiner pointiert ironischen Diskussionsschleifen in dieser Inszenierung nicht. Der Abend ist nachdenklich, bissig und dabei erkenntnisreich und vergnüglich auch für all jene, die die zahlreichen philosophischen und pop-kulturellen Anspielungen nicht auf Anhieb durchleuchten.

Kunst soll das System hinterfragen

Wer beschuldigt hier wen?  René Pollesch „J’accuse“ flocht einige Diskussionsschleifen.
Wer beschuldigt hier wen? René Pollesch „J’accuse“ flocht einige Diskussionsschleifen. © Thomas Aurin

Wie nebenbei kommt Pollesch mit seinen furiosen Darstellerinnen zum Kern dieses Stücks. Denn wenn Sophie Rois vehement mit aparter Hysterie und erhobenem Zeigefinger brüllt: „Ich klage an!“, hat das weniger mit jenem berühmten Brief zu tun, in dem der französische Schriftsteller Emile Zola sich 1898 zur Dreyfus-Affäre und zum Machtmissbrauch äußerte.

Auch nicht mit dem derzeit allgegenwärtigen gegenseitigen Niederbrüllen in gesellschaftlichen Debatten. Nein, es geht um die Frage, ob Kunst eigentlich systemrelevant sei. Beziehungsweise, ob das überhaupt in ihrer Natur liege. Kunst, in Polleschs Logik, ist dazu da, das System zu hinterfragen, nicht, es zu bestärken. Ein Lob also der Unangepasstheit, der Widerständigkeit der Kunst und damit auch des Theaters.

„Ein eierloser Affe könnte Deinen Job erledigen“

Diese Überlegung führt wie nebenbei zum Thema der Daseinsberechtigung und prekärer Existenz. Übertragbar auch auf Zeiten einer Pandemie. „Ich klage an! Den freien Markt und dass ich mich da überhaupt nicht behaupten könnte“, ereifert sich Sophie Rois. Tatsächlich ist die Frage, ob die Darstellung einer Nora wertvoller ist als die Cappuccinos, die sie jemals in die reingeschüttet hat, aus Sicht des Systems und seines Werteverständnisses möglicherweise zweifelhaft. „Ein eierloser Affe könnte Deinen Job erledigen“, heißt es später bitter-ironisch.

Hinzu kommen Exkurse. Über Schauspieler in SS-Uniformen, die Lächerlichkeit des Ganzen, ein Lob des Stofftaschentuchs, das Frühstück, Gott – schlafende Theaterzuschauer. Auch die Souffleuse ist bei diesen Textbergen immer wieder mal gefragt.

Darstellerinnen-Quintett reißt Publikum mit

Als Besucher lässt man sich mitreißen von den Ideenströmen, den Redeschwällen, der Uferlosigkeit, der Lebendigkeit und dem Witz der Figuren, die doch eher Gedankenträger als wirklich Figuren sind. Und von dem wirklich furiosen Darstellerinnen-Quintett. Sicher, zu Beginn berauscht sich die Inszenierung zu sehr an Western-Action-Ballerei.

Dafür stockt sie im Mittelteil, als die Leichen der Spielfiguren zu Jazz-Klängen erst von Arbeitern weggekarrt und anschließend in blumige Gewänder gekleidet werden. Die Szene offenbart aber auch die Abgründigkeit des Unterfangens und entlarvt die Künstlichkeit des Mediums. Im Zentrum hält die bei aller Diskurs-Hysterie stets klare Marie Rosa Tietjen die Fäden zusammen.

Theater: Eine echte Kuh im Schauspielhaus

Plötzlich geht es um das Authentische. Und dann hat sie ihren großen Auftritt: Sunshine. Die stattliche Kuh – ja, ein echtes, lebendiges Rindvieh auf der Bühne – lässt sich vom Premierenpublikum, am Halfter von Philipp Ellerbrock geführt, beim Wiederkäuen nicht stören. Und sieht sich doch im Zentrum des Diskurses. Bleibt dabei natürlich authentisch bis ins Mark. Nie würde es ihr einfallen, sich einfühlend in eine Figur zu verwandeln, mit dem sich das Publikum dann wiederum identifizieren könnte. Aus dem Hamsterrad der kapitalistischen Verhältnisse entkommt aber auch die Kuh Sunshine nicht.

„Noch so’ne durchsubventionierte Verliererin“, wird die neue Mitspielerin von Sophie Rois begrüßt. Auch sich selbst spart der Autor und Berliner Neu-Intendant aus dem Gesprächsfluss nicht aus: „Apropos systemrelevant, glaubt denn irgendjemand, dass Intendanten auf irgendeiner Position im normalen Management da draußen irgendwas zu Stande bringen würden?“ Mit „J’accuse!“ hat René Pollesch einen klugen Kommentar zur Lage der Kunst abgeliefert. Und einen äußerst amüsanten Theaterabend dazu.

„J’accuse!“ weitere Vorstellungen 3.10., 20.00, 23.10., 19.30, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de