Hamburg. Volksbühnen-Chef René Pollesch inszeniert sein Stück „J’accuse“ am Deutschen Schauspielhaus. Diesen Sonnabend ist Premiere.
An diesem Sonnabend erlebt endlich die seit acht Monaten fertige Produktion „J’accuse“ von René Pollesch mit unter anderem Sophie Rois ihre Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus. Ein Gespräch über das Stück und den Zustand des Theaters mit dem 1962 geborenen Dramatiker und Regisseur, der seit Jahren in Hamburg mit selbst inszenierten Stücken erfolgreich ist und Mitte September die Intendanz der Berliner Volksbühne übernommen hat.
Der Titel Ihrer neuen Produktion „J’accuse“ („Ich klage an“) erinnert natürlich an Emile Zolas Text anlässlich der Dreyfus-Affäre. Zufall oder Absicht? Was klagen Sie an?
René Pollesch Der Titel war ein Vorschlag von Sophie Rois. Ich konnte mich da sofort einklinken. Von Zola steckt da aber nicht mehr viel drin. J’accuse, also die Anklage, ist ja auch etwas, das das Theater für sich beansprucht. Und unsere Frage war, ist das Theater überhaupt in der Position, etwas anzuklagen? Das hat uns Ende Januar beschäftigt, als man der Kultur die Systemrelevanz absprach und die Theater sich unnötigerweise darüber beschwerten. Unser Abend ist jedenfalls keiner, der eine Systemrelevanz von Theater verteidigen würde.
In der Eröffnungspremiere Ihrer Intendanz an der Berliner Volksbühne thematisierten Sie die Erwartungshaltungen gegenüber dem Theater. Dazu gehöre, dass die Tragödie zurückkehre, hieß es darin. „Etwas, das so tot ist, wie irgendwas es nur sein kann“. Warum ist die Tragödie tot?
Das ist eine These des kürzlich gestorbenen Philosophen Jean-Luc Nancy. Der hat mal eine Rede gehalten über die Tragödie, in der er feststellte, dass es wahrscheinlich einen historischen Moment gab, den man Tragödie nannte, und zwar kurz nachdem man aufgehört hatte, in Ritualen und Kulten Menschen zu opfern. Es gab diesen einen Moment, in dem es so was wie „die Tragödie“ gab. Der ist aber nicht tradierbar.
Auch nicht die Texte. In dieser Tragödie damals passierte etwas vorne auf der Bühne, was mit niemandem im Publikum zu tun hatte, das aber trotzdem alle bewegte. Das Theater danach hat sich in einen Universalitätsanspruch hineinverirrt. Alle sollen sich jetzt nur noch wiedererkennen. Heiner Müller hat das mal das „Onkel-Otto-Theater“ genannt. Also der Zuschauer denkt, „Das ist ja wie bei uns zu Hause“. Die Tragödie war aber das Gegenteil. Es war ein kleiner Moment, der vorüberging. Trotzdem versuchte man 2000 Jahre lang, unter falschen Voraussetzungen die Tragödie zu retten.
Nervt es Sie, dass die Kritiker nörgeln, der Volksbühnenabend hätte keinerlei Aufbruchstimmung oder Neues verbreitet?
Als die Volksbühne 1992 von Frank Castorf eröffnet wurde, gab es einen totalen Premierenreigen. In jeder Ecke des Theaters wurde gespielt. Zu einer Zeit, als die anderen Theater in Deutschland im Dornröschenschlaf waren. Totaler Aufbruch. Damals hat das niemand so gemacht. 30 Jahre später sieht fast jede Eröffnung so aus. Es ist keinem mehr was anderes eingefallen. Das heißt also, die Kritiker, von denen Sie sprachen, wollen den Aufbruch, den sie auch als solchen erkennen können. Sie wollten einen Neuanfang, den sie kennen. Wir haben jetzt etwas gemacht, das sie nicht kennen. Wir arbeiten einfach weiter so, wie wir das nun mal tun. Wir müssen uns auch ehrlich gesagt in Berlin nicht mehr mit einem großen Knall vorstellen.
Beim Schreiben wollen Sie sich nach eigener Aussage nicht an persönlichen Dingen abarbeiten. Wo finden Sie Ihre Themen?
Tatsächlich sind aber unsere Arbeiten persönlich, aber keiner belästigt den anderen bei den Proben mit seiner eigenen Biografie. Die Theorien, mit denen wir uns beschäftigen, stellen ja Werkzeuge und Sehhilfen zur Verfügung, mit denen wir unser Leben betrachten können. Aber eben nicht nur das einer einzelnen Person. Im Normalfall ist es das Leben und Lieben des Autors oder Regisseurs. Die Theorien werden bei uns ja nicht dramatisiert. Wir versuchen eher, diese Theorien zu verstehen und auf uns anzuwenden. Das macht es sehr persönlich. Auch sehr speziell. Aber bei uns ist es nicht so, dass ein Regisseur die eigene Liebesgeschichte anhand einer „Kirschgarten“-Szene bewältigt. Das machen wir nicht.
Ihre Abende haben ja einen gewissen Wiedererkennungseffekt in der Form und im Ton. Gibt es die Marke Pollesch nicht schon längst und braucht es das im Theater?
In der Bildenden Kunst bedeutet eine Marke viel Geld. Im Theater ist das alles ja eher mau. Ich kenne keinen Millionär im Theater – außer vielleicht Yasmina Reza. Molière kennen wir, weil er nicht im Hinterhof vor zwei Leuten gespielt hat. Theater muss also trotzdem Leute erreichen. Wir tun das, ohne auf Universalität zu schielen. Vor 20 Jahren waren die zeitgenössischen Dramatiker noch auf den Studiobühnen. Heute gibt es neue Texte auf der großen Bühne, die viel mehr Leute erreichen. Davor waren die Marken im Theater Goethe und Shakespeare. Diese Monokultur gibt es aber auch weiterhin. Man hängt sich an die Autorität dieser Texte und heftet sich als Regisseur etwas von ihrem Ruhm an. Das ist nicht so unser Ding.
Ihr Twitter-Account ist ja ein Reservoir an Kommentaren zur Gegenwart. Es gäbe nichts Peinlicheres, als wenn die Alten denken, sie wären Counterculture, also Gegenkultur, schrieben Sie da kürzlich. Wozu zählen Sie sich?
Johnny Rotten (Ex-Punkband Sex Pistols) hatte eine Bemerkung gemacht, dass er nicht gedacht hätte, dass die Rechten mal cool werden. Und da vertut er sich. Die Rechten sind nicht cool. Er ist halt ein alter Mann geworden. Ich finde, Protestkultur gehört der Jugend. Man denke nur an die Hygiene- oder Querdenken-Demos in Berlin. Was für ein müder, miesepetriger, schlaffer Haufen. Wie schlecht die gekleidet sind. Und wie mittelalt bis alt die sind. Warum denken die, sie hätten irgendeinen Anspruch auf Protest? Der Aufbruch gehört der Jugend. Den „Fridays for Future“.
Sozialistische Schauspielerinnen seien schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen, sagen Sie. Wie überzeugen Sie Sie?
Wir haben eine Praxis, in der keiner die anderen von einer Vision überzeugen muss und ihnen seinen Willen unterjubelt.
Die Theaterwelt ist gerade sehr aufgewühlt. Es gibt #MeToo-Skandale (auch an der Volksbühne bei Ihrem Vorgänger Klaus Dörr), die Diskussion um Repräsentation und Identität wird hart geführt. Sie folgen ja schon lange keiner klassischen Figurenpsychologie. Ist die Diskussion überfällig oder überflüssig?
Die ist überfällig. Die Diskussion hat aber vielleicht, um sie populär zu machen, ein wenig von dem harten Kern der Theorie, die dahintersteckt, eingebüßt. Die Theorie wurde also ein wenig verwässert. Jeder denkt im Moment, er könnte darüber reden. Die harte feministische Theorie dahinter darf aber im Theater nicht verloren gehen. Man müsste in den Theatern auch endlich mal an den Themen dranbleiben und sie nicht jede Spielzeit wechseln.
Sie gelten als Vielarbeiter. Nun haben Sie mit der Intendanz an der Berliner Volksbühne genug zu tun. Werden Sie weiter in Hamburg arbeiten?
Mein Vertrag als Intendant an der Volksbühne, wo ich regelmäßig inszenieren will, schließt eine Arbeit pro Saison an einem anderen Haus ein. Ich war ja schon 17 Jahre an der Volksbühne, das ist jetzt aber noch mal was anderes, und ich finde es noch mal schöner. Ich arbeite super gerne in Hamburg, und wenn es eine Gelegenheit gibt, werde ich das natürlich wieder tun.
„J’accuse“ Uraufführung 25.9., 20.00, Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de