Hamburg. „Bittersüße Zitronen“: Der scheidende Künstlerische Leiter Murat Yeginer inszeniert zum Abschied anspielungsreich, saftig und grotesk.

Ein handfester Theaterstreit am Ohnsorg-Theater. War da nicht was...? Was will das Publikum sehen, welche Sprache will es hören, wo liegt die Zukunft einer Traditionsbühne, und dann ein Satz wie dieser: „Wenn sich das Theater erholen will, muss es auf junge Autor:innen setzen.“ Oja, auch noch gegendert! Der Satz ist eine Dialogzeile, ein absichtsloser Zufall dürfte er kaum sein. Mit der Premiere „Bittersüße Zitronen“, frei nach Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ (einer Tragikomödie, in der der Zwist über zeitgemäßes Schauspiel ja bereits angelegt ist) und mit Motiven aus dem Leben der „Zitronenjette“, verabschiedet sich der noch amtierende Künstlerische Leiter vom Ohnsorg-Theater.

Seit 2018 war Murat Yeginer Oberspielleiter am Heidi-Kabel-Platz, seit Sommer 2022 Künstlerischer Leiter des Hauses, dem Intendanten Michael Lang eng verbunden. Nach der überraschenden Wahl der Schauspielerin Sandra Keck zur neuen Vereinsvorsitzenden und Aufsichtsratsvorsitzenden und einer darauf folgenden Debatte um die Ausrichtung der Bühne war er im Mai 2023 zurückgetreten. Nun hat er seine letzte Premiere in dieser Funktion inszeniert, einen anspielungsreichen, saftigen, grotesken, herrlich unterhaltsamen Abend voller (Selbst-)Ironie, Gesellschaftskritik und Theaterleidenschaft. Den im Übrigen auch jede und jeder verstehen und goutieren kann, der von dem internen Drama so gar nichts weiß und wissen möchte.

Wie soll es denn sein, das Theater der Zukunft? Konstantin Graudus in der Rolle des Theaterdirektors und Flavio Kiener als sein Schüler streiten darüber in „Bittersüße Zitronen“ am Ohnsorg-Theater.
Wie soll es denn sein, das Theater der Zukunft? Konstantin Graudus in der Rolle des Theaterdirektors und Flavio Kiener als sein Schüler streiten darüber in „Bittersüße Zitronen“ am Ohnsorg-Theater. © Oliver Fantitsch | Oliver Fantitsch

Schon die Bühne von Beate Zoff ist ein absoluter Hingucker: Ein verstaubter Theaterfundus, irgendwo zwischen Puppenstube, Geisterbahn und Varietémuseum. Eine Live-Band aus traurigen Clowns (Christian von Richthofen, von dem auch die neuen Kompositionen stammen, Nenad Nikolic, Henry Lambrecht, Kian Djalili) ist in den Regalböden drapiert und schrammelt von dort ihre Moritaten. Die Figuren, die in diesem Kuriositätenkabinett hausen, sind so skurril wie lebensecht und gerade in ihrer Überzogenheit präzise. Der Ort erlaubt es, er wirkt wie eine Zwischenwelt: Grell geschminkte Vaudeville-Charaktere (Caroline Kiesewetter als singende Morphinistin, Sorina Kiefer als Aufziehtänzerin) treffen hier auf den sozialkritischen Naturalismus Gerhart Hauptmanns, der sich insbesondere in den Figuren Jette und Paul John zeigt.

Ohnsorg-Theater: Das große Ensemble wechselt souverän zwischen Hoch- und Plattdeutsch

Jette John (herausragend in ihrer existenziellen Verzweiflung: Rabea Lübbe) hat schon einmal einen Säugling verloren, nun erschleicht sie sich das Kind einer Dirne (Tanja Bahmani) und gibt es auch vor ihrem Mann als ihr eigenes aus. Der Plan misslingt tragisch. Jettes Bruder, der Teilzeitkriminelle Bruno (den Cem Lukas Yeginer, Sohn des Regisseurs, als rührend schlichten Charakter spielt), ist ebenso ein Außenseiter wie die lütte Zitronenjette, der er bei seiner Schwester begegnet: „Mehr bün ik nich mehr. En kaputtet Requisit in‘t Leven vun anner Lüüd!“

Die zierliche Marina Lubrich erinnert als Zitronenjette an ein Püppchen in einer mechanischen Spieldose, ein altes Kind, das in einer ihr feindlich gesinnten, sie abschätzig behandelnden Welt trotzdem als strahlender Sonnenschein daherkommt. Weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt. Lubrich gelingt der Balanceakt fantastisch. Für die Zitronenjette gilt mehr noch als für die anderen hier dargestellten Frauenbiografien, was Caroline Kiesewetter schon früh klarstellt – auf Hochdeutsch, damit es auch wirklich jeder versteht: „Mein Kind, die Welt ist zu Mädchen gar nicht nett.“ Ansonsten wechselt das große Ensemble mit bemerkenswerter Souveränität zwischen Hoch- und Plattdeutsch, das insbesondere in der proletarischen Welt von Jette John und ihrem Mann ganz selbstverständlich gesprochen wird.

„Bittersüße Zitronen“: Der Theaterdirektor ist ein alter, weißer Mann, wie er im Buche steht

Der in seiner raumgreifend behaupteten Weltgewandtheit lächerliche Theaterdirektor Hassenreuther ist ein alter, weißer Mann, wie er im Buche steht. Sieht so aus, benimmt sich so, nennt sich sogar so. Und suhlt sich in der Rolle des Möchtegern-Underdogs, dem die böse Gegenwart die lang gewohnten Privilegien klaut: „Das darf man heute nicht mehr sagen“, gehört zu seinen Lieblingsmaulereien, er ätzt über „Work-Life-Balance“, Vier-Tage-Woche und junge Menschen, die sich dauernd irgendwo festkleben. Konstantin Graudus spielt diesen Harro Hassenreuther mit Wucht. Ein jovialer, selbst bezogener Kerl mit roten Alkoholikerwangen, dessen Dialogzeilen bisweilen ein wenig zu pointenfixiert daherkommen.

Zwischen Sozialdrama und Vaudeville-Groteske: „Bittersüße Zitronen“ mit Robert Eder, Caroline Kiesewetter, Marina Lubrich als Zitronenjette und Tanja Bahmani (von links).
Zwischen Sozialdrama und Vaudeville-Groteske: „Bittersüße Zitronen“ mit Robert Eder, Caroline Kiesewetter, Marina Lubrich als Zitronenjette und Tanja Bahmani (von links). © Oliver Fantitsch | Oliver Fantitsch

Beate Kiupel ist seine Gattin mit einschüchternd hochgetuffter Lockenpracht, sein Gegenspieler der nur vermeintlich brave Liebhaber seiner Tochter (stimmstark: Nele Larsen), der zudem sein Schauspielschüler ist. Flavio Kiener zeigt diesen Erich Spitta als wortgewandten Vertreter der Moderne, des Fortschritts, auch und insbesondere, was Theaterformen betrifft. Spitta glaubt an die Kraft der Kunst, er will die Wahrheit in die Welt tragen – als Schauspieler, der die eigene Profession stets plietsch zu reflektieren weiß: „Das wird ja immer mehr Volkstheater“, stellt er süffisant fest. Während das Genre sich in Wahrheit gerade selbst revolutioniert. Jedenfalls an diesem Haus.

Mehr zum Thema

Yeginer hat die verschiedenen Ebenen, auf denen dieser Abend funktioniert, ausgesprochen klug miteinander verwoben: das Unterschichtsdrama der gebeutelten Kleinbürger, das in seiner ganzen Ausweglosigkeit ernsthaft zu Herzen geht, die historische und gerade im Ohnsorg so gut aufgehobene Figur der Hamburger Zitronenjette, die sich sinnstiftend in das Hauptmann-Personal einfügt, die Frage über die Zukunft des Theaters an sich (und des niederdeutschen Theaters im Speziellen), die kleinen Spitzen in Richtung der Traditionalisten (inklusive jener, die am Ohnsorg-Streit beteiligt waren).

„Wer will so was schon sehen?“ heißt es in „Bittersüße Zitronen“ an einer Stelle, und wo im Stück als Antwort resigniert „Niemand“ geseufzt wird, muss man für diese Inszenierung ganz klar das Gegenteil erklären: Doch. Genau so was will man sehen. Heftiger, minutenlanger Premierenapplaus.

„Bittersüße Zitronen“, am Ohnsorg-Theater bis zum 3.4., Karten unterwww.ohnsorg.de