Hamburg. „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Das Kunstspiel zum Mitmachen – montags im Abendblatt. Diese Woche: Kehinde Wiley, „The Prelude“.
Zwei hoch aufragende Gemälde ziehen derzeit im Makart-Saal der Hamburger Kunsthalle alle Blicke auf sich: Inmitten dicht gehängter Salonmalerei des 19. Jahrhunderts flankieren ein etwas anderer „Wanderer über dem Nebelmeer“ und etwas andere „Kreidefelsen auf Rügen“ das riesige Historienbild „Der Einzug Kaiser Karl V. in Antwerpen“ (1878) von Hans Makart. Die beiden Bilder sind nicht nur der Auftakt zur großen Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“, die dann weiter in der Galerie der Gegenwart verläuft. Sie sind ebenso gewollter Stilbruch wie Störfaktor.
In dieser Folge geht es um das rechte Ölgemälde aus dem Jahr 2021: „The Prelude (Ibrahima Ndiaye und El Hadji Malick Gueye)“ von Kehinde Wiley ist eine Leihgabe der Rennie Collection in Vancouver. Ausgewählt hat es Ruth Stamm; die Kuratorin der Galerie der Gegenwart stellte die zeitgenössischen Arbeiten für die Ausstellung zusammen, die in einen Dialog mit den Friedrich-Werken treten. Der kalifornische Künstler Kehinde Wiley (46) bezieht sich in dem 387,2 Zentimeter hohen und 305 Zentimeter breiten Ölgemälde direkt auf den deutschen Romantik-Maler und dessen berühmte „Kreidefelsen“.
Kunsthalle Hamburg: Die etwas anderen „Kreidefelsen auf Rügen“ – mit realen Personen
Bildkomposition und Farbgebung wurden weitestgehend adaptiert. Doch anstelle von drei rückwärtsgewandten Figuren sind zwei hochgewachsene, aufrecht stehende Männer in sportlicher Kleidung von der Seite zu sehen, einer von ihnen blickt direkt zum Betrachter, der andere schaut sein Gegenüber an. Sie scheinen in eine Art Klatschspiel vertieft. Während man beim Bild von Friedrich rätselt, wer die dargestellten Personen sind, sind sie bei Wiley durch den Titel eindeutig benannt: Die beiden jungen Senegalesen Ibrahima Ndiaye und El Hadji Malick Gueye nahmen an einem Street Casting des Künstlers teil.
„Durch ihre prominente Positionierung, den Blickkontakt sowie die namentliche Erwähnung im Titel verschafft Wiley den Dargestellten eine Sichtbarkeit, die schwarzen Personen in der westlichen Kunst lange verwehrt blieb. So verleiht er seinem Anliegen Ausdruck, den westlichen, weißen Kanon der Kunst zu modifizieren, dessen Leerstellen zu füllen und diesen dadurch letztlich als überholt zu charakterisieren“, schreibt Petra Bassen im Ausstellungskatalog, herausgegeben von Markus Bertsch und Johannes Grave.
Außerdem weist der Künstler mit seinem umgedeuteten Werk auf die traditionelle Verbindung von „Reinheit“, „Göttlichkeit“ und „Weißsein“ in erhabenen Landschaftsdarstellungen der damaligen Zeit hin. „The Prelude“ stellt den Kontrast zwischen den weißen Kreidefelsen und der schwarzen Hautfarbe der Männer heraus, was dem Bild eine starke Aufmerksamkeit verschafft und unsere Sehgewohnheiten herausfordert. So ist diese leicht verkitschte Version der „Kreidefelsen“ sogar noch mehr als ein Stilbruch oder ein Störfaktor; sie ist eine bewusste Provokation, denn Wiley bedient sich eines berühmten Motivs der Kunstgeschichte und eignet es sich an.