Harburg. Unerwartet alte Relikte: Grabung an der Harburger Schloßstraße fördert neue Erkenntnisse zutage. Tausende Scherben bilden riesiges Puzzle.
„Wir waren ein sehr gutes Team. So intensiv arbeiten kann man nur mit total engagierten Leuten.“ Das sagt Grabungsleiter Martin Eckert rückblickend zur archäologischen Grabung „Weißer Schwan“ an der Harburger Schloßstraße. Von Anfang Juli 2023 bis Ende Mai 2024 grub sich ein (meist) zehnköpfiges Team bis zu 3,40 Meter tief in die Stadtgeschichte. Es stieß auf Siedlungsspuren, die rund 100 Jahre älter sind als zu erwarten war. Jetzt ist die Auswertung beendet.
„Wir hatten damit gerechnet, dass die früheste nachweisbare Bauphase Häuser betreffen wird, die dem Stadtbrand von 1396 zum Opfer gefallen sind“, sagt Eckert. Doch dann stieß er bei der Auswertung der Bodenprofile, die die Wände der gut drei Meter tiefen Grube bilden, auf eine Unregelmäßigkeit in einer Wurt (Erdhügel aus Torf und Klei), auf der die 1396 zerstörten Häuser standen: ein unscheinbarer Fleck aus Ziegelgrus (grobkörnige Ziegelreste) und Asche, offenbar Relikte einer Feuerstelle.
Grabung Harburg: Ältestes Relikt stammt aus dem Jahr 1170
Eckert ließ Asche nach der C14-Methode datieren. Sie lieferte eine recht große Altersspanne von 1227 bis 1278. Andernorts fand sich auf gleicher Höhe ein Fundamentbalken (Schwellbalken) eines Fachwerkhauses. Er wurde mit der Baumringanalyse untersucht. Das Ergebnis lautet: Der Baum, der den Rohstoff für den Balken lieferte, wurde anno 1203 gefällt. Das Holz eines weiteren Schwellbalkens wurde sogar auf 1170 datiert.
„Wir mussten zu unseren erkundeten Bauphasen nun noch die Bauphase null hinzufügen“, sagt Eckert schmunzelnd. Bislang sei nicht bekannt gewesen, dass im Bereich der Grabung an der heutigen Ecke Harburger Schloßstraße/Kanalplatz schon im 12./13. Jahrhundert Menschen siedelten. „Die Häuser befanden sich einen Meter über NN und standen sicherlich bei unzähligen Sturmfluten unter Wasser“, sagt der Archäologe. „Deshalb wurde in der folgenden Bauphase massiv aufgeschüttet; es entstanden hohe, breite Wurten.“
Die 1396 abgebrannten Häuser wurden erst um 1420 ersetzt. Es entstanden im Bereich der Grabung zwei offenbar baugleiche Fachwerkhäuser mit einer 3,50 Meter breiten Diele in der Mitte, flankiert von jeweils zwei 2,50 Meter breiten „Seitenschiffen“ für das Vieh. Der Harburger Boden gab auch Ziegelreste im Klosterformat frei – mit ihnen wurden im 15. Jahrhundert die Gefache ausgemauert. Die Dächer waren sehr wahrscheinlich mit Reet oder Stroh gedeckt. Halbrunde Firstziegel verhinderten, dass es hineinregnete.
Um 1600 zeigte ein dreistöckiges Gebäude die Bedeutung seines Bewohners
Aus dieser Bauzeit, die mit dem nächsten großen Brand im Jahr 1536 jäh endete, stammen Relikte, die auf wohlhabende Bewohner der Häuser schließen lassen. Die Archäologen fanden mittelalterlich bemalte Fensterscheiben, mit Messing verzierte Messer, verziertes Speisegeschirr. Aber auch viele Lederreste und erste Gelenkscheren, die auf ein Schuhmacher hindeuten. Metallschlacke im Hinterhof legt nahe, dass hier auch geschmiedet wurde, vermutlich zur Selbstversorgung.
Der nächste Stadtbrand ereignete sich 1564. Um die anschließende Jahrhundertwende gab es offenbar eine weitere Zäsur. Das legen historische Zeichnungen der Harburger Schloßstraße nahe: Auf der älteren Ansicht von 1577 ist eine völlig andere Bebauung zu sehen als auf einer Darstellung aus dem Jahr 1620. Besonders auffällig ist dort ein dreistöckiges Gebäude.
Beim Bau der neuen Festung wurde der Stadtkern teilweise abgerissen
Eine mögliche Erklärung: Die Gegend wurde durch den Bau des ersten Harburger Rathauses (1586) unweit des Grabungsfeldes (landeinwärts) aufgewertet. Eigentümer des dreistöckigen Hauses ist ein gewisser Peter Rosenbruch. Später war von Bürgermeister Rosenbruchs Erben die Rede. Der Bürgermeister hatte sich hier offenbar ein repräsentatives Gebäude errichten lassen.
Der nächste große Umbruch war der Festungsbau 1650. Aus der Burg am Ufer der (heutigen) Süderelbe entstand eine sternförmige Festung, umgeben von breiten Wassergräben. Für die raumgreifenden Bauarbeiten musste die nördliche Bebauung komplett weichen, auch Harburgs Kirche, die Marienkirche. Und die Häuser, die auf der Grabungsstätte standen.
„In der Abbruchschicht haben wir eine große Menge von grünen Ofenkacheln gefunden“, sagt Eckert. „Auch sie sind ein Zeichen von Wohlstand.“ Erst Jahrzehnte später, um 1695, wurde an der Schloßstraße wieder gebaut. Eckert: „Es entstand der Vorgängerbau des Gasthofs ‚Weißer Schwan‘. Es ist nachgewiesen, dass dort von 1700 bis 1814 bereits ein Gasthof war. Das stützen auch unsere reichlichen Funde von Speise- und Trinkgeschirr.“
König Ernst August von Hannover logierte an der Harburger Schloßstraße
Anders als normale Wohnhäuser hatte das Gebäude bereits einen Anschluss an die noch rudimentäre Wasserversorgung. Das Frischwasser floss durch eine Leitung in einen Hausbrunnen. Auch dieses Gebäude musste weichen, in der Franzosenzeit: In den Kämpfen um die Belagerung Hamburgs und Harburgs wollten die Franzosen anno 1814 ein freies Schussfeld haben.
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Wenige Jahre später entstand das bislang letzte Gebäude an dieser Stelle, der Gasthof „Weißer Schwan“. Das imposante Haus muss 1819 schon gestanden haben, denn in diesem Jahr war dort der Leichnam des Herzogs von Braunschweig aufgebahrt. 1846 gab es sogar königlichen Besuch: König Ernst August von Hannover logierte im „Weißen Schwan“. Er zählte zu den renommiertesten Hotels in Harburg. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude stark beschädigt, dennoch zunächst weiter genutzt und 1965 abgerissen.
Tausende Scherben helfen bei Zuordnung zu Bauphasen
Die Grabung an seinem ehemaligen Standort lieferte nun neue Einblicke in die Stadt- und Baugeschichte. Neben fünf Grabungsarbeitern und zwei studentischen Hilfskräften wertete ein Trio die Funde akribisch aus: Martin Eckert analysierte die Bodenprofile. Grabungstechniker Thomas Hepfer erarbeitete aus den architektonischen Überbleibseln die Befunde zu den unterschiedlichen Gebäuden im Zeitablauf.
Eine Schlüsselrolle spielte die Dokumentarin Molly Tate, die sich zur Expertin von Keramikscherben hocharbeitete. „Wir haben unglaublich viel Keramik gefunden, rund einen Kubikmeter“, sagt Eckert. Tate sortierte die Fundstücke, fasste gleichartige Scherben zu insgesamt 1782 Funden zusammen – die Zahl der Scherben ist ein Vielfaches. „Thomas und ich haben die Befundschichten und die architektonischen Reste datiert, zu Bauphasen zusammengefasst. Und Molly konnte uns anhand der Datierung der darin enthaltenen Keramik sagen, ob unsere Zuordnung stimmig ist oder nicht.“
Harburger Hafen: Grabungsfläche dient jetzt zwei Baustellen. Nicht zum ersten Mal
Martin Eckert erwartet demnächst einen neuen Auftrag. Thomas Hepfer ist mit seiner jungen Familie in Peru. Molly Tate schreibt ihre Doktorarbeit in Lübeck (nicht über Scherben). Die Grabungsstätte ist mit Sand verfüllt und wird nächstes Jahr zur Bereitstellungsfläche für zwei Bauprojekte: den Ausbau des südlichen Kanalplatzes und den Bau eines Verkehrskreisels an der Einmündung der Harburger Schloßstraße in die Straße Kanalplatz.
Geschichte wiederholt sich. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war der Standort schon einmal eine Bereitstellungsfläche, für den Festungsbau. Eckert: „Wir haben aus dieser Zeit viel Wurzelwerk gefunden. Offenbar lag die Fläche über eine längere Zeit brach.“