Harburg. Bald stehen muslimische Schüler wieder vor der Frage, wo sie während der Unterrichtszeit beten können. Welche Lösungen es aktuell gibt.

  • Fünfmal am Tag soll ein gläubiger Muslim am Tag beten – dafür gibt es einen genauen Zeitplan
  • Die Gebete sollen vor Sonnenaufgang, nach dem Höchststand der Sonne, zwischen Mittag und Abend, zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung sowie in der Dunkelheit stattfinden
  • Doch was passiert, wenn muslimische Jugendliche zwischen Mittag und Abend in der Schule beten möchten? Diese Frage wird in Harburg von vielen Schulen unterschiedlich bedacht.

Schule – das ist ein Raum, in dem aufeinandertrifft, was die Gesellschaft formt: Bedürfnisse von Einzelnen einerseits, ganze Kulturen andererseits – und damit auch Religionen. In Harburg gehen auch viele Muslimas und Muslime zur Schule, was an sich nichts Neues ist.

Muslimische Jugendliche in Harburg: Was, wenn das Mittagsgebet in die Schulzeit fällt?

Neu ist, dass Schulen sich mit der Frage nach möglichen Gebetsräumen auseinandersetzen, die möglicherweise auch nicht so neu ist – die aber jetzt erst gestellt wird. Wo und wie dürfen schulpflichtige gläubige Muslimas und Muslime während der Unterrichtszeit beten?

Wer jetzt innerlich den Kopf schüttelt und daran denkt, dass es bisher in Schulen auch keine Gebetsräume für Christinnen und Christen gab, möge sich erinnern, dass Muslime, anders als im Christentum, ihrem Glauben nach fünfmal am Tag beten müssen, und das zu festgelegten Tageszeiten. Auf dem Weg zu einem toleranten Miteinander dürfte die gestellte Frage berechtigt sein. Wobei das Thema mehr als komplex ist.

„Jeder hat das Recht, Religion nach den Traditionen, die man für sich als relevant betrachtet, auszuleben.“

Mara Sommerhoff
Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung

Knifflig ist die Situation an Schulen zunächst einmal aufgrund einer der Rechtslage. Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes räumt jeder Schülerin, jedem Schüler, aber auch jeder Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter Religionsfreiheit ein. Bedeutet: Jeder hat das Recht, eine Religion frei zu wählen oder sich gegen eine Religion zu entscheiden.

Schulen stehen unter staatlicher Aufsicht, auch wenn Religionsfreiheit herrscht

„Und jeder hat auch das Recht, Religion nach den Traditionen, die man für sich als relevant betrachtet, auszuleben“, sagt Mara Sommerhoff, Leiterin des Referats Gesellschaft am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Dazu gehöre auch das Recht, ein Gebet in der Schule außerhalb der Unterrichtszeiten zu verrichten.

Couple praying together
Aufgrund ihrer Neutralität darf in der Schule kein Raum explizit für eine Religion eingerichtet werden. Stattdessen werden normale Klassenräume für Gebete aufgeschlossen. © Getty Images | andreswd

Gleichzeitig ist in Artikel 7 geregelt, dass Schulen unter der Aufsicht des Staates stehen, der die Verantwortung für das Schulwesen trägt und den Rahmen von Schule setzt. Man könne beispielsweise nicht aufgrund einer Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung eine Unterrichtslektüre ablehnen, erklärt Sommerhoff.

Zeugen Jehovas wollte Befreiung ihres Sohnes – und scheiterten vor Gericht

„Es muss also ausgehalten werden, dass beispielsweise auch eine religionskritische Lektüre gelesen wird“, erläutert sie. Man rufe sich eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2013 in Erinnerung: Hier hatten Zeugen Jehovas die Befreiung ihres Sohnes von der Vorführung einer Krabat-Verfilmung beantragt – und waren nach einer positiven Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster dann doch in letzter Instanz gescheitert.

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Darüber hinaus ist vorgeschrieben, dass Schule als Institution hinsichtlich Weltanschauung und Religion neutral ist. Heißt im Klartext: Der Lehrkörper darf nicht eine einzige Perspektive bevorzugen. „In dem Moment, wenn ich speziell für eine einzelne Religion einen Raum einrichte, bevorzuge ich ebendiese“, gibt Sommerhoff zu Bedenken.

Am Friedrich-Ebert-Gymnasium ist eine Muslima als Fachkraft für Religion beschäftigt

Es müsse Pluralität ermöglicht werden. Schon allein aus diesem Grund könne es keine speziell für Gebete einer einzelnen Religion ausgewiesenen und eingerichteten Räume geben. „Die meisten Schulen schließen deswegen für Gebete normale Klassenräume auf“, weiß Mara Sommerhoff. Man habe an Schulen ja auch ohnehin mit Raummangel zu kämpfen.

Unisex-Toiletten gibt es bereits am Friedrich-Ebert-Gymnasium. Aber wie sieht es mit Gebetsräumen aus?
Unisex-Toiletten gibt es bereits am Friedrich-Ebert-Gymnasium. Aber wie sieht es mit Gebetsräumen aus? © Andre Lenthe Fotografie | Andre Lenthe Fotografie

Ähnlich hat es auch das Friedrich-Ebert-Gymnasium (FEG) in Heimfeld geregelt. „Das Thema ist sehr sensibel“, stellt Schulleiter Christoph Posselt dem Gespräch mit dem Abendblatt direkt voran. Das FEG liegt, was den Sozialindex angeht, im Mittelfeld, während andere Harburger Gymnasien etwas darüber liegen. Besonders ist wohl, dass die Heimfelder Schule eine Fachkraft für Religion beschäftigt, die selbst Muslima ist, und eine weitere alevitischen Glaubens. „Das hat bewirkt, dass unsere Religionsfachschaft breit aufgestellt ist“, sagt Posselt.

Verstörend: Jugendliche beteten in einer dunklen Ecke im Keller

Vor einiger Zeit seien dann Schüler aus der internationalen Vorbereitungsklasse aufgefallen, weil sie während der Mittagspause im Keller des FEG, in einer dunklen Ecke, beteten. „Das war sehr verstörend, gläubige Kinder so zu sehen“, sagt Posselt, „wir fanden es unwürdig und haben uns gefragt: Was können wir tun?“

Es habe schnell Einigkeit darüber geherrscht, dass ein Raum her muss, in dem ein stilles, individuelles Gebet möglich ist – aber auch einfach nur zur Ruhe zu kommen, ohne zu beten.

Wichtiger Punkt: Im Gebetsraum muss Toleranz herrschen

Posselt macht deutlich, dass es sich nur um ein spezielles Zeitfenster handelt. Nur zur dunklen Jahreszeit falle das muslimische Mittagsgebet, das sich nach dem Stand der Sonne richtet, in die Schulzeit. Außerdem sei es nur religionsmündigen Schülern, also nach ihrer Vollendung des 14. Lebensjahrs, erlaubt zu beten. Dies sei aktuell eine kleine Gruppe, die bei ihrer Religionsausübung in enger Rücksprache mit der verantwortlichen Lehrkraft stehe.

Bedeutet: Im Vorfeld wurden gemeinsam Regeln festgelegt, und es ist abgesprochen, wer den Schlüssel aus dem Sekretariat abholen darf. Der Raum stehe allen offen, und die Schüler zeigten untereinander große Toleranz. „Das funktioniert seit drei Jahren gut“, resümiert Posselt.

An der Lessing-Stadtteilschule gibt es einen Raum der Stille

Tobias Stapelfeldt
Tobias Stapelfeldt, Schulleiter der Lessing-Stadtteilschule im Harburger Stadtteil Wilstorf, hat für seine Schule eine individuelle Lösung gefunden. © privat | Privat

An der Lessing-Stadtteilschule im Harburger Stadtteil Wilstorf kann ein etwa zehn Quadratmeter großer Raum von allen Personen der Schulgemeinschaft individuell genutzt werden, um zur Ruhe zu kommen. Voraussetzung ist, dass er gerade nicht für Elterngespräche oder andere Beratungsgespräche belegt ist.

Der Wunsch nach einem solchen Raum sei aufgekommen, nachdem ein ehemaliger Lehrer der Schule kurz nach seiner Pensionierung verstorben war, erläutert Schulleiter Tobias Stapelfeldt: „Es wurde klar, dass es – wenn man beachtet, dass wir rund 1400 Schülerinnen und Schüler haben – immer mal wieder Situationen gibt, in denen man einen Rückzugsort braucht, der kontextlos ist.“ Dieser Raum der Stille werde, wenn das muslimische Mittagsgebet in die Schulzeit falle, auch für Gebete genutzt.

Jugendlichen sind wieder Dinge wichtig geworden, die Halt geben

Allerdings befürchtet der Schulleiter, dass ein solcher Raum nach einer bevorstehenden Umbauphase nicht mehr realisiert werden kann. „Im Baubudget für eine Schule ist ein solcher Raum nicht vorgesehen“, sagt Stapelfeldt. Die Stadtteilschule habe während der vergangenen dreieinhalb Jahre fast 400 Schüler aufgenommen. Deswegen würden alle baulichen Ressourcen gebraucht werden.

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Dass Schüler auf andere Schüler Druck ausüben, passiere immer mal wieder, weiß Mara Sommerhoff, die Lehrkräfte in ganz Hamburg im Umgang mit Fragen von religionssensibler Pädagogik unterstützt. „Meine These ist, dass es aber nicht der Religion wegen passiert, sondern der Pubertät wegen“, fügt Sommerhoff hinzu.

Gemeinsame Lösungen finden? „Wir haben hier einen riesigen Tanker zu steuern“

Weil Pubertierende nun mal zu Gruppenbildung neigten, auch hinsichtlich anderer Themen übten Jugendliche immer mal wieder Druck auf andere aus. Das Lehrpersonal müsse dann das Gespräch mit dem Schüler suchen und verdeutlichen, dass die Meinungen der Mitschüler zu akzeptieren sind. „Es ist wichtig, dass man die Religionsausübung an der Schule mit einem freundlichen, wachsamen und eher unaufgeregten Blick begleitet.“

Schließlich müsse man teilweise für eine Schulgemeinschaft von über 1000 Kindern und Jugendlichen eine gemeinsame Lösung finden, erläutert Sommerhoff: „Wir haben hier einen riesigen Tanker zu steuern und müssen deswegen alle im Blick haben.“

Gebetsräume an Harburger Schulen: Religiöse Bedürfnisse mitdenken

Dass Religion unter Schülern wieder ein Thema geworden ist, sei auch Resultat davon, dass bei Kindern und Jugendlichen insgesamt wieder vermehrt Dinge wichtig geworden seien, die Halt geben, sagt Sommerhoff.

Religion gehört zur selbstverständlichen Welt von Jugendlichen nun mal dazu – und deswegen muss Schule auch damit umgehen“, sagt die Pädagogin. Ihrer Meinung nach würde im Idealfall bei neuen Schulbauten ein Raum der Stille eingeplant, in dem auch Meditationen oder ein Zur-Ruhe-kommen möglich wären. Aber oft gebe es diese Kapazitäten nicht.