Hamburg. Am 9. März 2023 wurden sieben Menschen in Alsterdorf getötet. Sechs Zeugen Jehovas geben vor dem Jahrestag Auskunft. Was ihnen hilft.

Bevor es nach oben geht, wird noch einmal gebetet. Gemeinsam. Für die Kraft, das Durchhaltevermögen und die innere Stärke. Dann also mit dem Fahrstuhl aufwärts. Bis in den vierten Stock. Raum Eimsbüttel. Auf dem Konferenztisch liegt Gebäck. Es gibt Kaffee und Wasser. Und hier soll nun einen ganzen Nachmittag lang das Unerklärliche erklärt werden: Wie kann man ein Jahr nach dem wohl schlimmsten Amoklauf der Nachkriegszeit in Hamburg ein so einschneidendes Erlebnis überwinden?

Mary, Kevin, Julian, Fee und Marcel sind nicht das erste Mal in der Redaktion des Abendblatts. Rund 100 Tage nach dem Attentat auf ihren Gemeindesaal der Zeugen Jehovas in der Deelböge waren sie schon einmal hier und berichteten ausführlich über den traumatischen Abend, der ihr Leben in ein Davor und ein Danach geteilt hat.

Zeugen Jehovas: Am 9 März jährt sich der Amoklauf

Am 9. März 2023 erschoss Philipp F., früher für kurze Zeit selbst ein Mitglied in der Gemeinde der Zeugen Jehovas, sieben Menschen und richtete sich anschließend selbst. 135 Schuss, sechs erschossene Erwachsene, ein getötetes, ungeborenes Baby im Mutterleib. 16 Minuten dauerte das Massaker, das seitdem in ganz Deutschland als „Amoklauf in Alsterdorf“ bekannt ist. Und dieses dramatische Ereignis jährt sich an diesem Sonnabend zum ersten Mal.

„Ich bin schon jetzt aufgeregt und angespannt, weil ich weiß, dass dieser Tag mir bevorsteht“, sagt Julien. „Was mir hilft: Ich muss da nicht allein durch.“ Zwei Plätze neben ihm sitzt Fee: „Ich denke, dass es besser wird, wenn dieser Tag vorbei ist.“ Und auch Kevin ist unsicher: „Ich weiß zwar, wie wir den Tag verbringen werden. Aber ich weiß nicht, wie meine Gefühlswelt dann aussehen wird.“

Das Ehepaar Mary und Kevin will am Jahrestag gemeinsam mit der Gemeinde trauern und auch feiern.
Das Ehepaar Mary und Kevin will am Jahrestag gemeinsam mit der Gemeinde trauern und auch feiern. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Der 9. März. Für die sechs Überlebenden, die nun ein zweites Mal im Abendblatt einen Einblick in ihr Seelenleben und ihre Gefühlswelt gestatten, ist es ein Datum, das sich in den Kopf eingebrannt hat. Wie für die Welt 9/11, der Jahrestag des New Yorker Terroranschlags.

Doch kann man nach dem Überleben weiterleben?

Schussopfer Jonathan versucht, negative Gedanken zu verbannen

Man kann. Sagen zumindest Mary, Kevin, Jonathan, Julian, Fee und Marcel. Ihr Glaube helfe ihnen. Gott. Die Religion. Und natürlich auch die Gemeinschaft. „Ich versuche, mich auf das Positive zu konzentrieren“, sagt Fees Ehemann Marcel. „Aber nicht immer gelingt das.“ Jonathan nickt. „Ich habe versucht, die negativen Gedanken im vergangenen Jahr zu verbannen“, sagt er. „Das hat oft geklappt, aber natürlich nicht immer.“

Körperlich hat es Jonathan am 9. März vor einem Jahr von den Überlebenden am heftigsten erwischt. Der Familienvater wurde von fünf Kugeln durchsiebt, er musste notoperiert werden, insgesamt lag er sechsmal auf dem OP-Tisch. „Meine Verletzungen sind auskuriert“, sagt er ein Jahr später. Körperlich sei er zwar oft am Limit, aber es werde zumindest nicht mehr schlechter. Nur: „Das Psychische schleicht sich manchmal unbemerkt an einen ran. Man braucht dann diese Resilienz, wie man heute sagt.“

Jonathan wurde am 9. März 2023 von fünf Schüssen lebensgefährlich verletzt. Er musste sechsmal operiert werden.
Jonathan wurde am 9. März 2023 von fünf Schüssen lebensgefährlich verletzt. Er musste sechsmal operiert werden. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Mary weiß genau, was Jonathan meint. „Man hat gute und schlechte Tage“, sagt sie.

Mary lacht viel und gerne. Sie sei ein „Sonnenschein“, sagen andere über sie. Doch seit diesem 9. März geht auch bei Mary manchmal die Sonne unter. Zum Beispiel am Tag nach Silvester. „Da gab es plötzlich wieder diese Böllerknallgeräusche“, sagt sie. „Zu Silvester rechnet man damit, am Tag danach eigentlich nicht. Und die haben mich extrem schnell dazu gebracht, wieder an den 9. März zu denken.“

Gemeinsames Frühstück am Jahrestag, später eine Andacht

Mary und ihr Mann Kevin wollen am Sonnabend schon früh in den neuen Königreichssaal ihrer Gemeinde in Eidelstedt. Man werde gemeinsam frühstücken, beten, sich an die Getöteten erinnern. Man werde gemeinsam trauern, aber auch gemeinsam lachen. „Ich freue mich, dass wir diesen Tag nicht alleine überstehen müssen, sondern dass wir zusammen sind.“

Am Nachmittag gibt es eine Andacht, bei der die ganze Gemeinde zusammenkommt. „Ich bin auch besorgt, weil ich noch nicht so ganz absehen kann, wie der Tag emotional für mich wird“, sagt Fee. „Mein Wunsch ist, dass sich an diesem Tag die Trauer und die Freude die Waage halten. Die Freude der schönen Erinnerungen an die, die wir an jenem Tag verloren haben.“

Im Glauben der Zeugen Jehovas werden die Opfer weiterleben. In Jesaja 26:19 heißt es: „Jehova verspricht, dass die Toten wieder leben werden.“

Kevin: „Ich vermisse unsere Freunde sehr“

Der Glaube an die Zeit nach dem Tod hilft auch den Überlebenden. Und gleichzeitig fehlen ihnen auch ihre Glaubensbrüder und -schwestern. „Ich vermisse unsere Freunde sehr. Ihr Lachen, die Momente, die wir geteilt haben“, sagt Kevin. „Wenn ich ein Foto von ihnen sehe, dann kommt das schnell wieder hoch.“

Im Raum Eimsbüttel steht nun die Luft. Wenn einer spricht, dann hören die anderen zu. Nicken. Wischen sich die Augen. Keiner greift zu den Keksen. Als Zuhörer spürt man schnell, wie schwer es sein muss, über all das Erlebte noch einmal zu sprechen. Doch reden hilft, sagen sie fast alle. Nur: Der Schmerz der Erinnerungen an die, die nicht mehr wiederkommen, der geht nicht weg.

Die sechs Überlebenden im Gespräch mit Abendblatt-Redakteur Kai Schiller (l.) im Konferenzraum der Redaktion.
Die sechs Überlebenden im Gespräch mit Abendblatt-Redakteur Kai Schiller (l.) im Konferenzraum der Redaktion. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

„Ich habe bewusst die Trauerbewältigung mit der Verarbeitung der Tatnacht voneinander getrennt“, sagt Jonathan. „Ich will dieses Attentat nicht mit der sehr persönlichen Trauer an meine Freunde verbinden. Ich nehme mir sehr gezielt Zeit dafür, mich an meine Freunde zu erinnern. Das mache ich meistens mit meiner Familie zusammen, weil es mir alleine zu schwer fällt.“

Am Grab ihrer Freunde war noch keiner. Nicht, weil sie es nicht wollen. Sondern, weil sie es noch nicht können. Irgendwann werde der Moment kommen, dann würden sie alle Kraft zusammennehmen, sagt Jonathan. Mary sagt, dass sie dieses Bedürfnis schon in sich spüre. Gerne wolle sie auf den Ohlsdorfer Friedhof und jeden ihrer Freunde besuchen, der dort ein offizielles Grab erhalten habe.

Fee und Julien sind noch immer in therapeutischer Behandlung

Sie und ihr Mann Kevin haben eine Therapie gemacht, die ihnen geholfen habe. Nun würden sie vorerst pausieren. Marcel und Jonathan haben auf das Angebot bislang verzichtet, Fee und Julien sind noch immer in Behandlung.

„Ich habe manchmal sehr traurige Tage, ich fühle mich dann wie betäubt“, sagt Julien. „Bei unserem letzten Treffen habe ich gesagt, dass ich geduldiger mit mir selbst sein möchte. Aber über die Monate habe ich gemerkt, dass das gar nicht so einfach ist.“

Julien auf der Marion-Gräfin-Dönhoff-Brücke.
Julien auf der Marion-Gräfin-Dönhoff-Brücke. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Gut sei, dass er das Gefühl habe, sich selbst im vergangenen Jahr besser kennengelernt zu haben. Schlecht sei, dass seine Belastbarkeit und seine Konzentration nicht mehr die gleiche wie vorher ist. Trotzdem habe er ein halbes Jahr nach dem Amoklauf wieder langsam mit der Wiedereingliederung bei der Arbeit angefangen. Seine Ärztin habe ihm dazu geraten. Am Anfang ganz wenig, mittlerweile ist er bei vier Tagen in der Woche angekommen.

„Ich habe beim letzten Mal gesagt, dass es nun einen neuen Alltag für mich gibt“, sagt Julien. „Und das merke ich noch immer.“ Zu diesem neuen Alltag gehört ganz viel Zuspruch, aber auch Ablehnung. Wenig, aber noch immer zu viel.

Marcel wurde auf der Straße angesprochen und beschimpft

Marcel hatte ein Erlebnis, das ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Schon Monate sei das her, aber er könne es nicht vergessen. „Da ärgere ich mich über mich selbst, weil ich diese negativen Gedanken einfach nicht aus dem Kopf bekomme“, sagt er.

Ein Passant sei auf der Straße auf ihn zugekommen und habe ihn gefragt, „ob ich das mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, als Zeuge Jehovas hier zu stehen und über die Bibel zu reden. Schließlich könne es dann auch andere Unbeteiligte beim nächsten Mal treffen. Ich versuchte erst, ihn zu ignorieren, aber er wollte nicht gehen, redete immer weiter. Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln, war wie gelähmt.“

Fee und Marcel haben überlebt – und tanzen seitdem gerne in ihrem eigenen Wohnzimmer.
Fee und Marcel haben überlebt – und tanzen seitdem gerne in ihrem eigenen Wohnzimmer. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Marcel ist nicht der Einzige, dem so etwas passiert ist. Der grundsätzliche Anstieg s genannter Hatecrime-Vorfälle ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Bei den Zeugen Jehovas, die auch nach dem Amoklauf noch immer ein schwieriges Image haben, ist die Anzahl von Hasskommentaren nach dem Attentat bundesweit sogar deutlich in die Höhe gegangen.

Über das Warum, Wieso oder Weshalb wollen die sechs nicht nachdenken. Ihnen tut ihr Glaube und ihre Religionsgemeinschaft gut. Sie wissen aber auch, dass es andere gibt, die noch immer große Vorbehalte haben. Die Hauptvorwürfe: Die Bibelübersetzung würde nahezu wörtlich genommen werden, man halte sich zu streng an die urchristlichen Vorbilder, bleibe nur unter sich und gehe sehr rigide mit Aussteigern um.

Zeugen Jehovas sind als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt

Da hilft es den Zeugen auch nur bedingt, darauf hinzuweisen, dass die Glaubensgemeinschaft bereits seit 2017 in allen deutschen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und somit den Kirchen gleichgestellt ist. Auch der Hinweis, dass sich erst vor Kurzem der Bundestag öffentlich bei den Zeugen Jehovas für die Verfolgung in der Nazizeit entschuldigt hat, führt selten zu einem Umdenken.

Marcel zuckt mit den Schultern. Direkt nach dem Amoklauf habe er sehr viel gelesen, habe alle Zeitungsartikel inhaliert, habe Podcast gehört. „Dann hat es aber irgendwann gereicht“, sagt er. Die sogenannten Sekten-Experten, die schon am Tag nach dem Amoklauf im Fernsehen zu Wort kamen, die aus seiner Sicht oft gelesene Täter-Opfer-Umkehr, all das wollte er nicht mehr an sich heranlassen.

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Überhaupt: der Täter. An diesem Nachmittag am Großen Burstah wird nicht einmal über ihn gesprochen. Keiner erwähnt seinen Namen. Keiner spricht über mögliche Versäumnisse im Vorfeld. Über die Waffenbehörde, die vor dem Amoklauf einen anonymen Brief erhielt und offenbar schwerwiegende Fehleinschätzungen zu verantworten hat.

Auch auf die Frage, ob denn jemand unter ihnen mitbekommen habe, dass gerade erst die Verfahren gegen Mitarbeiter des Hanseatic Gun Clubs, in dem sich der spätere Täter den Waffenschein hat ausstellen lassen, eingestellt wurden, antwortet nur Marcel: „Ich habe das stillschweigend zur Kenntnis genommen.“

Jonathan: „Wir leben in einer dramatisch kaputten Welt“

Ein Jahr nach dem Amoklauf wird sehr deutlich, dass die, die den Abend überlebt haben, sämtliche Energie brauchen, um weiterzuleben. Für Hass, Vergeltung und ähnliche Dinge haben sie keinen Platz. „Wir leben in einer dramatisch kaputten Welt. Einerseits“, sagt Jonathan. „Und andererseits gibt es so viel Menschlichkeit, Liebe, Rücksicht. Ich habe so viel Zuspruch bekommen, dass es mich umgehauen und mir extrem gutgetan hat.“

Jonathan ist der Einzige, der beim ersten Treffen nach dem Amoklauf vor einem Dreivierteljahr nicht in der Abendblatt-Redaktion dabei war. Er war beruflich verhindert, hatte das Treffen dann in einem Café in der HafenCity nachgeholt. Nun möchte er aber auch auf die Dachterrasse, wo die anderen fünf Freunde bereits im vergangenen Jahr waren, will den Blick über das Rathaus, die Innenstadt und den Hafen genießen.

Zeugen Jehovas wollen beim Abendblatt auf die Dachterrasse

Also vom vierten in den achten Stock. Es ist wie im Leben der sechs im vergangenen Jahr. Irgendwie geht es immer voran, Stück für Stück. „Meine Belastungsgrenze ist viel schneller erreicht“, sagt auch Kevin. „Ich musste da sehr an mir arbeiten. Für mich heißt das, dass ich einen Tag nach dem nächsten nehme. Kleine Schritte. Das ist wichtig für mich. Aber jeden Tag wird es ein bisschen besser.“

Auf der Dachterrasse werden die Handys gezückt, Fotos gemacht. Hier die Elbphilharmonie, dort der Michel. „Hamburg ist so unglaublich schön“, sagt einer aus der Gruppe. Von hier oben sieht man alles. Auch die Dauerbaustellen, die Baugerüste, die Kräne. Aber wenn man den Fokus auf das Positive richtet, dann kann man das Negative ausblenden. Zumindest fast.

Jonathan musste nach dem Amoklauf notoperiert werden. Körperlich sind seine Verletzungen ausgeheilt.
Jonathan musste nach dem Amoklauf notoperiert werden. Körperlich sind seine Verletzungen ausgeheilt. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Jonathan berichtet von zwei Tagen, an denen es ihm im vergangenen Jahr richtig schlecht ging. „Das ganze Gute im Restjahr will ich aber auch nicht kleinreden“, sagt Jonathan, dessen Leben in der Nacht vom 9. auf den 10. März am seidenen Faden hing. Seine Lehre aus diesen zwei Tagen, die bei ihm an die Substanz gingen: „Negative Gedanken können einen kaputt machen.“ Er versuche alles, „dass mich diese negativen Gedanken nicht zerfressen“.

Das Erstaunliche: Allen sechs Überlebenden gelingt das relativ gut. Julien hat zwar noch manchmal Albträume, aber nur noch selten. Auch Fee kann endlich wieder gut schlafen. Und Mary hat dank der Therapie auch keine Angst mehr im Dunkeln, keine Angst mehr vor dem Alleinsein.

Die Gespräche ein Jahr danach waren intensiv

Der Nachmittag ist vorbei. Beim gemeinsamen Foto auf der nahe gelegenen Marion-Gräfin-Dönhoff-Brücke wird viel gescherzt und gelacht, auch auf der Dachterrasse werden Witze gemacht und geflachst. Doch die Gespräche im Raum Eimsbüttel waren intensiv und anstrengend.

Der Nachmittag geht an die Substanz. Und doch ist allen sechs zum Ende des Gesprächs noch eines wichtig: Danke zu sagen. Den Ärzten in der Asklepios Klinik Barmbek, die Jonathans Leben gerettet haben. Den Einsatzkräften, die am 9. März nach wenigen Minuten vor Ort waren. Den Familien, den Seelsorgern, den Freunden, den Nachbarn.

Zeugen Jehovas hoffen auf Abschluss nach dem Jahrestag

„Am liebsten würde ich die ganze Verarbeitung mit dem Jahrestag abschließen“, sagt Fee. „Aber ich weiß, dass das nicht funktioniert. Und doch weiß ich auch, dass wir da, wo wir jetzt stehen, nur deshalb sind, weil wir so viel Unterstützung erhalten haben.“

Auf der Dachterrasse. Und vor allem im Leben. Vom 10. März an soll das wieder etwas normaler werden. Mary, Kevin, Jonathan, Julian, Fee und Marcel werden wieder lachen, weinen, trauern, sich erinnern, arbeiten, Spaß haben, sich ärgern und beten. Vielleicht werden sie auch wieder tanzen. Wie Fee und Marcel, die seit einem Jahr immer wieder im eigenen Wohnzimmer tanzen.

„Zu selten“, sagt Fee. „Aber immer mal wieder“, sagt Marcel.