Bergedorf. Wie Christoph Krupp für die Zukunft des Bezirks die Ärmel hochkrempelt. Bergedorfs Aufstieg bis 2010: Das große Finale der Nullerjahre.
Die Abrissbagger leisten ganze Arbeit und schaffen Platz für die Zukunft: In der zweiten Hälfte der Nullerjahre krempelt ganz Bergedorf die Ärmel hoch. Ruinen wie das gescheiterte Kaufhaus Penndorf werden beseitigt, die beiden Filialen des angeschlagenen Karstadt-Konzerns im Sachsentor (noch) gerettet. Und vor allem gelingt Bezirksamtsleiter Christoph Krupp nach einem schier unendlichen Gesprächs- und Verhandlungsmarathon endlich die Wiederbelebung der Zukunftspläne für das lebensgefährliche alte ZOB-Areal zwischen Bahnhof, B5 und Einkaufszentrum CCB.
Diese „Neue Mitte Bergedorf“ soll bis 2010 zum Schauplatz spektakulärer Abrisse und architektonisch wie finanziell kühner Neubauten werden. Sogar der alte Bahnhof von 1937 verschwindet, mit dem kompletten ZOB auch der Weltkriegsbunker darunter, zudem das Autohaus Wiegmann samt Ex-Tankstelle südlich der B5 und natürlich das hässlich-graue Parkhaus des CCB am Serrahn. Alles zusammen verwandelt Bergedorfs Zentrum und seine ganze City spätestens ab 2008 zwar für mehr als drei Jahre in eine einzige Großbaustelle. Aber das tut der „Sommermärchen“-Stimmung keinen Abbruch.
150 Jahre bz: „Neue Mitte“ – Bergedorfs City wird für Jahre Großbaustelle
Ausgelöst 2006 von der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland, gelingt der Stimmungswandel gegenüber der eher trostlosen ersten Hälfte der Nullerjahre auch in Bergedorf buchstäblich live: Beim WM-Fest auf der Schlosswiese gibt es fast alle Spiele auf der Großbildleinwand. „Bis zu 4500 Fußballfans drängen sich bei den Spielen der Deutschen Nationalmannschaft, um Klinsmann, Ballack & Co. nah zu sein.“ fasst die Bergedorfer Zeitung zusammen. „Aber auch die Fans anderer Nationen vergnügen sich regelmäßig auf der Schlosswiese. Ausschreitungen gibt es keine, selbst kleinere Auseinandersetzungen halten sich in Grenzen.“
Vielleicht hält die gute Laune auch deshalb so lange an, weil Kanzler Gerhard Schröder samt seiner ungeliebten Hartz-IV-Reformen schon 2005 abgewählt worden ist. Und während in Berlin mit Angela Merkel wieder das Konservative Einzug feiert, haben die Hamburger sogar bereits 2004 für klare Verhältnisse gesorgt: Die Rechtsaußen-Fraktion der Schill-Partei ist aus Bürgerschaft und Bezirksversammlungen geflogen. Bürgermeister Ole von Beust, bisher nur dank Schill und FDP im Amt, darf bis 2008 nun allein, danach mit den Grünen regieren. Und auch in Bergedorf hat die CDU jetzt die absolute Mehrheit.
Sozialdemokrat Krupp wird wiedergewählt, obwohl die CDU in Bergedorfs die Mehrheit hat
Derart viele CDU-Entscheider auf allen Ebenen hätten den Motor der Bergedorfer Entwicklung allerdings kurz vor dem Start beinahe abgewürgt: Sozialdemokrat Christoph Krupp muss sich im Januar 2007 nach sechs Jahren im Amt in der christdemokratisch dominierten Bezirksversammlung zur Wiederwahl stellen. Natürlich prasseln die Anweisungen aus den Parteizentralen aus Hamburg und Berlin auf die Bergedorfer CDU ein, Krupp aus dem Amt zu jagen. Doch sollte man ein falsches Parteibuch über die Zukunft Bergedorfs stellen?
Die Bergedorfer CDU und ihre Fraktion in der Bezirksversammlung entscheiden sich, wie schon beim abgelehnten Misstrauensvotum drei Jahre zuvor, für den Amtsinhaber. Ein auf Druck aus Hamburg zuvor aufgestellter Gegenkandidat wurde fallengelassen, nachdem er bei einer öffentlichen Vorstellungsrunde der Kandidaten vor Hunderten Bergedorfern im Lichtwarkhaus gegen Krupp und seine Zukunftsprojekte keine Chance hatte.
Krupp erklärt den Bau der „Neuen Mitte Bergedorf“ zur Chefsache – und legt sofort los
Nun gilt es, keine Zeit zu verlieren: Mit Hochdruck geht es an die „Neue Mitte Bergedorf“ zwischen Bahnhof und altem CCB – auch wenn dieser Begriff den Anliegern der Einkaufsstraße Sachsentor gar nicht schmeckt. Schließlich gibt es auch dort große Probleme seit der Penndorf-Pleite von 2002 mit der folgenden Odyssee von Billig-Läden in der maroden Immobilie des Textilkaufhauses. Und 2008 gerät dann auch noch der Karstadt-Konzern mit seinen gleich zwei Bergedorfer Filialen in Schieflage. Es droht die Schließung kleiner Häuser.
Doch Krupp lässt sich nicht beirren. Statt bloß warmer Politikerreden über Konzernentscheidungen oder die Relikte eines einstigen Traditionsunternehmens legt er alle Kraft auf die schon 2006 vorgestellte Entwicklung des ZOB und seines Umfelds. Das Projekt ist Chefsachen, denn hier kann er als Bezirksamtsleiter die Hamburger Behörden und städtische Unternehmen wie die Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) intern zu Tempo und wichtigen Entscheidungen drängen.
Abenteuerlicher Plan: Bergedorfs ZOB wird für ein Jahr gesperrt
Und da nimmt er kein Blatt vor den Mund. „Bezirksamtsleiter Dr. Christoph Krupp verkündet einen abenteuerlichen Plan“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 8. Mai 2007. „Der ZOB wird vom Frühjahr 2008 an für fast ein Jahr gesperrt, seine bis zu 800 Busse täglich rollen über die Alte Holstenstraße. Was kühn klingt, beschleunigt den Bau der ‚Neuen Mitte‘ um ein Jahr. Mit der Fertigstellung ist so schon im Frühjahr 2010 zu rechnen.“
Tatsächlich soll sich die Einweihung des ZOB gegenüber dieser Ansage am Ende doch noch um gut ein Jahr auf den 18. September 2011 verschieben. Und auch die Kosten wachsen von ursprünglich veranschlagten rund 20 Millionen auf letztlich 44 Millionen Euro. Zumindest der Zeitverzug darf für ein derartiges Großprojekt als eher gering bezeichnet werden, schließlich musste alles buchstäblich bei laufendem Linienbusbetrieb und mitten im Herz Bergedorfs realisiert werden.
Sofort wird das Fachmarktzentrum gebaut – einschließlich von Bergedorfs erster Moschee
Zunächst entsteht das CCB-Fachmarktzentrum für Kaufland und Saturn südlich der B5, das schon am 17. August 2007 Richtfest feiert – einschließlich der hinten angegliederten Moschee der türkisch-islamischen Glaubensgemeinschaft Bergedorf. Sie hatte den Kuppelbau zur Bedingung gemacht, als CCB-Bauherr Fundus ihr Grundstück an der Stuhlrohrstraße erwerben wollte, um das Fachmarktzentrum zu bauen.
Wie geplant am 29. Februar 2008 feiert Saturn dann Einweihung, eine Woche vor den weiteren Mietern des Neubaus. 50.000 Menschen sind an diesem Tag dabei und tragen unzählige Elektronikartikel zu Eröffnungsangeboten hinaus. Kurz darauf wird dann der ZOB selbst zur Baustelle.
Ersatzhaltestellen überall in Bergedorfs City: Auch der beliebte Stopp „Kupferhof“ entsteht
Ab 5. April 2008 richten die VHH auf der Lohbrügger Bahnhofsseite und in der gesamten Bergedorfer Innenstadt Ersatzhaltestellen für die täglich 32.000 Fahrgäste ein, die am Bergedorfer Bahnhof zwischen Bus und Bahn wechseln. Unter den neuen Stopps, die nun fast ununterbrochen für gut drei Jahre bis zum September 2011 bleiben sollen, ist auch Bergedorfs heute zwar längst wieder verschwundene, aber noch immer beliebteste Haltestelle „Kupferhof“ auf der Alten Holstenstraße. Bis zu 800 Linienbusse täglich stoppen hier zwischen Block House, Haspa und Kirche St. Petri und Pauli – noch zentraler im Herzen Bergedorfs geht nicht.
Auf dem alten ZOB läuft der Abriss ab 16. April, am 3. Juni geht es auch dem alten Röhrenbunker an den Stahlbeton. 1940/41 von den Nazis gebaut, war er im Kalten Krieg später zum ABC-Schutzraum für 177 Menschen umgerüstet worden, doch das schien 2008 ja alles überflüssig.
Der alte Bergedorfer Bahnhof fällt innerhalb von nur fünf Tagen
Am 24. Juli fällt dann auch das alte Bahnhofsgebäude von 1937. Nach nur fünf Tagen ist es verschwunden, schließlich soll hier der neue ZOB entstehen, samt darunter liegendem Parkhaus und der neuen Empfangshalle des Bergedorfer Bahnhofs. Alle anderen Gebäude am Bahndamm sind da schon weg, darunter das Restaurant Pamukkale, das Bergedorfer Anglerzentrum und die alte Gepäckabfertigung. Sie stehen den langgezogenen Rampen im Weg, die erforderlich sind, um die Linienbusse von Alter Holstenstraße, Bergedorfer Straße und Sander Damm hinauf zum höher gelegten ZOB zu bringen.
Als Letztes knöpfen sich die Abrissbagger dann ab 20. Oktober 2008 dann das Mitte der 70er-Jahre gebaute CCB-Parkhaus samt seiner umgebenden Fußgängerbrücken vor. Etliche Schaulustige sind fast täglich bei den Abrissarbeiten dabei und werden mit ihren Kameras zu Bergedorf-Chronisten. Parallel startet der CCB-Betreiber auch noch die Sanierung des ebenfalls 1973 eingeweihten Altbaus, sodass sich die Investition für die Fundus-Gruppe auf über 100 Millionen Euro steigert.
Bezirksamt wird wichtigster Mieter im CCB-Neubau: 200 Mitarbeiter ziehen hierher um
Am 12. Mai 2009 ist der feierliche Spatenstich für den Neubau des CCB auf seiner ehemaligen Parkhaus-Fläche und Teilen des alten ZOB. Um Hamburgs Behörden für die letzten Genehmigungen anzutreiben, hatte Fundus-Geschäftsführer Helmut Jagdfeld zuvor immer mal wieder die Arbeiten unterbrochen. Aber mithilfe von Christoph Krupp drückten auch die Hamburger aufs Gaspedal. Schließlich war das Bezirksamt ganz nebenbei sogar der wichtigste Mieter des entstehenden Neubaus: Für die beiden oberen Etagen des Neubaus war ein 15-Jahres-Vertrag für das Bergedorfer Bürgerzentrum und weitere kundenintensive Bereiche mit zusammen 200 Mitarbeitern geschlossen worden. Grundsteinlegung ist am 9. Oktober.
Ins Stocken gerät 2009 auch der Neubau des gesamten ZOB-Projekts samt Bahnhof und Parkhaus: Nach zähen Verhandlungen stockt der Senat seinen Zuschuss von den bereits 2005 veranschlagten 20,8 Millionen Euro am 1. Juli endlich auf jetzt erforderlichen über 40 Millionen Euro auf. Grund für die Kostenexplosion seien neben Überraschungen bei den Erdarbeiten vor allem nicht eingerechnete Teuerungsraten gewesen, schreibt die Bergedorfer Zeitung. Und: „Ohne das frische Geld hätte ein Baustopp gedroht.“
20.000 Bergedorfer unterschreiben für Zukunft der beiden Karstadt-Häuser am Sachsentor
Mittlerweile sind jetzt auch die Sorgen um Bergedorfs Karstadt-Häuser am Sachsentor verflogen: „Aufatmen bei Karstadt – Standort Bergedorf ist vorerst gesichert“, titelt die Bergedorfer Zeitung am 29. Dezember 2009 und blickt auf das große Engagement des 35 Jahre jungen Geschäftsführers Torsten Dunkelmann zurück: Erst im April hatte er den Chefposten der 110 Mitarbeiter übernommen „und sich in Bergedorf zum Krisenmanager gemausert“.
Dunkelmann macht gleich im Mai mit einer Unterschriftenaktion mobil für die Zukunft von Karstadt-Bergedorf: „Schon am 25. Mai, dem ersten Tag, unterzeichnen 4000 Bergedorfer“, schreibt die bz. „Es werden mehr als 20.000 Unterschriften, die dem Insolvenzverwalter vorgelegt werden.“ Am 1. Dezember kann aufgeatmet werden: Bergedorf steht nicht auf der da erst 13 Häuser umfassenden Schließungsliste. Erst elf Jahre später, mitten in der Corona-Pandemie, soll Ende 2020 wirklich Schluss sein.
Penndorf wird nach siebeneinhalb Jahren Leerstand zum „Neuen Mohnhof“
Bewegung kommt nach sieben Jahren Trauerspiel jetzt auch endlich in das Thema Penndorf. Nach etlichen vergeblichen Wiederbelebungsversuchen treten 2008 Investor Karl-Dieter Broks und Projektentwickler Frank Kiefaber auf die Bildfläche. Und tatsächlich: „Penndorf wird zum ‚Neuen Mohnhof‘“ bestätigt die Bergedorfer Zeitung Ende 2009 und begleitet die Gebäudesanierung.
Am Ende sind Broks und Kiefaber sogar schneller als Helmut Jagdfeld und seine Fundus mit dem Neubau der CCB-Erweiterung auf dem alten ZOB: Der „Neue Mohnhof“ öffnet am 20. Mai unter anderem mit H&M, das einen solchen Ansturm erlebt, dass die Bergedorfer Filiale die Zahl der Mitarbeiter schon nach wenigen Wochen fast verdoppelt. „Tausende Bergedorfer wollen nach siebeneinhalb Jahren Leerstand live erleben, was aus dem ehemaligen Kaufhaus Penndorf geworden ist“, schreibt die bz.
50.000 stürmen neues CCB am Eröffnungstag – auch Bürgermeister Ahlhaus kommt
Getoppt wird das nur noch von der CCB-Eröffnung, die sogar Hamburgs Bürgermeister Christoph Ahlhaus (CDU) nach Bergedorf zieht. Er übergibt Jagdfeld und Krupp den symbolischen Schlüssel. Die Stimmung bei den Bergedorfern ist ausgelassen: „Am Donnerstag, 28. Oktober, 8 Uhr, beginnt in Bergedorf eine neue Zeitrechnung. Jedenfalls was den Einkaufsstandort angeht“, schreibt die bz. „50.000 Menschen stürmen am Eröffnungstag ‚ihr‘ neues Einkaufszentrum CCB. Schon 24 Stunden später ist auch die 100.000er-Marke geknackt.“
Der positive Blick in die Zukunft ist am Ende des ersten Jahrzehnts vom neuen Jahrtausend im Bezirks Bergedorf auch in vielen anderen Bereichen. So begeistert die Idee vom „Weltkulturerbe Bergedorfer Sternwarte“ seit Mai 2007. Vom renommierten Chef der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Prof. Dr. Gottfried Kiesow, bei einem Gesprächsabend unserer Zeitung in der Bibliothek des Observatoriums aufgebracht, werden an gleicher Stelle im Oktober 2008 mit einem internationalen Symposium schon die Weichen gestellt. Alles scheint klar dafür, dass die Sternwarte schon zu ihrem 100. Geburtstag 2012 als Kandidat auf der Liste der Unesco auftaucht. Doch dort ist sie nach zwei erfolglosen Anläufen bis heute nicht angekommen.
Aktion „Wir geben unserer Mühle Flügel“: 10.000 Bergedorfer sind dabei
Besser läuft es mit der Bergedorfer Mühle. Sie bekommt nach fünfjähriger Grundsanierung in Eigenregie durch einen kleinen Kreis des Mühlenvereins um den Vorsitzenden Bruno Kluß 2011 endlich wieder Flügel. Gespendet haben dafür auch mehr als 10.000 Bergedorfer bei der Aktion „Wir geben unserer Mühle Flügel“ unserer Zeitung in Kooperation mit dem Mühlenverein.
Ferner startet am 5. Juli 2010 der Bau des Bergedorfer Ewers nach historischem Vorbild auf einem Ponton im Serrahn. Das 260.000-Euro-Projekt des eigens dafür gegründeten Vereins wird drei Jahre später fertig und unter dem Namen „Uns Ewer“ das Flaggschiff des Bezirks. Ebenfalls ab 2010 öffnet für drei Jahre der erste und einzige Bergedorfer Beachclub am Schleusengraben – und ganz nebenbei fällt eine unsichtbare Grenze, die bis dahin Bergedorf von seinen Nachbargemeinden getrennt hat: Das Gastschulabkommen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein öffnet allen Schülern die Möglichkeit, auch jenseits der Landesgrenze zur Schule zu gehen. Bis dahin war das illegal: Wer von der Schulaufsicht erwischt wurde, musste gehen.
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- Der „Fürst von Bergedorf“ stirbt viel zu früh
Gute Aussichten also am Ende der Nullerjahre auf das neue Jahrzehnt? Bergedorf hat sich von den Rückschlägen nach der Jahrtausendwende erholt und scheint wieder auf dem besten Weg nach oben. Doch schon 2011 wird einiges anders: Christoph Krupp, Motor des neuen Bergedorfs, wechselt als rechte Hand des neuen Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz in die Senatskanzlei. Und im fernen Syrien soll Diktator Assad mit dem Krieg gegen die eigene Bevölkerung eine riesige Flüchtlingswelle auslösen.