Bergedorf. Neue Jugend-Konzepte sollen mehr Kinder für Sport begeistern. Gute Idee oder Kuschelpädagogik – die Meinungen gehen auseinander.
„Sport ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.“ Diesen Satz hat Boris Schmidt geprägt, der 1. Vorsitzende der TSG Bergedorf. Er nutzt ihn gern, um die Politik an ihre Verantwortung gegenüber den Sportvereinen zu erinnern. Wenn es darum geht, die Weichen für die Zukunft zu stellen.
Wenn es um die Jugend geht, erreicht der Sport als Kitt für die Gesellschaft aber längst nicht die Gesamtheit des Nachwuchses. Bei den Acht- bis 14-Jährigen sind etwa jedes zweite Mädchen (58 Prozent) und drei von vier Jungs (77 Prozent) in Deutschland Mitglieder in einem Sportverein. Bei den Älteren (15 bis 18 Jahre) nimmt dieser Anteil merklich ab: Hier treiben noch 62 Prozent der Jungs und lediglich 43 Prozent der Mädchen Sport im Verein.
Jugendsport: Wenn Kinder nicht mehr das Verlieren lernen – geht das gut?
Je älter die Kinder und Jugendlichen werden, desto schwerer ist es also, sie bei der Stange zu halten. Ein Effekt, der durch Leistungsdruck dramatisch verstärkt werden kann. Um dem entgegenzuwirken und generell noch mehr Kinder für den Vereinssport zu begeistern, setzen einige Sportarten auf neue Konzepte.
So gibt es im Basketball bei den Unter-Zwölfjährigen keine Tabellen mehr. Zudem sind bei den Spielen Anzeigetafeln verboten, damit die Jugendlichen nicht immer gucken, wie es steht. Der Fußball zieht nun nach. In den unteren Jahrgängen werden verpflichtend zum Sommer die Meisterschaften abgeschafft und durch neue Spielformen ersetzt.
Dreimal pro Woche Training, weite Anreise und dann nur Ersatz
Warum das alles? Ein Beispiel: Die 1. B-Jugend des SC Vier- und Marschlande spielt in dieser Saison in der Fußball-Oberliga, das ist die höchste Hamburger Spielklasse. Ein stolzer Erfolg für den Verein. Aber ein hart erkämpfter. „Wir trainieren dreimal pro Woche, um das zu schaffen“, schildert Coach Heiko Peitzner.
Pro & Contra
Im Kader der 15- bis 16-Jährigen herrschte ein klares Leistungsprinzip: Wer nicht gut genug ist, spielt nicht. „Jeder Junge denkt, er gehört in die Startelf“, erläutert Peitzner. „Da muss man als Trainer eine ganz klare Linie haben, die jeder versteht.“ Vor zwei Wochen hat er nun sein Traineramt hingeworfen. Entnervt von den fortwährenden Problemen.
„Cool!“: G-Jugendliche spielen künftig auf vier statt zwei Tore
„Wir hatten ständig eine sehr große Fluktuation im Kader“, klagt Peitzner. „Jetzt wollten im Winter wieder neun Spieler weg.“ In ihrer Not tat sich der SCVM mit dem Nachbarn SV Curslack-Neuengamme zusammen. Jetzt hat der Kader wieder 30 Spieler, die Saison ist gesichert. Die Probleme aber bleiben. „Von den 30 Spielern wohnen nur drei in den Vier- und Marschlanden“, schildert Peitzner. „Viele kommen von weit her, nehmen einiges auf sich, um Oberliga spielen zu können.“ Da ist Unmut schnell da.
Derselbe Verein, eine andere Altersstufe und eine ganz andere Geschichte: In der Fußball-G-Jugend des SC Vier- und Marschlande ist Trainer Phillip Micke hellauf begeistert von den Möglichkeiten, die die neuen Spielformen des Deutschen Fußball-Bundes bieten. Mit drei gegen drei Jungs wird auf vier Minitore gespielt. So fallen Tore am laufenden Band. „Die Jungs finden das cool, die lieben das“, schwärmt Micke.
SC Vier- und Marschlande setzt voll auf die neuen Spielformen
Die neue Spielform löst ab Sommer verpflichtend in ganz Deutschland den bisherigen Ligaspielbetrieb ab. Nicht nur in der G-Jugend, sondern auch in den beiden Altersklassen darüber, der F- und E-Jugend. Für alle Kinder von elf Jahren und jünger wird es dann also keine Meisterschaftswettbewerbe mehr geben.
Experimentieren dürfen die Vereine mit den neuen Spielformen jetzt schon. SCVM-Jugendtrainer Micke macht davon begeistert Gebrauch. „Ich habe mich sehr intensiv mit den neuen Spielformen beschäftigt. Wir haben sie bereits vollumfänglich eingeführt“, erläutert er.
Meister und Turniersieger gibt es künftig nicht mehr
An Stelle der Meisterschaften treten künftig Spielenachmittage und Festivals, bei denen auf einer Reihe von Kleinfeldern gespielt wird. Mit jedem Sieg rückt ein Team ein Feld hoch, mit jeder Niederlage ein Feld herunter. So entstehen immer neue Paarungen, und möglichst gleichstarke Teams treffen aufeinander. Die Ergebnisse werden nicht festgehalten, einen Turniersieger gibt es nicht.
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Auch in den höheren Altersstufen wird der DFB aktiv. So werden in der A- und B-Jugend die Bundesligen abgeschafft. Ist das alles nun eine geniale Idee oder eher der Ausdruck einer Kuschelgesellschaft? Der Geschäftsführer von Borussia Dortmund, Hans-Joachim Watzke, ist einer der prominentesten Kritiker der neuen Regelung. „Unfassbar und nicht nachvollziehbar“, seien die Beschlüsse, wetterte der 64-Jährige in der Süddeutschen Zeitung.
Watzke: „Wer nie das Gefühl hat, zu verlieren, wird auch nicht gewinnen“
„Wenn du als Sechs-, Acht- oder Neunjähriger nie das Gefühl hast, was es ist zu verlieren, dann wirst du auch nie die große Kraft finden, um auch mal zu gewinnen“, ist Watzke überzeugt. „Wenn wir Angst haben, dass ein Achtjähriger komplett aus der Bahn geworfen wird, weil er mal 0:5 mit seiner Mannschaft verliert, dann sagt das auch sehr viel über die deutsche Gesellschaft aus.“
Micke sieht das ganz anders. Die Vorteile der neuen Spielformen würden mögliche Nachteile bei Weitem überwiegen. „Wenn wir früher mit fünf Feldspielern plus Torwart gespielt haben, dann spielten meist nur vier, und einer lief nebenher. Zudem waren die Tore für die Kleinen viel zu groß“, erläutert Micke. „Die Änderungen sind absolut sinnvoll. Wenn ich jetzt zum Beispiel neun Spieler an einem Wochenende habe, kann ich schon drei Mannschaften bilden.“
Veränderungen gibt es auch bei den Bundesjugendspielen
Auch Schulen zielen darauf ab, den Leistungsdruck zu reduzieren. So wurden die Bundesjugendspiele in den Grundschulklassen 1 bis 4 durch einen „bewegungsorientierten Wettbewerb“ ersetzt, bei dem die individuellen Leistungen keine Rolle mehr spielen. Die begleitende Punktetabelle, die bislang zur Einordnung der Leistungen im Laufen, Werfen und Springen diente, wurde von Kultusministerkonferenz und Familienministerium einkassiert.
Auch hier waren die Reaktionen geteilt. „Die Kuschelpädagogik hat gewonnen: Urkunden für alle!“, zürnte Anant Agarwala in der „Zeit“, während Eiken Bruhn in der „taz“ forderte, die Bundesjugendspiele, diese „Event gewordene Demütigung für alle, deren Körper nicht für Leichtathletik, Geräteturnen und Schwimmen geboren wurden“, solle doch gleich ganz gestrichen werden.
Bundesjugendspiele abschaffen? Nicht alle Schulen machen da mit
Doch nicht alle Schulen machen da mit. „Wir haben noch ganz normale Bundesjugendspiele durchgeführt, viele andere Schulen auch“, erzählt Björn Fock, Basketball-Trainer bei der TSG Bergedorf und Sportlehrer an der Grundschule Sander Straße in Bergedorf. „Man kann die Werte immer noch im Internet eingeben, und viele Eltern waren froh, dass es die Urkunden noch gibt.“
Nur der Ausdauerlauf, der sei jetzt freiwillig, um leistungsschwächere Kinder nicht zu frustrieren. „Es ist doch ohnehin jedem klar, dass es bei diesen Veranstaltungen um den Spaß am Sport geht“, betont Fock. Die Zukunft wird nun zeigen müssen, inwieweit der Sport künftig noch als „Kitt für die Gesellschaft“ taugen kann, wenn die Auseinandersetzung mit sich und der eigenen Leistung durch neue Regeln mehr und mehr zurückgedrängt wird.