Frankfurt am Main. Miriam Welte über schmerzhafte Mittelkürzungen für Athleten und sinkende Leistungsbereitschaft in der deutschen Gesellschaft.
Die Ankündigung der Bundesregierung, im Haushalt für das Olympiajahr 2024 die Mittel für den deutschen Sport um zehn Prozent zu kürzen, hat viele im Sport Tätige aufgeschreckt. Miriam Welte, sechsmalige Weltmeisterin und 2012 Olympiasiegerin im Bahnrad-Teamsprint, ist seit Dezember 2021 ehrenamtlich als Vizepräsidentin im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) engagiert. Im Abendblatt-Gespräch erläutert die 36-Jährige, Ehrenmitglied des 1. FC Kaiserslautern und Mutter einer 15 Monate alten Tochter, warum sie die Pläne für fatal hält und wie der Leistungssport in Deutschland zu retten wäre.
Frau Welte, der deutsche Leistungssport scheint auf der Intensivstation zu liegen. Keine Medaille bei der Leichtathletik-WM, kein Titel bei der Heim-EM im Hockey, selbst im Fußball überstehen wir mit beiden Geschlechtern nicht einmal mehr die WM-Vorrunde. Wie groß ist Ihre Sorge vor den Olympischen Spielen 2024?
Miriam Welte: Meine Hoffnung ist, dass die Prognosen düsterer sind als die wirkliche Lage. Wir haben ja auch ein paar Lichtblicke. Die Kanuten haben bei ihrer Heim-WM 17 von 18 Quotenplätzen für Paris gesichert, die Basketballer spielen eine starke WM, in der Rhythmischen Sportgymnastik hat Darja Varfolomeev alle fünf möglichen WM-Titel gewonnen. Aber natürlich wissen wir alle um den Ernst der Lage.
In diese schwierige Zeit platzte vor einigen Wochen die Nachricht, dass der Bund den Sporthaushalt von 303 auf 276 Millionen Euro jährlich zu kürzen gedenkt. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von diesem Vorhaben erfuhren?
Dass es nicht fair und auch nicht nachvollziehbar ist.
276 Millionen Euro klingt immer noch nach sehr viel Geld. Wenn man allerdings weiß, dass allein die Universität von Texas über einen Sportetat von 200 Millionen Dollar verfügt, relativiert sich die Summe. Was muss damit alles finanziert werden?
Alles, was im Leistungssportsystem notwendig ist: Olympiastützpunkte, alle Verbände, alle Bundestrainer, alle Kosten für Trainingslager und Wettkämpfe, auch unsere wertvollen technischen und wissenschaftlichen Unterstützer, das Institut für angewandte Trainingswissenschaft (IAT) und das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES). Wir stehen vor drastischen Mittelkürzungen in allen Bereichen.
Welche würden besonders schmerzen?
Besonders dramatisch wären die sechs Millionen Euro weniger für Bau und Unterhalt von Olympiastützpunkten und Leistungszentren, weil sie direkt die Infrastruktur des Leistungssports treffen. Aber auch die vier Millionen Minus bei IAT und FES, weil sie das Know-how beschneiden, das bei den vergangenen Winterspielen 2022 in Peking an 21 von 27 gewonnenen Medaillen beteiligt war. Dort drohen wir sehenden Auges den Vorsprung zu verspielen, den wir noch haben. Um ein Beispiel zu geben: Dank der Arbeit des FES konnten wir im Bahnradsport 20 Prozent Leistung bei gleichbleibender Geschwindigkeit einsparen, weil wir die Körperhaltung angepasst und optimiertes Material eingesetzt haben. Wenn wir diese Institute nun vernachlässigen, gefährden wir den sportlichen Erfolg.
Es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, nicht fehlendes Geld sei das Problem, sondern die falsche Verteilung der vorhandenen Mittel, die über die vergangenen Jahre signifikant erhöht wurden. Stimmen Sie zu?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass leider viel von dem Geld nicht bei denen ankommt, die es brauchen, bei Athletinnen und Athleten, Trainerinnen und Trainern. Die Verantwortlichen müssen zu viele Ressourcen in die Verwaltung stecken. Viele Fördermittel versickern in der Bürokratie. Mit der als Kontrollmechanismus vom Bundesinnenministerium eingeführten Potenzialanalyse (PotAs), die als Grundlage für Fördermittelzuteilung gilt, haben wir ein bürokratisches Monster geschaffen, das viel zu viel Geld auffrisst. Ein Beispiel: Mein Stiefvater ist Trainer auf der Radrennbahn in Dudenhofen. Früher hat er für seine Fahrtkostenabrechnung fünf Minuten in der Woche gebraucht. Heute muss er mit drei Institutionen abrechnen, jeden einzelnen Athleten, den er trainiert, aufführen, und braucht zweieinhalb Stunden pro Woche mehr dafür.
Grundsätzlich ist die Idee, Geld auf Basis von belegbaren Daten zu verteilen, ja nicht falsch.
Falsch nicht, aber eben schwierig. Die Erfolge, die ich feiern durfte, wären unter PotAs nicht möglich gewesen. Ich bin erst mit 24 in der Weltspitze angekommen, damit wäre ich wegen zu geringer Erfolgsaussicht beim Übergang zum Erwachsenenbereich durchs Raster gefallen.
Das PotAs-System soll nur sieben Jahre nach seiner Einführung komplett reformiert werden, vorgesehen ist eine unabhängige Leistungssport-Agentur, die die Fördermittel verteilt. Was ist daran besser, wann wird es umgesetzt?
Ich bin überzeugt davon, dass das gesamte Fördersystem revolutioniert werden muss, um den bürokratischen Aufwand zu minimieren und das Geld dort wirken zu lassen, wo es gebraucht wird. Das kann eine neutrale Instanz am besten umsetzen. Im Koalitionsvertrag ist die Gründung einer Leistungssport-Agentur verankert. Deshalb waren wir auch überrascht, dass sie im nun diskutierten Haushaltsplan keine Erwähnung findet, ebenso wie die übrigen Zukunftsprojekte des Sports.
Das Leistungssportpersonal hat seit 2015 keine Gehaltsanpassung mehr erhalten. Wie hält man Trainerinnen und Trainer bei der Stange, wenn die sowieso schon harten Bedingungen mit viel Wochenendarbeit und Reisetätigkeit nun noch schlechter werden?
Das ist eine Frage, die auch mich umtreibt. Als ich aus dem aktiven Sport ausschied, wurde ich oft gefragt, ob ich nicht Trainerin werden will. Als Polizeibeamtin verdiene ich 3200 Euro netto und habe einigermaßen geregelte Arbeitszeiten. Von so einer Bezahlung kann ein leitender Landestrainer in Deutschland nur träumen! Wenn ich annähernd das verdienen würde, was ich jetzt habe, würde ich aus Leidenschaft zum Sport durchaus darüber nachdenken, trotz der hohen Belastungen in den Trainerberuf zu wechseln. Aber davon sind wir noch sehr weit weg.
Ist ein Problem auch die nachlassende Leistungsbereitschaft? Wenn bei Bundesjugendspielen Leistungskriterien gestrichen werden, um Schwächere nicht zu benachteiligen, und der Deutsche Fußball-Bund im Nachwuchsbereich Ergebnisse und Tabellen abschafft: Sind das die richtigen Zeichen, um Leistungsbereitschaft zu fördern?
Was die Bundesjugendspiele angeht, ist in der Berichterstattung einiges falsch dargestellt worden. Es geht darum, im Grundschulbereich einige Kriterien anzupassen, aber nicht um eine Abschaffung von Leistung, und von Klassenstufe fünf an ändert sich gar nichts. Das finde ich vertretbar, weil es bei den Jüngeren vor allem darum geht, sie überhaupt für Sport zu begeistern. Schwierig dagegen fände ich, wenn die Vergleichbarkeit von Leistung abgeschafft würde. Kinder und Jugendliche lieben es doch, sich zu messen. Da kann es schon zum Problem werden, wenn wir uns Generationen heranziehen, die in Drucksituationen nicht klarkommen, weil sie es nicht gelernt haben, sich im Wettbewerb zu behaupten. Genau das sollte man im Sport doch lernen.
Manch deutsche Athletinnen und Athleten sind bisweilen Weltspitze, was das Finden von Ausreden angeht, aber man hat das Gefühl, dass für manche Quälen nicht mehr zum Portfolio zählt.
Die überwiegende Zahl der Athletinnen und Athleten ist nur deshalb im Team Deutschland, weil sie sich neben allem Talent auch quälen können. Aber Sie haben recht, zum Teil fehlt die Leistungsbereitschaft wirklich. Insbesondere im Fußball, wo auch ich das Gefühl hatte, dass der Anreiz, Weltmeister zu werden, nicht mehr hoch war, weil die Spieler in ihren Vereinen so viel Geld verdienen, dass sie satt sind. Dennoch glaube ich, dass die allermeisten Athletinnen und Athleten sehr viel Willen und Leidenschaft mitbringen, ihnen aber die Anreize fehlen. Leistung muss sich lohnen, zumindest in der Form, dass man keine Existenzängste haben darf, wenn man sich für eine Karriere im Leistungssport entscheidet.
Drückt sich Wertschätzung nur in finanzieller Zuwendung aus? Oder fehlt es auch an Wahrnehmung und ideeller Unterstützung?
Beides. Es ist ein gutes Zeichen, dass seit Ende 2020 eine Vereinbarung zwischen dem BMI und der Sporthilfe dafür sorgt, dass all diejenigen, die nicht in Sportfördergruppen von Polizei, Bundeswehr oder Zoll angestellt sind, Rentenpunkte sammeln. Aber es braucht eine deutlich bessere finanzielle Absicherung für Leistungssportler. Wenn ich sehe, dass Olympiasieger in anderen Nationen Häuser bekommen oder lebenslang finanziell unterstützt werden, sind die 20.000 Euro Prämie, die es in Deutschland für eine Goldmedaille gibt, kein wirklicher Anreiz.
Dass in manchen Teilen der Welt Sport noch immer der beste Ausweg aus der Armut ist, erklärt den Hunger dieser Athletinnen und Athleten. Aber auch viele Länder in Europa, in denen die Menschen ähnliche berufliche Entwicklungschancen haben wie in Deutschland, messen dem Sport einen deutlich höheren Stellenwert bei. Warum?
Der Stellenwert des Sports fehlt in Deutschland tatsächlich, und auch ich habe den Eindruck, dass er weiter abnimmt. Viele andere Nationen schaffen es, ihre sportliche Elite in den Vordergrund zu rücken und sie zu Vorbildern zu machen. Wir haben auch abseits des Fußballs viele erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler, aber sie werden viel zu wenig wahrgenommen und wertgeschätzt. Dabei brauchen wir dringend Vorbilder. Wir brauchen mehr Dirk Nowitzkis, Alexander Zverevs, Timo Bolls oder Leon Draisaitls.
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Die kann man sich aber auch nicht backen. Wie überzeugt man heute die Jugend in Deutschland davon, eine Karriere im Leistungssport anzustreben?
Indem man den Sport finanziell attraktiver macht und seine Sichtbarkeit deutlich erhöht. Es wird ja oft darüber geklagt, dass das lineare Fernsehen zu viel Fußball und zu wenig anderen Sport zeigt. Aber die heutige Generation erreichen wir doch gar nicht mehr über lineares Fernsehen, die müssen wir in den sozialen Medien abholen, wo über Livestreams fast alle Sportarten angeboten werden.
Dazu muss aber ein Interesse da sein, das über Fußball hinausgeht. Sehen Sie das in Deutschland?
Ja. Die jüngsten Umfragen zum Thema, ob sich Deutschland um die Ausrichtung Olympischer Spiele bewerben soll, haben bis zu 70 Prozent Zustimmung ergeben. Vor allem jüngere Menschen haben ihr Interesse daran bekundet. Ich glaube: Der deutsche Leistungssport ist nur zu retten, wenn wir Olympische Spiele nach Deutschland holen. Die Sommerspiele 1972 in München haben so viele Dinge angestoßen, von denen wir bis heute zehren: Das System der Stützpunkte, die Sporthilfe, der Sportausschuss im Bundestag, die Trimm-dich-Bewegung – all das hat seinen Ursprung in den Spielen 1972.
Die vergangenen Anläufe sind alle gescheitert, nicht zuletzt an der Ablehnung der Bevölkerung. Ist Deutschland überhaupt reif für einen neuen Anlauf?
Der DOSB hat dazu ja einen Prozess angestoßen, der aktuell läuft, um herauszufinden, ob die Basis für eine neue Bewerbung besteht. Der neue Weg des Internationalen Olympischen Komitees, Bewerbungen von Regionen zuzulassen, um teure Neubauten zu vermeiden, sollte uns in die Karten spielen. Mir persönlich wird in der Diskussion aber grundsätzlich zu häufig über entstehende Kosten geredet, aber zu wenig über das, was Olympische Spiele bringen. Nicht nur an Einnahmen durch Gewerbesteuer, durch Tourismus und Marketing, sondern auch für die Grundstimmung in der Gesellschaft.
Glauben Sie, dass die Gesellschaft in ihrer Breite den Stellenwert des Sports richtig einzuordnen versteht?
Ich glaube tatsächlich, dass viele Menschen noch immer nicht erkannt haben, welche Wichtigkeit Bewegung und Sport für die Gesellschaft haben, obwohl wir das doch nicht zuletzt während der Pandemie vor Augen geführt bekommen haben. Deshalb ist es uns auch so wichtig, bei der Diskussion um den Sporthaushalt zu betonen, dass der Leistungssport zwar die Spitze darstellt und Vorbildcharakter haben soll, der Breitensport aber für die Förderung der Gesundheit der gesamten Gesellschaft unerlässlich ist. Ein Beispiel: Unsere Kinder werden immer dicker. Eine neue Untersuchung aus Berlin sagt, dass nur noch 15 Prozent der Kinder als sportlich eingestuft werden können. Allein für die Bekämpfung der Folgen von Adipositas fallen jährlich Kosten in Höhe von 60 Milliarden Euro an! Wenn man davon eine oder zwei Milliarden in den Sport investieren würde, um präventiv einzugreifen, wäre viel gewonnen.
Was fordern Sie also von der Politik?
Wir fordern nicht, wir verhandeln. Und wir wünschen uns, dass bei den finalen Haushaltsberatungen Ende November die angedrohten Kürzungen nicht beschlossen, sondern klare Zeichen gesetzt werden, dass die Wichtigkeit des Sports erkannt wird. Der Bewegungsgipfel im Dezember war ein wichtiger Schritt, aber er darf nicht zur Schaufensterveranstaltung degradiert werden.
Wenn Jugendliche Sie um Rat fragen, ob eine Karriere im Leistungssport noch erstrebenswert ist, was antworten Sie?
Dass ich den Weg, den ich gewählt habe, immer wieder so einschlagen würde. Für mich war die Teilnahme an Olympischen Spielen immer ein Lebenstraum, den ich mir ohne finanzielle Ansprüche und mit harter Arbeit erfüllen wollte. Allen, die diesen Traum auch haben, rate ich, alles dafür zu geben. Aber mir ist auch bewusst, dass die Herausforderungen noch größer geworden sind. Deshalb gebe ich jetzt alles dafür, dass sich einiges ändert, damit sich ein Leben im Leistungssport auch weiterhin lohnt.