Bergedorf. Zukunftsprojekte wie Lohbrügge-Nord, das neue Lichtwarkhaus und der Bau der A1 prägen 1961. Bis die S2 verunglückt.

Eigentlich steht das Jahr 1961 für die Bergedorfer unter einem guten Stern: Endlich sollen sie mit dem Lichtwarkhaus ihr lange erträumtes Veranstaltungszentrum mit einem Saal für 600 Personen bekommen. Dann steht die Grundsteinlegung des Hallenbades am Bille-Bad an. Und mit dem ersten Spatenstich für Lohbrügge-Nord sollen sie die „für ganz Deutschland vorbildliche Musterstadt“ mit 5750 Wohnungen auf der grünen Wiese erhalten.

Doch dann geschieht in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober das Unvorstellbare: Die hochmoderne, erst vier Jahre zuvor eingeweihte Bergedorfer S-Bahn verunglückt auf grauenvolle Weise. Weil der Fahrdienstleiter im Stellwerk Berliner Tor einen Arbeitszug auf dem Gleis aus dem Blick verliert, kollidiert der mit über 150 Menschen vollbesetzte Kurzzug um 22.33 Uhr mit einem Anhänger, der zwei riesige Stahlträger für Brückenbauarbeiten geladen hat. Es ist das größte S-Bahn-Unglück in der Geschichte Hamburgs.

Zugführer beschleunigte die S-Bahn bis zum Unglück auf 70 km/h

Wie sich später herausstellt, ist die Signalanlage abgeschaltet, weshalb der Zugführer gut 300 Meter hinter der Station Berliner Tor auf rund 70 km/h beschleunigt hat, als im Nebel dieser Nacht die rote Laterne am Ende des Arbeitszuges auftaucht. Es gelingt ihm zwar noch, die Notbremsung auszulösen, doch es ist zu spät.

Polizisten helfen einer leichtverletzten Frau aus der verunglückten S-Bahn beim Weg über die Gleise.
Polizisten helfen einer leichtverletzten Frau aus der verunglückten S-Bahn beim Weg über die Gleise. © ullstein bild | ullstein bild

Die fast einen Meter hohen Doppel-T-Träger bohren sich 15 Meter tief in den ersten Wagen der S-Bahn und löschen hier alles Leben aus. Auch das von Zugführer Willi Nebe, wie die Bergedorfer Zeitung am nächsten Tag berichtet. Mit ihm sind 25 Menschen sofort tot, viele von ihnen so verstümmelt, dass die Identifizierung Tage dauert.

20 Schwerverletzte liegen auch nach Wochen noch in den Kliniken

Eine Zahl, die sich in den Wochen danach noch auf 28 erhöht. Hinzu kommen 150 Verletzte, denn fast niemand im Zug übersteht diese Katastrophe unversehrt. Auch drei Wochen nach dem Unglück liegen 20 Schwerverletzte noch immer in den Kliniken.

Blick ins Innere des völlig zerstörten ersten Wagons der S-Bahn,  die mit etwa 150 Fahrgästen auf dem Weg nach Bergedorf ist. Die Eisenträger durchschlagen die Zugführer-Kabine und bohren sich bis tief in den Fahrgastbereich.
Blick ins Innere des völlig zerstörten ersten Wagons der S-Bahn, die mit etwa 150 Fahrgästen auf dem Weg nach Bergedorf ist. Die Eisenträger durchschlagen die Zugführer-Kabine und bohren sich bis tief in den Fahrgastbereich. © ullstein bild | ullstein bild

Besonders schnelle Hilfe kommt schon Minuten nach dem Unglück von den Ärzten des nahen Krankenhauses St. Georg: Neben unzähligen weiteren Einsatzkräften laufen sie teils zu Fuß zur Unglücksstelle. „Ihr rechtzeitiges Eintreffen rettete mindestens sechs Menschen das Leben, die an Ort und Stelle operiert wurden“, berichtet unsere Zeitung am 7. Oktober 1961. „Weiteren vier Fahrgästen konnte durch schnelle Bluttransfusionen in den Wagen der S-Bahn ebenfalls das Leben gerettet werden.“

Reporter berichtet von „gellenden Schreien“ aus der zerstörten S-Bahn

Es seien sogar „mehr Ärzte zur Stelle, als notwendig gewesen wären“, berichtet der Klinik-Chef von St. Georg. Dennoch wird die Unglücksstelle zur „Stätte des Grauens“, wie alle Zeitungen am nächsten Morgen titeln. Auch unser Reporter ist 25 Minuten nach dem Unglück vor Ort: „Es gellten Schreie und Wimmern durch den total zerstörten ersten S-Bahnwagen. Immer wieder die Rufe: ,Wann kommt endlich ein Arzt?‘“

„Berliner Tor: Stätte des Grauens – Hamburgs schwerste S-Bahnkatastrophe“. Die Titelseite der Bergedorfer Zeitung vom Freitag, 6. Oktober 1961.
„Berliner Tor: Stätte des Grauens – Hamburgs schwerste S-Bahnkatastrophe“. Die Titelseite der Bergedorfer Zeitung vom Freitag, 6. Oktober 1961. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Er trifft einen Augenzeugen, der im letzten Wagen sitzt. Der Reinbeker berichtet: „Plötzlich gab es einen fürchterlichen Ruck, ich prallte auf einen neben mir sitzenden und wir verletzten uns beide. Das Licht fiel aus, es war stockdunkel. Alles schrie und weinte. Überall blutende Menschen. Wir beruhigten die weinenden Frauen. Und dann war auch schon die Luft erfüllt vom Heulen der Martinshörner. Ein Heer von Helfern strömte herbei. Überall flammten Scheinwerfer auf, Seile führten uns in die Krankenwagen.“

Hamburg ordnet Halbmastbeflaggung auf allen öffentlichen Gebäuden an

Das Unglück ist in den nächsten Tagen Thema in ganz Deutschland und darüber hinaus. Von überall gehen Beileidstelegramme in Hamburg ein, Bürgermeister Paul Nevermann ordnet Halbmast-Beflaggung auf allen öffentlichen Gebäuden an. Und die Bergedorfer Zeitung veröffentlicht die Namen aller Toten und der in den Kliniken der Stadt liegenden Verletzten. Demnach sind die Opfer zwischen 16 und 63 Jahren und stammen fast ausschließlich aus Bergedorf und Umgebung.

Auch wenn dieses schreckliche Unglück einen langen Schatten auf die Sicherheit des Bahnverkehrs wirft: Wirklich lebensgefährlich ist der Straßenverkehr, vor allem für Fußgänger. Fast wöchentlich berichtet die Bergedorfer Zeitung in den 50er-Jahren über tödliche Unfälle durch die rasant wachsende Blechlawine. Und auch am 31. Januar 1961 heißt es wieder: „Fußgänger sind kein Freiwild!“

Für Fußgänger werden Tunnel statt Zebrastreifen auf der Schnellstraße B5 gefordert

Die Lösung sind nach Überzeugung unserer Zeitung aber nicht etwa die neuerdings aufgestellten Fußgängerampeln oder aufgemalte Zebrastreifen, sondern gleich Fußgängertunnel. Nach dem Vorbild der damals schon existierenden Unterführung der Schnellstraße B5 am Langberg in Boberg wird gefordert, solche Querungen auch im Bergedorfer Zentrum zu bauen. Vor allem beiderseits der Bahnunterführung, wo es sehr häufig zu tödlichen Unfällen kommt.

Unfälle, wie hier am Brookdeich, gibt es durch den stark angewachsenen Verkehr täglich: neben der Schnellstraße auch auf den engen, oft gleichzeitig von Autos, Fußgängern und Radfahrern genutzten Straßen Bergedorfs.
Unfälle, wie hier am Brookdeich, gibt es durch den stark angewachsenen Verkehr täglich: neben der Schnellstraße auch auf den engen, oft gleichzeitig von Autos, Fußgängern und Radfahrern genutzten Straßen Bergedorfs. © Klebe

Als Schuldige gelten gewöhnlich die unbedarft auf die Straße tretenden Passanten. Fazit unserer Zeitung: „Wenn man sich den Straßenbau und die Verkehrsverhältnisse im Stadtkern von Bergedorf-Lohbrügge ansieht, dann muss man schon sagen: Um die Fußgänger wird am meisten Wirbel gemacht, aber es wird am wenigsten für sie getan.“

Fußgänger werden in den 60er-Jahren der autogerechten Stadt untergeordnet

Dass sie auch in den 60er-Jahren weiter dem Primat der autogerechten Stadt untergeordnet werden, zeigen die anderen verkehrspolitischen Themen des Jahres 1961. So sollen die Häuser an der Wentorfer Straße abgerissen werden, um diese vierspurig auszubauen. Gleiches gilt für die Holtenklinker Straße Richtung Geesthacht, wäre das doch die logische Weiterführung der vierspurigen Durchbruchstraße, für die in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre die historische Bergedorfer Vorstadt abgerissen worden war.

Blick auf die Kreuzung Mohnhof im Sommer 1961. In der Bildunterschrift heißt es, die Verbreiterung von Wentorfer Straße (hinten) und Holtenklinker Straße (rechts) seien unumgänglich. Auch weil die „moderne Verkehrsführung“, die hier in Form der Bergedorfer Durchbruchstraße vierspurig aus Hamburg ankommt, weitergeführt werden müsse.
Blick auf die Kreuzung Mohnhof im Sommer 1961. In der Bildunterschrift heißt es, die Verbreiterung von Wentorfer Straße (hinten) und Holtenklinker Straße (rechts) seien unumgänglich. Auch weil die „moderne Verkehrsführung“, die hier in Form der Bergedorfer Durchbruchstraße vierspurig aus Hamburg ankommt, weitergeführt werden müsse. © bgz | Egon Klebe

Doch jetzt regt sich erbitterter Widerstand. Anwohnerversammlungen locken Hunderte Teilnehmer. Ihre einhellige Forderung „Lasst die Häuser stehen!“ taucht immer wieder in der Bergedorfer Zeitung auf. Am 15. Februar 1961 heißt es: „Wir wollen nicht weiter mit ansehen, wie ganze Straßenzüge Bergedorfs niedergerissen werden, nur um einer zweifelhaften Verkehrsplanung den Weg zu ebnen. Man sehe sich andere Städte wie Stade und Lüneburg an. Dort wird der Straßenverkehr um die Städte herumgeführt, dort werden keine Wohnhäuser niedergerissen, dort würde es niemand wagen, auch nur eine Hand an die Häuser zu legen.“

Verkehrsministerium erteilt Forderung nach Umgehungsstraße eine Absage

Doch der Bau der sogenannten Marschenstraße, der heutigen A25, sollte noch bis in die 80er-Jahre ein frommer Wunsch bleiben. Nach einem Besuch unserer Redaktion im Bundesverkehrsministerium in Bonn schreiben wir am 1. Juli 1961: „Nach den Worten des zuständigen Ministerialreferenten Dr. Ilsemann ist an einer Verbreiterung der Bundesstraßen 207 (Wentorfer Straße) und 5 (Holtenklinker Straße) ohnehin nichts zu ändern. Damit müsse sich die Minderheit gegenüber dem steigenden Verkehrsvolumen abfinden.“

Der wirkliche Hintergrund ist ein Tauziehen um die Kosten der Marschenstraße. Denn Bonn wertet sie als Stadtautobahn, die Hamburg komplett zu finanzieren hätte. In der Hansestadt würde man sie dagegen lieber als Teil des Bundesautobahnnetzes sehen. Doch dafür müsste erst das knapp 14 Kilometer kurze Verbindungsstück der Autobahnen Hamburg-Lübeck und Hamburg-Bremen A1 fertig sein. Das befindet sich zwar schon seit 1959 im Bau, sollte aber samt seiner markanten Norderelbbrücke nicht vor Herbst 1963 fertig sein.

Bau der A1 am Rand des Bezirks Bergedorf ist teuerstes Autobahnprojekt Deutschlands

Das Großprojekt füllt 1961 mehrere Sonderseiten unserer Zeitung. So rechnen wir am 3. Juni aus, dass diese insgesamt mindestens 132 Millionen Mark teure Verbindung der Autobahnen nach Norden und Süden nicht nur den durch Hamburgs City fließenden Verkehr maßgeblich reduziert. Vielmehr handelt es sich um das teuerste Projekt des bundesdeutschen Straßenbaus. Die Schlagzeile dazu lautet: „Über zehn Millionen Mark für einen Kilometer“.

Am 3. Juni 1961 berichtet die Bergedorfer Zeitung auf einer Sonderseite über den Bau des wohl teuersten Autobahnabschnitts der Bundesrepublik. Überschrift: „Über zehn Millionen Mark für eine Kilometer“.
Am 3. Juni 1961 berichtet die Bergedorfer Zeitung auf einer Sonderseite über den Bau des wohl teuersten Autobahnabschnitts der Bundesrepublik. Überschrift: „Über zehn Millionen Mark für eine Kilometer“. © bgz | BGZ

Allein die Norderelbbrücke kostet mit ihren 65 Meter hohen Pylonen und einer Gesamtlänge von 411 Metern 13 Millionen Mark. Der Sand für ihre Rampen und die erforderliche Auskofferung des weichen Marschbodens kommt neben der Boberger Niederung zu großen Teilen aus Billwerder, wo so direkt neben der Dove-Elbe der Eichbaumsee entsteht.

Unsere Zeitung wettert gegen Ampel auf B5: Schnellstraße wird „Stotterverbindung“

Ein Ärgernis für die Bergedorfer ist neben der Tatsache, dass die erhoffte Marschenstraße nicht gleichzeitig entsteht, die Autobahn-Querung der B5. Zwar wird die junge Schnellstraße zwischen Bergedorf und Hamburg über eine Brücke geführt, doch die soll für den Anschluss zur A1 eine Ampelanlage erhalten. Die Sorge unserer Zeitung am 15. Juli 1961: „Wird die Schnellstraße zu einer ,Stotterverbindung‘?“

Trauer über die unaufhaltsame Dominanz des Straßenverkehrs trägt derweil der letzte Passagier-Dampfer „Hugo Basedow“, dessen gleichnamige Reederei seit Jahrhunderten Lauenburg und Geesthacht über die Elbe direkt mit dem Hamburger Zentrum verbinden. „Wir sprachen heute Morgen mit Hugo Basedow“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 9. September 1961. „Ich kann jetzt nicht mehr weiter“, zitieren wir den Lauenburger. „So weh es mir selbst tun wird, wenn ich die vor über hundert Jahren von meinen Vorfahren gegründete Lauenburger Dampfschifflinie einstellen muss. Diese Verluste (1960 über 20.000 Mark, in diesem Jahr etwa 35.000 Mark!) kann die Firma einfach nicht mehr tragen.“

1961 stürmt der Unternehmer Kurt A. Körber die ganz große Bühne

In Bergedorf startet derweil eine ganz andere Persönlichkeit ihren gesellschaftlichen Siegeszug: Kurt A. Körber, der als ehemaliger Technischer Direktor des Maschinenbauers Dresdner Universelle mit erst 37 Jahren, etlichen Patenten und viel Unternehmergeist 1946 am Weidenbaumsweg die Hamburger Universelle, kurz Hauni, gegründet hat, betritt das Parkett.

Der Unternehmer und Gründer der Hauni in Bergedorf, Kurt A. Körber, im Jahr 1961.
Der Unternehmer und Gründer der Hauni in Bergedorf, Kurt A. Körber, im Jahr 1961. © BGZ

Sein Unternehmen ist rasant gewachsen, zählt 1961 bereits 2000 Mitarbeiter und ist zum Weltmarktführer für Zigarettenmaschinen geworden. Fast alle großen Tabak-Konzerne bestellen ihre Technik in Bergedorf, was beim Raucher-Boom der Nachkriegszeit Millionen-Gewinne in Körbers Kassen spült. Aber wem gehören die satten Überschüsse eigentlich?

Stiftung verlieh dem Firmenleiter Kurt A. Körber den Glanz eines Philanthropen

Körber entscheidet sich gegen regelmäßige Ausschüttungen an seine Mitarbeiter und für die Gründung einer Stiftung, die einerseits die Ausbildung seiner Nachwuchs-Ingenieure am sogenannten Tabak-Technikum sichert und letztlich zum Bau der heutigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Lohbrügge führt. Andererseits schuf diese später in Körber-Stiftung umbenannte Institution die Basis, sich als Förderer von Kultur und Wissenschaft nicht zuletzt auch selbst zu inszenieren.

So ließ er das bloße Bild eines Firmenleiters hinter sich und wird zum Philanthrop, einem Menschenfreund, der nicht an sich und schon gar nicht an Gewinne denkt. Er gründet unter anderem den Bergedorfer Gesprächskreis, der internationale Prominenz aus Politik, Wissenschaft und Kultur nach Bergdorf holt – und präsentiert sich als visionärer Unternehmer.

Am 14. Dezember 1961 wird ein gewisser Helmut Schmidt Hamburgs Innensenator

Die Bergedorfer Zeitung zitiert ihn anlässlich der Abschlussfeier des ersten Ingenieur-Jahrgangs, der sein Tabak-Technikum 1961 verlässt, am 18. Februar so: „Nicht das Kapital ist heute entscheidend, es kommt in weit größerem Maße auf das Potenzial der geistigen Kräfte an, die mit neuen Ideen und echtem Leistungswissen das Bild der Zukunft prägen.“

Innensenator Helmut Schmidt als Krisenmanager der Sturmflut 1962 in einem Bundeswehr-Hubschrauber.
Innensenator Helmut Schmidt als Krisenmanager der Sturmflut 1962 in einem Bundeswehr-Hubschrauber. © Hamburg | Hamburger Abendblatt

Neben Körber betritt 1961 auch ein anderer Protagonist der folgenden Jahrzehnte der Bundesrepublik die Bühne: Am 14. Dezember meldet unsere Zeitung unter dem Titel „Vier neue Senatoren gewählt“ den Amtsantritt von Helmut Schmidt als Innensenator. Er sollte schon zwei Monate später bei der großen Flutkatastrophe mit über 300 Toten in Hamburg seine Bewährungsprobe bekommen – und mit seinem unkonventionell-zupackenden Führungsstil die Herzen der Deutschen erobern.

Lichtarkhaus wird im November 1961 eingeweiht – doch es fehlt der große Saal

Die Flut beschert Bergedorf indes auf ganz andere Weise ein großes Desaster. Denn sie reißt ihrem seit 1958 im Bau befindlichen, seit Jahrzehnten ersehnten Kulturpalast buchstäblich den Kopf ab. Denn das Lichtwarkhaus, Vorgänger des heutigen Körberhauses, das am 8. November 1961 feierlich eingeweiht wird, ist eigentlich nur der erste Bauabschnitt. Was fehlt, sind die im zweiten Bauabschnitt geplanten Räume für die Volkshochschule (VHS), die für die Bücherhalle – und vor allem der große Festsaal.

Modell des Lichtwarkhauses aus dem Jahr 1960. Realisiert wird nur der erste Bauabschnitt mit dem rechten Gebäudeteil. Nicht realisiert wird der gesamte linke Komplex rund um den Theatersaal für 600 Personen. Und auch das im Modell hinten an der Bergedorfer Straße stehende Gebäude der Bücherhalle bleibt im Planungsstadium stecken.
Modell des Lichtwarkhauses aus dem Jahr 1960. Realisiert wird nur der erste Bauabschnitt mit dem rechten Gebäudeteil. Nicht realisiert wird der gesamte linke Komplex rund um den Theatersaal für 600 Personen. Und auch das im Modell hinten an der Bergedorfer Straße stehende Gebäude der Bücherhalle bleibt im Planungsstadium stecken. © Bergedorf-Museum | Bergedorf-Museum

Der eingeweihte erste Bauabschnitt ist mit seinem Haus der Jugend und dem Seniorentreff eigentlich kaum mehr, als das Foyer. Denn dahinter, auf dem heutigen Areal des H4-Hotels, ist ein großer Festsaal für 600 Personen mit aufwendiger Bühne und die „Halle der Begegnung“ für großzügige Ausstellungen vorgesehen. Hinzu kommen VHS und Bücherhalle sowie eine Sporthalle.

Im Herbst 1961 ist Hamburgs Bürgermeister Paul Nevermann Dauergast in Bergedorf

Doch dieses Zeichen der Bergedorfer Eigenständigkeit sollte nie gebaut werden. Hat Hamburgs Bürgermeister Paul Nevermann den Schlüssel laut unserer Zeitung vom 8. November noch mit den Worten „Hamburg ist viel zu groß, um nur zentralistisch leben zu können“ übergeben, ist er es, der in Folge der Flutkatastrophe und des Wiederaufbaus alle Haushaltsmittel streicht. Dabei sind die für den zweiten Bauabschnitt längst bewilligt.

Herbst 1961: Das Lichtwarkhaus kurz vor seiner Einweihung.
Herbst 1961: Das Lichtwarkhaus kurz vor seiner Einweihung. © Bergedorf-Museum | Bergedorf-Museum

Im Herbst 1961 ist Nevermann übrigens Dauergast in Bergedorf: Schon am 28. Oktober legt er den Grundstein für das neue Hallenbad, um das Bergedorfs traditionsreiche Flussbadeanstalt am Reetwerder, das Bille-Bad, erweitert wird. Das 4,25-Millionen-Mark-Projekt gerät zwar auch in den Sog der Flutkatastrophe, kann mit zwei Jahren Verspätung aber immerhin 1965 in Betrieb gehen.

Grundstein für Lohbrügge-Nord und ihre bis zu 20.000 Einwohner gelegt

Doch zurück zum Lichtwarkhaus: Nur einen Tag nach seiner Einweihung ist Bürgermeister Paul Nevermann schon wieder im Bezirk – jetzt in Lohbrügge oder besser gesagt auf seinen traditionellen Feldern zwischen dem alten Dorfkern an der Ecke Leuschnerstraße/Binnenfeldredder und Reinbek. Denn hier legt er den Grundstein für eine „Vorbildliche Musterstadt, in der sich jeder glücklich fühlen soll“, wie die Bergedorfer Zeitung am 9. November über einer Sonderseite titelt.

Im Jahr 1964 können tatsächlich die ersten Häuser von Lohbrügge-Nord bezogen werden.
Im Jahr 1964 können tatsächlich die ersten Häuser von Lohbrügge-Nord bezogen werden. © Archiv Kultur- & Geschichtskontor

Insgesamt 4600 Wohnungen in diversen Mehrfamilienhäusern und mehreren Hochhäusern mit 13 Geschossen sowie 1150 Eigenheime sollen hier entstehen, die sich auf 440 Reihen- und 710 Einfamilienhäuser verteilen. Das erste Richtfest soll schon 1963 erfolgen und bis Ende des Jahrzehnts alle bis zu 20.000 Bewohner eingezogen sein.

„Eine Groß-Siedlung, die auch in 50 Jahren noch modern sein wird“

Unsere Zeitung feiert Lohbrügge-Nord schon am 2. November als „eine der modernsten Groß-Siedlungen der Gegenwart. Ein Wohngebiet, das – wie uns Architekten und Techniker schon jetzt versichern – auch in 50 Jahren noch modern sein wird und beispielhaft für weitere Bauvorhaben im norddeutschen Raum sein soll.“

Blick auf Bergedorfs neu entstehenden Stadtteil, die „Musterstadt“ Lohbrügge-Nord um 1966.
Blick auf Bergedorfs neu entstehenden Stadtteil, die „Musterstadt“ Lohbrügge-Nord um 1966. © Museum für Bergedorf und die Vie

Auch Bürgermeister Nevermann ist begeistert: „Was hier entsteht, ist eine bis ins Letzte durchdachte Stadtlandschaft“, erinnert er in seiner Ansprache bei der Grundsteinlegung am 9. November an die ebenfalls geplanten Schulen, Kitas, Einkaufszentren, den Jugendclub und nicht zuletzt die beiden Kirchen. „In Lohbrügge wird offenbar werden, dass man sich auch in einer Millionenstadt im tiefsten Sinne des Wortes zuhause fühlen kann.“

1961 gibt es erstmals kein Bergedorfer Heimatfest mehr

Cäsar Meister, Chef der Wohnungsbaugenossenschaft Bergedorf-Bille, die das Großprojekt als einer der Juniorpartner des federführenden Konzerns „Neue Heimat“ mit erbaut, erinnert an die auch 16 Jahren nach dem Krieg noch immer bestehende Wohnungsnot: „Ich wünsche mir, dass viele wohnungssuchende Familien aus dem Bezirk Bergedorf in dem neuen Stadtteil endlich eine gute Wohnung bekommen können.“

Großer Aufmarsch auch im Sachsentor: Das Bergedorfer Heimatfest wird seit 1951 gefeiert – gewöhnlich als komplette Heimatwoche mit Umzügen, Festen und mindestens einer Großveranstaltung im Billtal-Stadion.
Großer Aufmarsch auch im Sachsentor: Das Bergedorfer Heimatfest wird seit 1951 gefeiert – gewöhnlich als komplette Heimatwoche mit Umzügen, Festen und mindestens einer Großveranstaltung im Billtal-Stadion. © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtskontor

Das Heimatgefühl indes ist am Anfang der 60er-Jahre längst unter die Räder des Wirtschaftswunders gekommen. Jeder ist sich nurmehr selbst der Nächste, beklagt jedenfalls der renommierte Grafiker und prominente Künstler Bruno Karberg am 1. Juli 1961 in einem Gastbeitrag in unserer Zeitung. „In unseren Herzen ist keine Heimat mehr“, lautet die Überschrift, unter der er das erstmalige Ausfallen des einst rauschenden Heimatfestes anprangert.

Droht dem Billtal-Stadion eine Zukunft als Freilicht-Museum?

Tatsächlich sind diese für die Integration von Zehntausenden Flüchtlingen in Bergedorf so wichtigen Großveranstaltungen nur zehn Jahre nach ihrer Premiere 1951 ein Auslaufmodell. Ebenso verwaist ihr Schauplatz, das 1950 eingeweihte Billtal-Stadion – auch weil ihm ein Rasenplatz für die Austragung der großen Fußballspiele des ASV Bergedorf 85 fehlt. „Wird das Billtal-Stadion ein Freilichtmuseum?“, steht am 8. August 1961 über einem Artikel unserer Zeitung, denn „die schönste Sportanlage unseres Heimatgebietes verödet“.

Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht (l.), auf der internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 im Haus der Ministerien in Ost-Berlin. Hier fällt sein berühmter Satz „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, der nur wenige Wochen später durch den tatsächlichen Mauerbau widerlegt wird.
Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht (l.), auf der internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 im Haus der Ministerien in Ost-Berlin. Hier fällt sein berühmter Satz „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, der nur wenige Wochen später durch den tatsächlichen Mauerbau widerlegt wird. © picture alliance / Günter Bratke | dpa Picture-Alliance / Günter Bratke

Dabei ist es gerade im Jahr 1961 in der jungen Bundesrepublik wichtig, dass ihre Bürger sich zu ihren Werten bekennen und gemeinsam für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie eintreten. Denn international wütet der Kalte Krieg und der erreicht am 13. August mitten in Berlin eine neue Eskalationsstufe: DDR-Staatschef Walter Ulbricht ordnete den Mauerbau an.

DDR-Statschef Walter Ulbricht ordnet Bau der Berliner Mauer an

Auf der Titelseite der Bergedorfer Zeitung spiegelt sich jetzt die akute Gefahr eines Dritten Weltkriegs wider. Zeilen wie „Der Weg nach Westberlin ist abgeriegelt“ oder „Berliner erwarten Aktionen“ bekommen Unterzeilen wie „Adenauer und Brandt mahnen zur Ruhe“. Denn der erst im Januar vereidigte junge US-Präsident John F. Kennedy hat bereits im Juli der UdSSR und ihrem Regierungschef Nikita Chruschtschow mit Krieg gedroht.

Konfrontation an der Berliner Sektorengrenze auf der Friedrichstraße, dem „Checkpoint Charlie“: Am 27. Oktober 1961 stehen sich sowjetische (hinten) und amerikanische Panzer (vorn) gegenüber.
Konfrontation an der Berliner Sektorengrenze auf der Friedrichstraße, dem „Checkpoint Charlie“: Am 27. Oktober 1961 stehen sich sowjetische (hinten) und amerikanische Panzer (vorn) gegenüber. © picture-alliance / dpa/dpaweb | UPI

Tatsächlich schaukelt sich die Lage immer weiter auf, bis die Bergedorfer am Wochenende 28./29. Oktober die Schlagzeile „Sowjet- und US-Panzer stehen sich gegenüber“ aus Berlin in unserer Zeitung lesen. Doch wie durch ein Wunder fällt kein Schuss. Beide Seiten ziehen sich zurück und scheinen sich geschworen zu haben, es nie wieder zu einer solchen direkten Konfrontation kommen zu lassen.

Israel macht dem untergetauchten Nazi Adolf Eichmann den Prozess

Ein Husarenstück liefert derweil Israel ab: Seinem Geheimdienst ist es bereits im Mai 1960 gelungen, den in Argentinien untergetauchten Nazi Adolf Eichmann aufzuspüren und nach Israel zu entführen. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wird dem Organisator des Massenmords an den Juden im Dritten Reich 1961 vor den Augen der internationalen Presse in Jerusalem der Prozess gemacht.

Am 15. Dezember fällt das Urteil: Der 55-Jährige wird zum Tode verurteilt. Was unsere Zeitung schon am 12. April 1961 mit der Schlagzeile „Eichmann droht der Tod am Galgen“ auf der Titelseite vermutet hat, wird Wirklichkeit: Der Mann, der für Hitler den Tod und die Deportation von Millionen Juden organisiert hat, stirbt am 1. Juni 1962 durch den Strick.

Nach grauenvollem S-Bahn-Unglück: Fahrdienstleiter steht vor dem Richter

Auch das grauenvolle Unglück der Bergedorfer S-Bahn vom 5. Oktober 1961 zieht natürlich Ermittlungen nach sich: Wie konnte es passieren, dass der 57-jährige Fahrdienstleiter dem Unglückszug am Berliner Tor grünes Licht gab, ohne dass eine automatische Sicherung den tödlichen Zusammenprall verhinderte?

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Tatsächlich muss die Bundesbahn-Direktion einräumen, dass es die für den Arbeitszug erforderliche „Selbstblock-Sicherung“ längst gab. Wie unsere Zeitung am 10. Oktober berichtet, sei deren Einbau zwar auf allen Strecken der Hamburger S-Bahn geplant – nur bisher nicht auf der jüngsten Richtung Bergedorf. „Die Verkehrsdichte der Unglücksstrecke nach Bergdorf sei jedoch geringer als auf den übrigen des S-Bahnnetzes der Hansestadt. Deshalb sei der Einbau bisher nicht vorgenommen worden.“

Dem Fahrdienstleiter, der von Anfang an alle Schuld auf sich genommen hat, wird 1963 schließlich wegen fahrlässiger Tötung in 28 Fällen, fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Transportgefährdung der Prozess gemacht. Das Gericht glaubt ihm, dass er in der Unglücksnacht durch andere Arbeiten abgelenkt war und den Arbeitszug auf dem S-Bahngleis schlicht vergessen hatte. Das Urteil für den verzweifelten Mann, der bis dahin nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, lautet ein Jahr Gefängnis auf Bewährung.