Hamburg. 1956 begann der Ausbau der Zugstrecke in die City. Die Dampfloks seiner BGE hatte Bergedorf da gerade verloren – und die VHH gewonnen.
Die Eisenbahn war einmal ein Symbol für den Fortschritt. Für Freiheit, Mobilität und eine kleiner werdende Welt. Doch Freunde des Schienenverkehrs mussten immer auch Rückschläge hinnehmen. So markierte das Jahr 1956 die endgültige Übergabe der Bahngleise der ehrwürdigen Bergedorf-Geesthacher Eisenbahn (BGE) an die Altona-Kaltenkirchen-Neumünster Eisenbahn (AKN). Es war der Schlusspunkt im eigentlich schon Jahre vorher erfolgten Ende des Personenverkehrs auf der BGE-Strecke. Als sich das Jahr 1956 dem Ende zuneigte, erfolgte dafür der heiß ersehnte Spatenstich für die elektrifizierte S-Bahnstrecke zwischen Bergedorf und der Hamburger Innenstadt.
Schon im April 1954 war die eigentliche Firma BGE mit den Verkehrsbetrieben des Kreises Stormarn vereinigt und in Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) umbenannt worden. Unter diesem Namen ist das Unternehmen bis heute für einen Teil des Busverkehrs im Großraum Hamburg zuständig. Unter der Überschrift „VHH nur noch reiner Busbetrieb?“ kündigte unser Blatt dann die Abgabe des Eisenbahnbetriebs an die AKN am 17. November 1955 an.
1956: Bau der elektrifizierten S-Bahnlinie zwischen Bergedorf und Hamburg beginnt
Am 25. Januar 1956 fiel die endgültige Entscheidung durch den Hamburger Senat. „Reiner Tisch zwischen VHH und AKN“, heißt es in der Bergedorfer Zeitung am folgenden Tag. Der „Eisenbahngüterverkehr habe zu hohen Verlusten geführt. Für den Fortbestand dieses Betriebszweigs musste der Hamburger Staat zwischen 1952 und 1955 rund 2,6 Mill. Mark an Zuschüssen aufwenden“, so der Artikel. Endgültig wurde der Vertrag am 6. Juni geschlossen Er galt rückwirkend ab 1. Januar 1956. Dies beschreibt Stefan Meyer in seinem Buch „100 Jahre Eisenbahn zwischen Bergedorf und Geesthacht“.
Anfang des 20. Jahrhunderts war die BGE eine wichtige Verbindungslinie, besonders für die von Alfred Nobel gegründete Dynamitfabrik in Krümmel bei Geesthacht und die Pulverfabrik von Düneberg. Güterwaggons brachten die explosiven Produkte zum Weitertransport in die große Hansestadt. Wie Buchautor Meyer schildert, pendelten gleichzeitig zahlreiche Hamburger Arbeiter aus der Metropole ins beschauliche Lauenburgische, um in der riesigen Fabrik zu arbeiten.
Die besondere Beziehung zur Sprengstoffproduktion machte die BGE abhängig vom Verlauf der deutschen Geschichte. Während der beiden Weltkriege boomte die Bahn trotz Kohlenmangel und an der Front getöteter Lokführer. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war die Sprengstoffproduktion jedoch zunächst verboten, der Verkehr der BGE brach ein. Das wiederholte sich 1945, die Dynamit AG wurde geschlossen. Nun pendelten die Geesthachter auf einmal nach Hamburg.
Zusätzlich zu der schwierigen wirtschaftlichen Situation nach dem Ende des Krieges wuchs die Konkurrenz durch Busse sowie jetzt auch Lastwagen und Privat-Pkw. Die Fahrgastzahlen sanken, die BGE schrieb Anfang der 50er-Jahre knallrote Zahlen. Zunächst wurden mehrere Bahnlinien stillgelegt. Außerdem weigerte sich das neue Bundesland Schleswig-Holstein laut Autor Meyer, einen Teil der Verluste mitzutragen. Der Hamburger Senat beschloss schließlich, dass sich die Betriebe auf ein Kerngeschäft konzentrieren sollten. Die AKN legte ihre Busflotte lahm, die BGE stellte dafür ihren Bahnbetrieb ein. Der Personenverkehr auf den Gleisen der BGE endete am 26. Oktober 1953.
Die Bergedorfer richteten ihren Blick derweil in Richtung Hamburg und verfolgten den steinigen Weg zur „Elektrifizierung“, dem Anschluss an das S-Bahnnetz der Hansestadt. Jahrelang hatte sich die Bundesbahn gesträubt, „die Unsumme von 25 Millionen für eine reine Stadtbahn auszugeben“, wie die Bergedorfer Zeitung am 20. November 1955 berichtete. Am 30. November verkündete die Zeitung bereits auf der Titelseite „Elektrifizierung beginnt Anfang Januar 1956“. Ganz so schnell sollte es dann aber doch nicht gehen.
Denn erst am 18. Januar 1956 kam das „Ja“ aus dem Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn. Am 9. Februar schrieb die Bergedorfer Zeitung, dass die Hamburger Bürgerschaft der Bundesbahn 12,5 Millionen Mark Darlehen für die Elektrifizierung bewilligt hatte. Am 21. April war der Vertrag zwischen Hansestadt und Bahn immer noch nicht unterzeichnet. Die Redakteure entlockten der Bahn aber die Zusage, dass die S-Bahnlinie bis 1958 in Betrieb genommen werden sollte. Den Lesern wurden „breitere Einstiegsräume“ in Aussicht gestellt, damit „das elende Gequetsche rund um die Türen aufhört“.
Aussicht auf 100 Stundenkilometer schnelle Züge sorgt für Verzückung
Unter Dach und Fach war der Vertrag dann im Juli. Sofort nach der Unterzeichnung wolle die Bahn mit den Bauarbeiten beginnen, entnimmt man unserem Blatt und mit dem Tonfall von Eltern, die Kinder auf einer langen Bahnfahrt beruhigen wollen, heißt es: „Es kann nicht mehr lange dauern.“ Genau wie so manch ungeduldiger Nachwuchs fanden die Bergedorfer jedoch heraus, dass bei solchen Beschwichtigungen Enttäuschungen vorprogrammiert sind.
Die nächste hoffnungsvolle Meldung findet sich am 4. Oktober mit dem Titel „Bald Baubeginn der S-Bahn?“. Der Redakteur bemüht den Blick auf längere Zeitskalen und größere Dramen: „Pläne über die Elektrifizierung hat es schon viele gegeben, aber immer kam etwas dazwischen, meistens ein Krieg.“ Kaum ein paar Tage später war es endlich so weit. Fast verstohlen legte die Bundesbahn am 8. Oktober los, allerdings nur mit vorbereitenden Arbeiten zwischen Rothenburgsort und Billwerder-Moorfleet.
Offiziell begann der Bau der S-Bahnstrecke für die Bergedorfer am 19. November. „Wir werden mit 100 km/st elektrisch fahren“, titelte die bz fast träumerisch bei der Ankündigung der Grundsteinlegung am Bergedorfer Bahnhof. Allerdings sollte die moderne Trasse nur bis Friedrichsruh reichen. Dort endete das Interesse der Hamburger Politik. Immerhin: Nach dem zähen Beginn sollte die Strecke tatsächlich wie angepeilt 1958 fertig werden.
Jürgen Kühls Weg zu den Olympischen Spielen in Melbourne
Ebenfalls gedulden mussten sich Bergedorfer Sportfans, bis sie ihrem Lokalmatador Jürgen Kühl bei den Olympischen Spielen zujubeln konnten. Denn 1956 fanden die Wettkämpfe erstmals auf der Südhalbkugel, im australischen Melbourne statt. Aufgrund der umgedrehten Jahreszeiten hieß dies: Sommerspiele erst ab November. Am 20. August konnte die bz den 400-Meter-Läufer Kühl schon auf der Titelseite feiern. Bei den deutschen Leichtathletikmeisterschaften in Berlin sprintete der Bergedorfer mit einer Zeit von 47,8 Sekunden Hamburger Rekord und die viertbeste Zeit des Wettbewerbs. „Ein Schneider nahm vorsorglich Maß für den Olympia-Anzug“, frohlockte unser Blatt.
Beim Leichtathletik-Länderkampf gegen Finnland unterlag Deutschland zwar dem kleinen Staat im Norden Europas. Kühl schaffte es jedoch über 400 Meter auf den vierten Platz und überragte vor allem in der deutschen 4x400-Meter-Staffel. „Diese Leistung könnte dazu beitragen, daß er doch wenigstens als Ersatzmann in die deutsche Olympia-Mannschaft berufen wird“, hoffte seine Heimatzeitung nun schon bescheidener. Die Konkurrenz war erheblich, schließlich trat Deutschland mit einem gemeinsamen Team aus Sportlern von BRD und DDR an.
Tatsächlich durfte der Bergedorfer die weite Reise ins ferne Australien antreten. Er scheiterte in Melbourne jedoch im Viertelfinale und landete dort nur auf Platz vier. Für die Bergedorfer Zeitung berichtete der Athlet in einer Kolumne von den Wettkämpfen. Am 28. November, als die bz sein Ausscheiden vermeldete, berichtete von einem Muskelfaserriss kurz vor Beginn der Spiele, schilderte aber auch begeistert die Atmosphäre im Olympischen Dorf, ungetrübt von den Spannungen des Kalten Krieges: „Bei lauter Musik werden Tischtenniswettkämpfe ausgetragen. Hier spielen Russen gegen die Amerikaner in guter Freundschaft, wie es eigentlich immer sein sollte.“
Trotz verfehlter Medaille: Bergedorf feiert 400-Meterläufer Kühl
In der Wochenendausgabe am 1. Dezember brachte die bz auf der Titelseite die enttäuschende Eilmeldung: Jürgen Kühl war mit der deutschen 400-Meter-Staffel nur auf den vierten Platz gelaufen. Dabei war es ausgerechnet Kühls Geburtstag, wie unsere Zeitung weiter hinten im Sportteil in einem vorab geschriebenen Artikel schilderte. Dort beschrieb die Lokalzeitung das Aufwachsen des kleinen Jürgen an der Holtenklinker Straße in Bergedorf. „Bescheiden, gut erzogen, ein Kamerad durch und durch“, sei der Sportler, der in seiner Jugend eine TBC-Erkrankung überwand.
Der Fortschritt nach den Zerstörungen der Kriegsjahre zeigte sich auch an anderer Stelle. Am 28. März schildert die Bergedorfer Zeitung die Grundsteinlegung für die Waldschule in Lohbrügge. „Die modernste und eine der schönsten Schulen Hamburgs“ sollte in den Lohbrügger Tannen entstehen. So zitiert die bz den damaligen Landesschulrat Ernst Matthewes. Umstritten sei es gewesen, die Schule in diesem Waldgebiet zu bauen, erinnerte sich unsere Zeitung. Doch das Wohl der Schüler, die am Binnenfeldredder unter engen Verhältnissen litten, wurde schlussendlich Priorität eingeräumt. 1957 sollte die heute als Stadtteilschule Richard-Linde-Weg bekannte Einrichtung fertig werden. Das in den 1950ern errichtete Gebäude musste allerdings bereits 2017 einem Neubau weichen.
Als Pioniere eines Zeitalters durften sich die Menschen im Bezirk zumindest beim Bezahlen der Stromrechnung fühlen. Seit dem 1. Januar zahlten ausgewählte Haushalte in Bergedorf und Lohbrügge ihre Stromrechnung nämlich monatlich anhand eines vorher ermittelten Durchschnittswerts. Bis dahin hatten die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) einmal im Monat einen Mitarbeiter zum Ablesen des Stromzählers vorbeigeschickt. Das Pilotprojekt war ein voller Erfolg, und am 4. Mai verkündete die Bergedorfer Zeitung: „Ab 1. Juli zahlen alle „bergedorferisch“. Alle Stromabnehmer im Bezirk wechselten als auf das heute übliche Verfahren. „Das „Bergedorfer Inkasso“ ist drauf und dran, die Welt zu erobern“, schrieb unsere Zeitung stolz. Sogar aus der Sowjetunion und aus Amerika habe es Anfragen zum Verfahren gegeben.
Wassergespülte Toiletten haben sich 1956 noch nicht in ganz Bergedorf durchgesetzt
Dass es noch viel zu tun gab, auf dem Weg in die Moderne, dürften die Leser beim täglichen Blick in bz dennoch gemerkt haben. Auch durch investigative Beiträge der Lokalreporter, die am 5. Oktober berichten konnten, dass noch immer 35 Haushalte in Bergedorf keine Wasserspülung an ihren Toiletten besaßen. Stattdessen verrichteten die betroffenen Bürger ihr Geschäft in mit Torf ausgekleidete Eimer, die dann in der Nähe der Rothenbaumchaussee in eine Grube entleert wurden.
Die Titelseiten der Bergedorfer Zeitung dominierten vor allem in der zweiten Jahreshälfte dramatische außenpolitische Ereignisse. Am 27. Juli titelte unser Blatt „General Nasser verstaatlicht den Suez-Kanal“. Bis dahin hatte die Suezkanal-Gesellschaft den wichtigen Wasserweg zwischen dem ägyptischen Festland und der Halbinsel Sinai kontrolliert. Die nominell ägyptische Aktiengesellschaft wurde mehrheitlich von England und Frankreich kontrolliert, bis Gamal Abdel Nasser, der Präsident des afrikanischen Landes, die Verstaatlichung verkündete.
In der Folge attackierte Israel in Absprache mit Großbritannien und Frankreich Ägypten, und unsere Zeitung berichtete: „Israelische Truppen in Ägypten einmarschiert“ (30. Oktober), „Luftangriffen auf Ägypten“ (1. November) oder „Fallschirmjäger landen in Ägypten“ (5. November). Auch der damals ägyptische Gazastreifen stand immer wieder im Fokus der militärischen Auseinandersetzung. Nachdem die USA und die Sowjetunion beide bei der UNO interveniert hatten, scheiterten die Verbündeten jedoch mit ihrem Plan, Staatschef Nasser zu stürzen. In der Lokalzeitung lasen die Bergedorfer am 6. November die Schlagzeile „Moskau droht mit Krieg“, die Furcht vor einem globalen Konflikt war spürbar.
Noch größere Bestürzung löste die Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes durch die Truppen der Sowjetunion aus. Am 23. Oktober hatten Aufständische die Einparteiendiktatur für beendet erklärt und den eigentlich schon pensionierten Imre Nagy erneut als Ministerpräsident eingesetzt. Im Rückblick wirkt es fast zynisch, dass die bz am 24. Oktober unter der Titelschlagzeile „Budapest im Aufstand“ noch titelt: „Imre Nagy ruft Sowjettruppen um Hilfe“. Nagy setzte sich in der Folge für die Demokratisierung Ungarns ein und erklärte den Austritt seines Landes aus dem Warschauer Pakt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im ersten Bericht unseres Blattes wirkt der Politiker jedoch noch als Verteidiger des Sowjetsozialismus.
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Nachdem die bz am 29. Oktober noch berichtete „Sowjets ziehen aus Budapest ab“, folgte schon am 2. November die Schlagzeile „Sowjetpanzer überfluten Ungarn“. Das Ende des Aufstands war gekommen. „Der Sklavenhalter Moskau ertränkt den heldenhaften Freiheitskampfes eines Volkes in Blut“ schilderte ein Bericht die Ereignisse der folgenden Tage in der Bergedorfer Zeitung und spricht von einem „brutalen Unterjochungskrieg.“ Kaum vorstellbar schien es zu diesem Zeitpunkt, dass das Regime des neu von den Sowjets eingesetzten János Kádár in den 60ern und 70ern für den verhältnismäßig liberalen „Gulaschkommunismus“ bekannt werden sollte.
Und die Eisenbahnstrecke zwischen Bergedorf und Geesthacht? Die soll nach dem Willen der Politik perspektivisch wieder in Betrieb genommen werden. Im Oktober dieses Jahres stimmten die Politiker der Hamburgischen Bürgerschaft geschlossen dafür. Damit würde Geesthacht endlich wieder ans Schienennetz angeschlossen werden. Der Fortschritt ist schließlich nicht aufzuhalten.