Bergedorf. 1950 bauen sich die Bergedorfer eine Zukunft auf. Trotz fragwürdiger Entnazifizierung und Angst vor einem Dritten Weltkrieg.
Das neue Jahrzehnt wirkt auf die Bergedorfer wie eine Befreiung: Endlich kann man die hässlichen Schatten von Krieg und Nazi-Terror hinter sich lassen und an einer neuen Zukunft arbeiten. Der Sprung in die 1950er-Jahre markiert eine Aufbruchstimmung, die in Bergedorf vor allem der Bau des Billtalstadions symbolisiert: Ein eindrucksvoller Ort, seit März 1949 in nur eineinhalb Jahren durch ein riesiges Arbeitsbeschaffungsprojekt von Hunderten Arbeitern errichtet, der zum neuen sportlich-kulturellen Herz des jungen Bezirks werden sollte.
Tatsächlich lockt schon die Eröffnungsfeier am 2. und 3. September 1950 neben den über Tausend Mitwirkenden an beiden Tagen auch Zehntausende Besucher. Allerdings überdeckt die Aufbruchstimmung manche aus den 1940er-Jahren mitgebrachten Sorgen. So führen die Massen von Heimatvertriebenen überall zu Engpässen im Bergedorfer Alltag, vor allem in Sachen Wohnungsnot. Gleichzeitig bahnt sich im fernen Korea ein militärischer Konflikt an, der das Zeug zum Dritten Weltkrieg hat. Und nicht zuletzt hat die eher halbherzige Entnazifizierung etliche glühende Hitler-Verehrer in die Spießbürgerlichkeit der jungen Bundesrepublik abtauchen lassen.
150 Jahre bz: Rückblick auf Eröffnung des Billtalstadions
So ist die neue Gesellschaft zwar in kollektiver Aufbruchstimmung, doch nur fünf Jahre nach Hitlers Sturz sind viele seiner Schatten noch da. Denn mit Ausnahme der führenden Köpfe des Nazi-Regimes waren fast alle Mitläufer, teils sogar Mitglieder von SS, SA, Gestapo und anderen NS-Institutionen ungestraft davongekommen. Viele saßen 1950 längst wieder auf ihren alten Posten. Das galt in Bergedorf selbst für die eigentlich von den englischen Besatzungstruppen komplett durchleuchtete Verwaltung.
Wie Susanne Falkenhof vom Kultur- & Geschichtskontor in „Die Stunde Null“ schreibt, waren zwar zunächst alle Mitarbeiter mit NSDAP-Parteibuch oder Zugehörigkeit zu ihren Organisationen entlassen worden. Aber schon am 8. Oktober 1945 beklagt der Leiter des Ortsamtes Vier- und Marschlande, Stadtamtmann Vorbeck, in einem Schreiben an Bergedorfs Verwaltungsleiter Friedrich Frank die Folgen der Entlassungswelle: „In der Fürsorge ist keine qualifizierte Kraft mehr vorhanden. Die Baupolizei ist zur Zeit verwaist und auch bei der Bearbeitung der Hochbauangelegenheiten kann nur notdürftig das Dringlichste geschehen.“
„Es ist unser Ziel, den deutschen Militarismus und Nazismus zu vernichten“
So wurde schon in dieser ersten von vier Phasen der Entnazifizierung von den Briten bereits deutlich abgewichen von den Grundsätzen der Alliierten für das Nachkriegsdeutschland, verfasst auf der Konferenz von Jalta 1943: „Es ist unsere unbeugsame Absicht“ unter anderem „alle nazistischen und militärischen Einflüsse aus öffentlichen Einrichtungen, dem Kultur- und Wirtschaftsleben des deutschen Volkes zu entfernen“ mit dem Ziel, „den deutschen Militarismus und Nazismus zu vernichten und die Garantie dafür zu schaffen, dass Deutschland nie wieder in der Lage sein wird, den Weltfrieden zu brechen“.
Fazit von Susanne Falkenhof mit Blick auf die Anfang 1948 einsetzende vierte Phase der Entnazifizierung, bei der alle bloß als Mitläufer eingestuften Personen ganz straffrei blieben: „Wer es bis dahin geschafft hatte, um eine Überprüfung herumzukommen, brauchte keinerlei Sanktionen mehr zu befürchten.“
Welche Rolle spielte Bergedorfs Finanzamt bei der Ausbeutung der Juden?
Ein solcher Fall sorgte sogar 2016 noch für Wirbel in Bergedorf, als das Museum im Schloss die Ausstellung „Kriegsschauplatz Ostafrika. Ein Bergedorfer im Ersten Weltkrieg“ zeigte. Dass es sich dabei ausgerechnet um Carl Lindemann handelte, der ab 1930 und fast bis zum Ende der Nazi-Herrschaft das Bergedorfer Finanzamt leitete, sorgte für einen jahrelangen Streit: Warum hatte das Museum in seiner Ausstellung dieses Detail verschwiegen? Und welche Rolle spielten eigentlich leitende Finanzbeamte wie Carl Lindemann bei der Ausbeutung der Juden im Dritten Reich?
Antworten darauf gibt der Bergedorfer Historiker Bernhard Nette in seinem 2019 erschienen Buch „Bergedorfer Juden und das Finanzamt“. Darin räumt er mit der über Jahrzehnte immer wieder formulierten These auf, dass Finanzbeamte unschuldig an den Gräueltaten der Nazis waren. „Carl Lindemann wusste, was den Juden angetan wurde, weil er selbst an der nationalsozialistischen Ausplünderungspolitik in Bergedorf teilnahm und deren Folgen in seinem Amt sogar bürokratisch notiert wurden“, schreibt Nette.
Finanzamtschef beließen die Nazis trotz seiner halbjüdischen Frau im Amt
Tatsächlich gelang es Lindemann, schon 1945 als „Entlasteter“ im Entnazifizierungsverfahren eingestuft zu werden. Ein Jahr später wurde er sogar wieder als Leiter des Finanzamts eingesetzt, was der 1980 verstorbene Börnsener bis zu seiner Pensionierung blieb. Hintergrund: Er hatte eine halbjüdische Ehefrau und gab an, deshalb von den Nazis benachteiligt worden zu sein. „Warum sie ihn trotzdem im Amt beließen und ob er aus Sorge um die eigene Familie vielleicht sogar besonders linientreu war, bleibt bis heute leider offen“, ergänzt Bernhard Nette.
Während Fragen wie diese 1950 lieber nicht offen gestellt wurde, schauen die Bergedorfer mit wachsender Sorge nach Fernost. Dort schaukelt sich der Konflikt zwischen Nord- und Südkorea immer mehr auf. Es geht um die Vorherrschaft auf der koreanischen Halbinsel, die 1910 von Japan annektiert und nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in die sowjetische Besatzungszone im Norden und die amerikanischen im Süden aufgeteilt worden war,
Korea-Krieg von 1950 schürt Angst vor dem Dritten Weltkrieg
Am 25. Juni 1950 greift Nordkorea tatsächlich an und verwickelt schließlich die USA, China und auch Blauhelme der Vereinten Nationen in einen Krieg. Besonders in Deutschland greift die Angst vor einem Dritten Weltkrieg um sich, der jetzt auch mit Atomwaffen geführt werden würde. Auch die Bergedorfer Zeitung berichtet täglich vom Kriegsgeschehen auf der koreanischen Halbinsel, oft als großer Aufmacher auf der Titelseite.
Aufmerksam wird die Auseinandersetzung am anderen Ende der Welt beobachtet, die nach turbulenten Eroberungen und Rückzügen im Oktober 1950 schließlich in einen verlustreichen Stellungskrieg führt, etwa auf dem heutigen Grenzverlauf beider Staaten. Tatsächlich handelt es sich mit vier Millionen Toten um einen den größten Stellvertreterkrieg neben Afghanistan und Vietnam. Bis heute gibt es keinen Friedensvertrag.
Einweihung des Billtalstadions mit Feuer, Musik und Shows
Viel Grund zur Sorge also auch in Bergedorf, das 1950 aber lieber sein Billtalstadion feiert. Ausführlich ist auch unsere Zeitung dabei und beschreibt die vielfältigen Shows am Eröffnungswochenende. Los geht es bei einbrechender Dunkelheit am 2. September mit einem „Weihespiel“, bei dem Schülerinnen des Luisen-Gymnasiums und Schüler des Hansa-Gymnasiums in historisch anmutenden Kostümen mit Fackeln zu Klängen des Hamburger Symphonie-Orchester auflaufen.
Der nächste Tag gehört dem Sport, wird aber mit einem riesigen Umzug vom Hansa-Gymnasium durch die Bergedorfer Innenstadt und das Villengebiet bis zum neuen Stadion eröffnet. Dort halten Hamburgs Bürgermeister Max Brauer und Bergdorfs Bezirksamtsleiter Albert Schaumann die Ansprachen. 2000 Tauben steigen auf, diverse Chöre singen und es gibt Vorführungen der Turner sowie der Kunstradfahrer. Natürlich sind auch Bergedorfs Leichtathleten dabei, sowie Fußballer und Feldhandballer. Zum Abschluss gibt es ein großes Feuerwerk.
Bau des Billtalstadions ruft Kritik von Naturschützern hervor
Während die Sportler und auch ihr Publikum die riesige Anlage begeistert annahmen, gab es aber auch etliche Kritik. So sind Naturschützer aufgebracht, dass diese größte Hamburger Sportanlage das natürliche „Schießtal“ und mit ihm einen Teil des Bergedorfer Gehölzes zerstört hätte. „Hier ging es unseren Stadtvätern nicht um den Sport, es ging um die Zuschauer, deren Vergnügen und deren Geld. Deshalb mussten Bäume fallen“, ärgert sich ein Leserbriefschreiber im August in der Bergedorfer Zeitung übrigens auch über die Tennisplätze des TV Ostende, die ebenfalls 1949 am Doktorberg in den Wald geschlagen wurden: „Wer nun vom Doktorberg in den Wald will, steht vor einem hohen Drahtgitter.“
Doch das Lob überwog: „Hier entsteht ein ideales Sportgelände, das dem Bergedorfer Sport einen neuen großen Auftrieb geben wird, das unseren Schulen zur Durchführung ihrer so beliebten Sport- und Schulfest dienen kann und die Bevölkerung Bergedorfs zu frohen Festen vereinigen wird“, schreibt die Zeitung „Hamburger Echo“ schon im August 1949. Und auch die zwei Monate später nach sechseinhalbjähriger Zwangspause wieder erscheinende Bergedorfer Zeitung berichtet ab Oktober regelmäßig über „Bagger, Loren und Lokomotiven“, mit denen Hunderte Arbeiter die Hänge des „Schießtals“ teils abflachen, um mit dem Aushub dann das künftige Sportfeld samt seiner Laufbahnen einzuebnen.
Planungsgeschichte des Billtalstadions reicht ins Jahr 1931 zurück
Die Planungsgeschichte dazu reicht bis ins Jahr 1931 zurück, als das Luisen-Gymnasium oberhalb des „Schießtals“ fertiggestellt wurde und wie auch die anderen Bergedorfer Schulen dringend Sportflächen unter freiem Himmel brauchte. Doch Geldmangel und die anschließende Nazi-Herrschaft verhinderten die Realisierung.
Zudem wurde das „Schießtal“ mindestens seit den 1870er-Jahren schon als Bergedorfer Festplatz genutzt. Seine dicht bewaldeten Naturhänge boten angeblich bis zu 30.000 Zuschauen Platz, während unten das Schützenfest, die Maifeiern oder auch Konzerte und Kinderfeste liefen – oft eingeleitet mit großen Umzügen durch die Stadt.
Bezirksamtsleiter Albert Schaumann verteidigt Bau des Stadions
Den Bau des Billtalstadions verteidigt Bezirksamtsleiter Albert Schaumann 1950 gegen die Kritik, die 920.000 Mark an Kosten hätten besser in den Wohnungsbau fließen sollen: „Für den Wohnungsbau benötigt man Facharbeiter. Hier wurden Arbeitslose beschäftigt. Von den Kosten muss man einen großen Teil abziehen, der sonst als Unterstützung gezahlt worden wäre.“
Wie gut das neue Stadion angenommen wurde, beschreibt unsere Zeitung nach dem ersten Seifenkistenrennen Anfang Oktober: „Volksfest im ,Billtal‘ – 20.000 Besucher“ lautet eine der Überschriften. Und zur Stimmung heißt es: „Die Fahnen wehten im weichen Winde, die Musik spielte, die Eisverkäufer hatten Großumsätze und die Würstchenbuden gaben ihnen in nichts nach. Die Busse der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn fuhren ununterbrochen, hinauf, hinab, jeder Wagen vollbeladen, daß die Achsen ächzten. Und über die Hauptanmarsch-Straßen strömten die Menschen, ein endloser Zug festlich Gekleideter und Erwartungsfroher ergoß sich über die breiten Treppen auf die Ränge und füllte sie, ehe man sich versah.“
90 tollkühne Seifenkisten-Piloten sind bei der Premiere dabei
Viel Details zu den ersten Jahre, der Glanzzeit des Billtalstadions, hat Michael Holtmann im Lichtwark-Heft 2016 des Kultur- & Geschichtskontors zusammengetragen. Er beschreibt den spektakulären Erfolg der ersten Großveranstaltung am 7. Oktober 1950, bei der sich 74 Bergedorfer und 16 Hamburger Jungen im Alter von zehn bis 15 Jahren in ihren selbst gebauten Seifenkisten tollkühn die riesige Holzrampe vom Luisen-Gymnasium hinunterstürzten.
„Der Erfolg war so groß, dass der nächste Renntag bereits im Juni 1951 stattfand“, schreibt Michael Holtmann, der als Architekt und Stadtplaner im Bezirksamt später auch das Billtalstadion im Blick hatte. „Übertroffen wurde dieser Publikumserfolg nur von einigen Fußballspielen von Bergdorf 85 oder auch dem HSV.“ Allerdings erwies sich der Grandplatz mit roter Schlacke als Fehlplanung: Er war deutlich zu weich und war oft unbespielbar.
Zehn Jahre später ist das Stadion nur noch Schulsport- und Trainingsstätte
Doch schon 1961 vermeldet die Bergedorfer Zeitung, dass es in diesem Jahr keine einzige Veranstaltung mehr gegeben habe – und auch keine mehr zu erwarten sei. Das Billtalstadion war nach nur zehn Jahren zur reinen Schulsport- und Trainingsstätte geworden. Einzig der damals noch populäre Feldhandball hielt bei Heimspielen der Vorgänger-Vereine der TSG Bergedof noch bis zum Ende der 1960er-Jahre durch.
Michel Holtmann - über die Jahre zum erklärten Fan der „Anlage im Dornröschenschlaf“ geworden – ärgert das: „Dieses Stadion ist perfekt in die Hügel des Schießtals gebaut worden und seine Materialien passen sich der Umgebung ausgezeichnet an. Nur ist es selten seinen Dimensionen entsprechend genutzt worden“, zitiert er aus einem Sammelband über Hamburgs Sportstätten.
Zweitgrößtes Stadion nach dem Volkspark und größte Naturarena
Es habe „als zweitgrößtes Stadion nach dem Volkspark und größte Naturarena Hamburgs ein weitaus größeres Potenzial“, bedauert Holtmann gescheiterte Versuche der Wiederbelebung etwa als Freilichtbühne für Opernaufführungen wie „Nabucco“, „Aida“ und die „Zauberflöte“ in den 90er-Jahren oder als Heimat der Footballer der „Hamburg Blue Devils“ 2005.
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Natürlich weiß der Stadtplaner im Ruhestand, dass solche Großprojekte in dieser Lage nicht mehr realistisch sind. Schließlich gibt es mittlerweile nicht mal den alten Billtalparkplatz am Luisen-Gymnasium mehr. Und die einst geplante S-Bahn-Station Möörkenweg ist nie realisiert worden.
Michael Holtmann ruft dazu auf, „Visionen für neue Traditionen“ zu entwickeln: „Es geht darum, das Billtalstadion wieder in das Bewusstsein nicht nur der Bergedorfer zu rufen. Natürlich in Einklang mit dem Denkmalschutz und der aktuellen sportlichen Nutzung. Vielleicht als eine Art ,Outdoor-Multifunktionsarena‘. Daran dürften sogar die Anwohner Interesse haben.“