Bergedorf. In „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ ordnen Branchenexperten aktuelle Themen ein. Heute: Handwerk sucht händeringend Nachwuchs.
Handwerk hat goldenen Boden, heißt es seit jeher. Was aber, wenn dieser Boden seinen Reiz verliert für junge Menschen, wenn sie ihn vielleicht gar nicht mehr sehen? Tatsache ist: Gute Bewerber um Ausbildungsplätzeim Handwerk machen sich rar. Und die anderen genügen oftmals nicht einmal den Minimalanforderungen der Betriebe.
Droht jetzt einem ganzen Berufsstand der Nachwuchs auszugehen? „Es ist einfach so, dass wir nicht genug Ressourcen haben, um unsere Aufträge abzuarbeiten“, sagt etwa Michael Bohlmann, Chef des Lohbrügger Heizungs- und Sanitärbetriebes Haase & Ruther. Und er steht mit dieser Einschätzung nicht allein da.
„Punkt 11 – Stunde der Entscheider“: Handwerk sucht händeringend Nachwuchs
Das Problem ist ernst. Das sieht auch Hjalmar Stemmann so, Präsident der Handwerkskammer Hamburg. „Es mangelt zum Teil an Ausbildungswilligkeit bei den jungen Menschen“, sagt der gelernte Zahntechniker, „andererseits aber auch an der Ausbildungsfähigkeit.“ Woran liegt das? Und was können die Betriebe, was kann die Gesellschaft dagegen tun? Darum geht es diesmal bei „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“, dem einstündigen Gedankenaustausch morgens um elf in den Redaktionsräumen der Bergedorfer Zeitung/Lauenburgischen Landeszeitung.
Außer dem Kammerpräsidenten und Michael Bohlmann sind bei der Diskussion der Altengammer Maler und Innenausstatter Christian Hamburg dabei, der als Bezirkshandwerkermeister auch die Stimme der rund 1240 Betriebe in Bergedorf ist, außerdem Dachdecker Jesko Reher (Zimmerei Pietsch) aus Curslack, Diplomingenieur Carsten Wulff von Elektro Eckstein aus Bergedorf sowie der Heizungs- und Sanitärexperten Nils Bestier aus Ochsenwerder. Eine Ursachenforschung.
Da ist zunächst einmal das Problem mit dem Image. „In der Gesellschaft genießt das Handwerk einfach nicht die Anerkennung, die ein Arbeitsplatz in der Bank oder bei einer Versicherung mit sich bringt“, sagt Jesko Reher. „Handwerk, das ist eher schmutzig, draußen, nass, kalt, was auch immer.“ Das Problem habe seine Wurzel schon in den Elternhäusern. Reher: „Eltern haben einen starken Einfluss, welchen Schulabschluss ihr Kind machen, in welche Richtung es sich orientieren soll. Und in den letzten Jahren ging das ganz stark in Richtung Abitur und Nachhilfe.“ Heute fehle das Verständnis in der Gesellschaft, dass man auch im Handwerk was erreichen kann, meint Carsten Wulff. „Früher kannte jeder irgendjemanden in der Straße oder in der Familie, der Handwerker war. Das ist heute nicht mehr so. Der Bezug fehlt einfach.“
Handwerk sucht Nachwuchs: Schulen zeigen eher „reges Desinteresse“
Schule könnte ihn wieder schaffen, doch rennen Handwerker dort längst nicht immer offene Türen ein. Mit dem Projekt „Traumjob Handwerk“ kümmert sich die Kammer ganz explizit um Schulkooperationen. „Das setzt aber auch immer voraus, dass in der Schule jemand da ist, der sagt: Ja, ich möchte den Kontakt auch haben“, sagt Präsident Hjalmar Stemmann.
Geschieht aber zu selten. Elektroingenieur Wulff beispielsweise berichtet von „regem Desinteresse“, auf das Kollegen und er gestoßen seien, als sie einst vor den Bergedorfer Bautagen in Schulen gehen wollten. „Es ist schwer, Akzeptanz bei den Lehrern zu finden“, sagt er. Dabei stelle der Fachverband des Elektrohandwerks sogar fertige Lehrmaterialien zur Verfügung.
Jeder zweite Schüler in Hamburg macht das Abitur
Wie aber kann das Handwerk bei jungen Menschen wieder Interesse wecken? Sich erst einmal wieder bekannter machen, meinen die Handwerker bei „Punkt 11“ unisono – Hamburger Firmen bilden in rund 80 Handwerken aus, von vielen aber haben Schülerinnen und Schüler noch nie etwas gehört. Ebenso wenig von der Möglichkeit, Lehre und Studium miteinander zu verbinden – um nach der Ausbildung einen Master-Titel zu haben.
Denn immerhin etwa jeder zweite Jugendliche in Hamburg schließt die Schule mit dem Abitur ab. Auf der anderen Seite beenden etwa sechs Prozent der Jungen und Mädchen ihre Schulzeit ohne jeglichen Abschluss, wie eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung unlängst ergeben hat. Auch sie haben Hjalmar Stemmanns Worten zufolge eine Chance im Handwerk. Wobei der Präsident eine Einschränkung macht: Wer beispielsweise die Frage nicht beantworten könne, wie viel zehn Prozent von hundert seien, müsse noch fit für eine Ausbildung gemacht werden. Und so etwas komme vor. „Ein Bewerber hat mir gesagt, das sei in der achten Klasse dran gewesen, da habe er gerade gefehlt.“
Handwerk sucht Nachwuchs: Ein Praktikum ist der erste Schritt
Für alle anderen gilt: Der perfekte Einstieg ins Handwerk, wenn nicht sogar Pflicht ist ein Praktikum. „Denn Handwerk lebt zunächst davon, dass man anfasst, dass man zuguckt, wie etwas gemacht wird, und dass man es dann schließlich selbst macht“, sagt Stemmann. Als niedrigschwellige erste Berührung empfiehlt er beispielsweise den Girls’ and Boys’ Day, bei dem sich Schülerinnen und Schüler jedes Jahr für ein paar Stunden in Betrieben ihrer Wahl ausprobieren können.
Etwas tiefer geht das Praktikumsrondell, das Installateur Nils Bestier mit der Gruppe der Betriebsjunioren entwickelt hat. Es bietet jungen Leuten die Möglichkeit, innerhalb von drei Wochen bis zu fünf Berufe auszuprobieren. Bestier: „Man bekommt also mit einer einzigen Bewerbung fünf Praktikumsplätze.“ Ein weitere Idee, ja mehr noch Forderung aus der Runde: Werkunterricht in der Schule müsse wieder eingeführt werden. „Wenn Kinder schon mal einen Hammer, eine Zange oder eine Säge in der Hand gehalten haben, dann erhöht das unsere Chancen, dass sie zu uns finden“, sagt Jesko Reher.
Dass die Bergedorfer Bautage nach zwei Jahren Corona-Zwangspause nun erneut ausfallen, ist allem Bemühen um Nachwuchskräfte überhaupt nicht zuträglich. Bezirkshandwerksmeister Christian Hamburg bedauert das zumindest vorläufige Aus: „So eine Messe ist ja nicht nur wichtig, um Kunden etwas zu verkaufen. Sie ist unheimlich wichtig, um als Wirtschaftszweig eine Außendarstellung zu haben – und zwar nicht nur als Verkäufer, sondern auch als Arbeitgeber“, sagt er.
„Da laufen auch viele Leute durch, die Kinder haben oder Enkel. Die sehen ja auch, wie groß und vielfältig das Handwerk ist und erzählen vielleicht zu Hause: Schau doch mal, Heizungsbauer ist auch nicht so doof.“ Dort hätte sich der in Teilen der Gesellschaft verloren gegangene Bezug zum Handwerk womöglich wieder aufgreifen lassen. „Ich fand, das war immer eine tolle Plattform“, sagt Kammerpräsident Stemmann. „Die Harburger Bautage sind bereits vor Corona eingestellt worden. Ich würde es sehr bedauern, wenn die Bergedorfer Bautage den gleichen Weg gingen.“
Bergedorfer Bautage ausgefallen: Hoffen auf neue Chance in 2024
Christian Hamburg hofft, dass sich dieses Szenario noch abwenden lässt. Neuer Anlauf für 2024? „Ja, auf jeden Fall!“ Allein: Der Bezirkshandwerksmeister hat es nicht in der Hand. „Die Frage ist: Wird die Agentur, die das jetzt übernommen hat, einen weiteren Anlauf unternehmen? Die haben vor Corona angefangen, drei Jahre investiert, aber nie etwas herausbekommen. Es ist einzig und allein eine unternehmerische Entscheidung.“
Eine unternehmerische Entscheidung mögen auch diejenigen getroffen haben, die die Bergedorfer Bautage in diesem Jahr nicht als eine riesengroße Veranstaltung zur Kontaktpflege gesehen haben, sondern als weitere Aufgabe auf einem ohnehin übervollen Schreibtisch, als weitere Verpflichtung in einem lückenlos gefüllten Terminkalender. Christian Hamburg hält sie für falsch.
Auftragsbücher sind voll, aber...
Richtig ist: Die Auftragsbücher sind einigermaßen gut gefüllt, auch wenn hohe Energie- und Beschaffungspreise und sinkende Realeinkommen die Stimmung dämpfen. Der aktuellen Konjunkturumfrage des Zentralverbands des deutschen Handwerks (ZDH) zufolge berichteten im Gesamthandwerk noch 40 Prozent der Betriebe von einer guten Geschäftslage, während 16 Prozent die momentane Situation als schlecht bewerten. Finsterer sieht es bei den Erwartungen an die Zukunft aus. Nur sechs Prozent erwarten eine Verbesserung ihrer individuellen Situation, 30 Prozent aber sind eher pessimistisch gestimmt.
Eine Sonderrolle nimmt der Bau- und Ausbaubereich ein. „Er hat auf Jahre die Sonderkonjunktur der energetischen Sanierung“, sagt Handwerkskammer-Präsident Hjalmar Stemmann. Das kompensiere zumindest ein Stück weit auch, dass infolge gestiegener Zinsen ein massiver Einbruch bei Neubauprojekten leider als sicher gelte. Andere Handwerke sind nach Einschätzung von Bezirkshandwerksmeister Christian Hamburg krisenanfälliger. Lässt sich die Zeitspanne zwischen zwei Friseurbesuchen strecken? Eine denkbare Frage angesichts sinkender Reallöhne. „Und selbst wenn – als Einzelbeispiel – Autolackiererein am Winterende gerade volle Auftragsbücher haben, haben sie massivste Probleme, überhaupt zu überleben – weil sie so stark heizen müssen, damit die Lacke richtig trocknen“, sagt Hamburg. Die Verträge mit Versicherern aber seien noch zu anderen, heute nicht mehr realistischen Konditionen ausgehandelt worden.
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Weitere von hohen Energiekosten besonders betroffene Handwerke sind nach den Worten Stemmanns Wäschereien, Bäckereien und Fleischereien – und alle Handwerke, die in festen Verträgen arbeiten. Das betreffe insbesondere auch die Gesundheitshandwerke.
Punkt 11 – Stunde der Entscheider“: Das ist die Serie
Zu „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ kommen in loser Folge – aber immer um elf am Vormittag – Experten jeweils einer Branche in unsere Redaktionsräume in der Chrysanderstraße 1 in Hamburg-Bergedorf, um sich über wichtige Themen der Gegenwart auszutauschen. Für die nächste Folge dieser Serie begrüßen wir Vertreter des Bestattungsgewerbes.
Bisher in der Serie „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ erschienen: