Auch von “kollektiver Fehleinschätzung“ des Falls durch alle Verantwortlichen ist in den Akten die Rede. Bilder vom Prozess. Eindrücke von Morsal.

Die Familie der im Mai 2008 von ihrem Bruder erstochenen Morsal O. hat offenbar über Monate versucht, die eigene Tochter unglaubwürdig zu machen. Dazu bezichtigte Morsals Mutter die eigene Tochter ein gutes Jahr vor deren Tod gegenüber der Polizei, mit Drogen zu handeln. Morsals Schwester sagte aus, Morsal habe Handys und Geld gestohlen. Nun stellt sich die Frage, ob die Familie so die Glaubwürdigkeit der eigenen Tochter erschüttern wollte, die gegenüber der Polizei und dem Kinder- und Jugendnotdienst anderthalb Jahre vor ihrer Ermordung ausgesagt hatte, ihr Bruder wolle sie töten. Die Polizei hatte diese Äußerungen des 16-jährigen Mädchens im November 2006 als "sehr ernst zu nehmen" eingeschätzt. Dass die städtischen Stellen das Mädchen später immer wieder zu seiner Familie zurückschickten, haben die Verantwortlichen mittlerweile als "kollektive Fehleinschätzung" bezeichnet. Diese und andere neue Fakten zum Geschwistermord, der gerade am Landgericht verhandelt wird, gehen nach Informationen des Abendblatts aus vertraulichen Behördenakten hervor.

Nach den geheimen Unterlagen begann Morsals Martyrium mit einem Klassenfoto aus dem Jahr 2005, auf dem sie zufällig zwischen zwei Jungen stand. Als sie das Foto gesehen hätten, hätten ihre Eltern sie geschlagen und ihr die Haare kurz geschnitten, gab Morsal bereits am 14. November 2006 bei einer Vernehmung im KJND an. Schon 2004 habe ihr Bruder sie außerdem durch eine Scheibe geschubst, so Morsal weiter.



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Offenbar haben die Mitglieder der Familie O. Morsal aber nicht nur geschlagen und bedroht, sondern sie auch immer wieder bei der Polizei unterschiedlicher Straftaten bezichtigt. So gab es Anfang 2007 ein Strafverfahren gegen Morsal wegen des Verdachts des Rauschgifthandels. Morsals Mutter hatte der Polizei gegenüber ausgesagt, Morsal handle mit Marihuana, das sie von einem Mahmud bekomme. Dieser Verdacht wurde aber nie bestätigt, lediglich den Besitz von 0,4 Gramm stellten die Beamten fest. Auch in einem späteren Verfahren wurde gegen Morsal wegen Drogenbesitzes ermittelt.


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Etwa zur gleichen Zeit beschuldigte Morsals Schwester A. sie des Diebstahls. Morsal habe ihrem Bruder und ihrer Mutter zwei Handys und 400 Euro gestohlen, berichtete sie der Polizei.

Morsal selbst rief wiederholt die Polizei, weil ihre Mutter ihr verbieten wollte, die Schule zu besuchen. Als die Polizei nachfragte, gab Morsals Mutter zu Protokoll, sie wolle ihre Tochter lediglich vor schlechten Einflüssen schützen. Weil Morsal die Polizei rief, habe ihr Bruder gesagt, er werde "demnächst vorbeikommen und mich töten".

Morsals Schule, der Schule Ernst-Henning-Straße, werden in dem vertraulichen Untersuchungsbericht der Schulbehörde "schwere formale Fehler" attestiert. So habe die Schule mögliche Verstöße gegen die Schulpflicht nicht überprüft. Zugleich wird bemängelt, dass das Jugendamt seine Informationen über die Familienverhältnisse Morsals gar nicht an die Schule weitergab.

Der Geschäftsführer des für den Kinder- und Jugendnotdienst zuständigen Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung (LEB), Klaus-Dieter Müller, hat nach den Unterlagen in einer E-Mail bereits Mitte Mai 2008, kurz nach der Ermordung Morsals, eingeräumt, das Risiko für das Mädchen sei "möglicherweise falsch eingeschätzt" worden. Offenbar habe es eine "kollektive Fehleinschätzung" gegeben, so Müller in einer anderen Mail. Als Hauptverantwortliche macht Müller eine "in diesem Fall unerfahrene Fachkraft" bei den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) im Bezirk Mitte aus. Später schreibt er von der "unseligen Rolle der ASD-Mitarbeiterin".

In den letzten Wochen ihres Lebens ermittelte die Polizei einmal mehr auch gegen Morsal selbst - weil sie einer früheren Freundin gedroht haben soll, sie "mit einem Messer zu töten".

Bereits im November 2006 hatte die Polizei festgestellt, dass "das Aufeinanderprallen der afghanischen Wertevermittlung" mit der deutschen Lebensweise zu großen Problemen führe, die in der Familie offenbar "gänzlich auf die Tochter M. projiziert werden", wie es in einem vertraulichen Bericht heißt. Morsal hat dasselbe in einem so einfachen wie bitteren Satz ausgedrückt: Sie habe "eigentlich immer die Schuld für alles bekommen, wofür ich gar nichts konnte".

Lesen Sie dazu auch das Dossier mit allen Berichten über den Fall Morsal.