Lag es daran, dass plötzlich zahllose Kameras und Augenpaare auf ihn gerichtet waren? Als ihm der Staatsanwalt vorhielt, 23-mal auf seine jüngere Schwester eingestochen zu haben, zeigte der angeklagte Deutsch-Afghane Ahmad-Sobair Obeidi jedenfalls keine Regung.
Ahmad-Sobair Obeidi (24) weiß nicht, wohin er schauen soll, als das Blitzlichtgewitter der Fotografen über ihn hereinbricht und Fernsehkameras ihn fokussieren. Den Mann, der am 15. Mai 2008 seine Schwester Morsal (16) getötet at. "Heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen", so die Mordanklage, weil dem Deutsch-Afghanen der Lebenswandel seiner jüngeren Schwester missfiel.
Um 8.56 Uhr wird er aus den verschlungenen Gängen des Untersuchungsgefängnisses in den Gerichtssaal 237 geführt. Noch ist er gefasst. An seinem Platz blättert er nervös in einem Stapel Papiere, versucht sich wegzuducken. Doch das Rampenlicht ist gnadenlos. Dann füllen sich seine Augen mit Tränen. Er wischt sich über die Wangen. Hält seine Hände gefaltet vor sein Gesicht. Sind es Tränen der Reue? Der Reue eines Mannes, der seiner Schwester 23-mal ein Messer in den Leib stieß? Oder sind es Tränen der Scham davor, plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen?
Mord an Morsal - der Tathergang
Obeidis zweite Schwester Amina (Name geändert) und seine Cousine sitzen in der ersten Reihe im Zuschauerraum. Hinter Panzerglas. Sie lassen den Blick nicht von ihm. "Schönen guten Morgen", grüßt der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen um 9.21 Uhr. Und wendet sich dem Angeklagten zu. "Import- und Exporthandel mit Fahrzeugen", gibt der als Beruf an, nennt, nun mit fester Stimme, seine Wohnadresse. "Die Postleitzahl habe ich leider vergessen", ergänzt er. Als Staatsanwalt Boris Bochnick die Anklage verliest, als er die letzten Minuten im Leben Morsals schildert und wie sie infolge der Stich- und Schnittverletzungen am ganzen Körper qualvoll starb - da schaut Obeidi immer noch starr zu Boden. So, als ob er sich verstecken wolle. Obeidi will nichts sagen zur Sache, bestreite die Tat aber nicht, sagt sein Verteidiger Thomas Bliwier.
Der Staatsanwalt erläutert die Motive für die Bluttat aus Sicht der Ermittler: dass Obeidi seine Schwester aus Wut darüber getötet habe, weil diese sich von der Familie abgewandt, sich unangemessen bekleidet in der Öffentlichkeit bewegt habe und er, Obeidi, glaubte, sie arbeite als Prostituierte. Einen "Scheißdreck" gehe ihn das an, soll Morsal ihrem Bruder entgegnet haben - kurz vor ihrem Tod. Obeidi spielt mit seinen Händen, seine Daumen kreisen bisweilen nervös, der Ankläger fährt fort. Geht weiter ins Detail: Stiche am Oberkörper, am Gesäß, an Armen und Beinen, am Herzen und an der Lunge. Obeidi scheint es nicht wahrzunehmen.
'Ehrenmord': Verteidigung hält Gutachter für befangen
Auch als die Richter wenig später aus den Strafakten und früheren Verurteilungen des Angeklagten verlesen (siehe Text unten auf dieser Seite), zeigt Obeidi keine Regung. Erst als sein Verteidiger Thomas Bliwier einen Befangenheitsantrag gegen den Gutachter der Staatsanwaltschaft stellt, zeigt der 24-Jährige Emotionen. Da nickt er einmal heftig, als sein Advokat das Gutachten attackiert - es bescheinigt Ahmad Obeidi volle Schuldfähigkeit.
Auch wegen Bedrohung und gefährlicher Körperverletzung steht Obeidi vor Gericht: In einem Telefongespräch soll er schon am 1. November 2006 gedroht haben, er werde Morsal töten. Am selben Tag und auch später noch soll er sie mit Fäusten geschlagen haben, weil er sich darüber geärgert habe, dass sie zu spät aus der Schule gekommen sei.
Rund 140 Zuschauer verfolgen den Prozess. Rentner, Arbeitslose, Schüler, Journalisten, die zum Teil von weither angereist sind. Später diskutieren sie den Fall vor dem Saal. Einen Fall, in dem es um weit mehr geht als um dieses Tötungsdelikt. Die Frage nach Versäumnissen wurde ebenso laut wie der Vorwurf an die Behörden, man habe die Situation im Hause Obeidi falsch eingeschätzt oder gar nichts von den Nöten der jungen Deutsch-Afghanin gewusst. Und: In Hamburg und bundesweit geriet das Phänomen der sogenannten "Ehrenmorde" einmal mehr in den Fokus, aus der Tabuzone hinauf an die Oberfläche der Gesellschaft.
Morsal war bereits mehrfach von zu Hause, aus der Fünfzimmerwohnung in Rothenburgsort, in städtische Jugendeinrichtungen geflüchtet. Schon Jahre vor seinem Tod hatte das Mädchen vor der Tat unter dem Bruder - und wohl auch unter anderen Familienmitgliedern - gelitten. Morsal hatte ein Leben führen wollen, wie es ihre Mitschülerinnen, zunächst in Bergedorf, dann in Rothenburgsort, auch führten. Sie wollte feiern, sie wollte Spaß, wollte Jungen kennenlernen, ausgehen. Ihre Familie, allen voran Ahmad, einer von vier Geschwistern, wollte, so die Ermittlungen, offenbar all das verhindern. Er wollte sie zurückholen in die Regentschaft strenger Familientradition. Morsal hörte nicht auf ihn.
"Ich möchte sehen, wie der Staat mit diesem Fall und dem besonderen kulturellen Hintergrund juristisch umgeht", sagt Industriekaufmann Siegfried Hirth (61), einer der Zuschauer. Und Jura-Student Philip (24), achtes Semester, bekennt: "Hier kann man viel für das Examen lernen."
Nach der Mittagspause wagt Ahmad-Sobair Obeidi erste zaghafte Blicke ins Publikum. Er nickt seiner Cousine in der ersten Reihe zu. Beiläufig liest er in seinen Unterlagen. Die ersten Zeugen sagen aus. Zwei Polizisten, die am Tatort waren. Vom "Einsatz Messerstecherei" sprechen sie, vom "Leichnam", den sie im Hinterhof am Berliner Tor fanden - Morsals Tod in der Amtssprache. Obeidi verschränkt seine Arme, seine Blicke haften am Vorsitzenden Richter.
Eine 14-Jährige sagt aus. Schildert, wie sie in der Mordnacht Hilfeschreie hörte und dann zum Tatort lief. "Ich dachte, dass er sie nur geschlagen hat. Doch dann sah ich, dass sie blutete." Dann erkannte sie, dass er ein Messer in der Hand hielt. "Es ging sehr schnell." Regungslos hört Obeidi zu.
Draußen, vor dem Strafjustizgebäude, fachsimpeln Schülerinnen der Staatlichen Gesundheitsschule. Sie haben im Saal keinen Platz mehr bekommen. "Wir machen gerade Menschenrechte im Unterricht", sagt eine 16-Jährige. "Einfach seine Schwester umzubringen - furchtbar!", meint ihre Mitschülerin. Rechtskunde in der Praxis.
Derweil demonstrieren mehrere Gruppen mit Plakaten undGesängen für die Rechte von Frauen - und gegen Gewalt. "Steh auf, Schwester, steh wieder auf, es geht bergauf", ertönt es aus den Lautsprechern. Es sind Hilferufe. Für Morsal kommen sie zu spät.
Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.