Sekunden vor dem Urteil murmelt Ahmad-Sobair Obeidi (24) vor sich hin, er hat die Hände gefaltet wie zum Gebet – als der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen um Punkt Zehn Uhr das Urteil verkündet, da wird Obeidi kreidebleich: Lebenslange Haft wegen Mordes, lautet das Urteil, der Deutsch-Afghane geht wie in Trance ein paar Meter nach hinten zur Wand, vergräbt sein Gesicht hinter seinen Händen. Bilder vom Prozess. Bilder von Morsal.
Hamburg. Dann nimmt er wieder Platz. Zeigt keine Regung. Starrt ins Leere. Seine Eltern, seine ältere Schwester und sein jüngerer Bruder, auch seine Freundin (eine Jura-Studentin) sitzen in der ersten Reihe bei den Zuschauen, hinter Panzerglas sie brechen in ein Wehgeheul aus. "Wer hier Krach macht, der fliegt raus", sagt Richter Backen. Es ist das strafrechtlich Ende eines Falles, der bundesweit für Aufsehen sorgte, der Deutschland erschütterte.
Wie versteinert sitzt Obeidi minutenlang auf seinem Platz, als Backen das Urteil der Großen Strafkammer 21 des Landgerichts erläutert. Eine Stunde dauert die mündliche Urteilsbegründung. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass der junge Mann seine Schwester am 15. Mai 2008 aus Wut über ihren westlichen Lebensstil durch einen Cousin auf einen Parkplatz in Hamburg-St.Georg locken ließ und sie nach einem Wortwechsel mit 23 Messerstichen gezielt tötete nicht spontan, wie die Verteidigung meint (sie plädierte auf eine milde Strafe wegen Totschlags), sondern "heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen." Damit folgen die Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft.
Der Vorsitzende Richter spricht von einem "Blutbad", das der Angeklagte vorsätzlich plante, vollendete, weil alle anderen Möglichkeiten zur "Disziplinierung" Morsals scheiterten. "Wir haben nicht den geringsten Zweifel, dass Sie Morsal getötet haben, weil Sie ihre Einstellung, wie deutsche Mädchen leben, nicht toleriert haben. Morsals Unglück war, dass sie eine Frau war", sagt der Vorsitzende. Entgegen der psychiatrischen Sachverständigen, Dr. Marianna Röhl, geht die Kammer davon aus, dass der Angeklagte voll schuldfähig war." Für Heimtücke spreche vor allem, dass Morsal gezielt zu dem dunklen Tatort am Berliner Tor gelockt worden sei, dass er sich ihr mit hinter dem Rücken verborgenem Messer genähert habe.
Auch habe das verletzte Ehrgefühl als Tatmotiv im Vordergrund gestanden, somit habe Obeidi auch aus "niedrigen Beweggründen" gehandelt, aus Gründen, die auf sozial niedrigster Stufe stehen, so die Juristen. Backen: "Maßstab ist die Wertevorstellung der Rechtsgemeinschaft in Deutschland, nicht die einer afghanischen Volksgruppe." Backen spricht Klartext über den Angeklagten: "Er tötete aus reiner Intoleranz."
Auch Morsals Eltern kritisiert der Vorsitzende Richter scharf. Über ihre Schuld habe das Landgericht zwar nicht zu befinden, denn weder Mutter noch Vater seien angeklagt worden. "Aber wenigstens eine hohe moralische Mitschuld trifft sie." Die Eltern hätten ihren ältesten Sohn möglicherweise "zum Vollstrecker ihrer Erziehungsmethoden" gemacht.
Backen spricht vom jahrlangen Martyrium, das Morsal durchlebt hatte. Seit 2005 hatte die Familie Morsal geschlagen, drangsaliert, auch eingesperrt. Morsal musste nach Afghanistan, wo sie ein Jahr lang zwangsweise nach eigenen Angaben "wie ein Tier" gelebt habe. Ambivalent sei das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und Morsal gewesen. Backen: "Einerseits liebte er sie, andererseits war er wütend und fürchtete, sie werde die Ehre der Familie beschmutzen"; weil sie sich schminkte, mit Jungen ausging, Alkohol trank. Belastend auch: Mehrfach hatte der Angeklagte früher gedroht, Morsal umzubringen, auch kurz vor der Tat. "Er fürchtete, der Einfluss der Familie auf Morsal würde sich reduzieren." "Das Motiv für die Tat liegt darin, dass der Angeklagte der Auffassung war, Morsal beschmutze durch ihr Verhalten ihre sogenannte Ehre und die ihrer Familie." Auf der Flucht habe Obeidi einem Taxifahrer gegenüber die Tat gerechtfertigt und ihm gesagt, er hoffe, dass Morsal tot sei.
Der Angeklagte ist kein unbeschriebenes Blatt: Seit dem 18. Lebensjahr nimmt er Drogen, dealte, so die Richter, seit dem 14. Lebensjahr fiel er als Intensivtäter auf, hatte seitdem zwölf Strafverfahren. An den früheren Prozesstagen und beim letzten Wort kamen ihm noch die Tränen, jetzt gibt Obeidi sich cool, bisweilen unterbricht er respektlos die Urteilsbegründung: Backen: "Der Angeklagte tötete, um die so genannte Ehre wiederherzustellen." Obeidi ruft frech dazwischen: "Sag mir, welche Ehre? Ich kenne keine Ehre." Oder: Backen sagt, dass eine solche Straftat auch in Kabul strafbar wäre. "Nee, da wäre ich schon längst raus", gibt der verurteilte Mörder zum Besten.
Während der Urteilsverkündung und danach kommt es im Gerichtssaal, auf den Gängen und später vor dem Gebäude zu dramatischen Szenen. Einmal springt der Bruder des Angeklagten auf, haut mit voller Wucht gegen das Panzerglas, pöbelt hysterisch er wird von Justizbeamten herausgebracht. Als die Schwester in Weinkrämpfe ausbricht, wird auch sie hinausbegleitet. Sie wird später mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht. Auch die Freundin, des Angeklagten, eine junge Jurastudentin, verliert sich in Weinkrämpfen, in Wehklagen So wie die Mutter. Sie schreit und pöbelt, als ihr Sohn durch unterirdischen Gänge aus dem Gerichtssaal ins Gefängnis gebracht werden soll. Nach einer bisher unbestätigten Aussage soll sie versucht haben, im Gebäude aus dem Fenster zu springen wurde aber daran von Passanten gehindert. Eine Gerichtssprecherin bestätigte diesen Vorfall gegenüber dem Abendblatt nicht, sie verwies zudem darauf, dass die Fenster alle gesichert seien.
Und der Angeklagte, der seinen "Stern", wie er Morsal nannte, umbrachte? Er verabschiedet sich so vom Prozess: Als er abgeführt werden soll, springt er auf. "Du bist ein Hursensohn, eine Fotze", brüllt er in Richtung Staatsanwalt, schmeißt einen Stapel Papier auf den Boden. Sofort springen Beamte auf Obeidi zu, reißen ihn zu Boden und bringen ihn die Haft zurück. Verteidiger Thomas Bliwier wirkt sichtlich überrascht vom Urteil wegen Mordes. "Ich habe damit nicht gerechnet", sagt er dem Abendblatt. "Natürlich legen wir Revision ein, das Urteil wird keinen Bestand haben", glaubt er. Darüber muss dann der Bundesgerichtshof entscheiden.