Bereits seit sechs Jahren sollen laut Bericht Beschwerdebriefe über Verwaltungsfehler und überlastete Beamte beim Jugendamt vorliegen.

Hamburg. Nach dem Tod der elfjährigen Chantal in Hamburg werden immer mehr Missstände bei dem zuständigen Jugendamt Hamburg-Mitte bekannt. So waren die Schwachstellen im Jugendamt nach einem Bericht des Norddeutschen Rundfunks (NDR) bereits seit sechs Jahren bekannt. „Dem NDR Fernsehen liegen mehrere massive Beschwerdebriefe von freien Jugendhilfeträgern und Pflegeeltern vor, die an den damaligen Ersten Bürgermeister Ole von Beust (CDU), den damaligen Justizsenator Till Steffen (GAL) und den Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) gerichtet waren“, teilte der Sender am Wochenende mit.

In den Beschwerden sei es etwa um Verwaltungsfehler und überlastete Beamte gegangen. Hausbesuche würden unterbleiben oder seien nur nach mehrmonatiger Vorbereitung möglich, heißt es laut NDR in den Schriftstücken. Viele Fälle würden allein nach Aktenlage entschieden und das Kindswohl dadurch gefährdet.

Der dem Jugendamt vorgesetzte Sozialamtsleiter versprach damals, er werde „diese Schwachstellen weiter analysieren und Abhilfe schaffen“, wie der NDR aus einem Schreiben zitiert. Das Papier liegt dem Sender eigenen Angaben zufolge vor. Die Senatskanzlei wollte die Recherchen nicht kommentieren, da sie den Vorgang selbst prüfe.

Markus Schreibers Rettungsschirm heißt Kahrs

Trauermarsch - Pflegeeltern nahmen bis zuletzt Heroin

Die Akte Chantal – eine tragische Fehlerkette

Das Jugendamt Hamburg-Mitte war durch den Tod der elfjährigen Chantal erneut in die Kritik geraten. Das Mädchen war von der Behörde in einer Pflegefamilie untergebracht worden, in der beide Eltern die Ersatzdroge Methadon zum Heroin-Entzug erhielten. Chantal war am 16. Januar nach der Einnahme des Mittels gestorben. Gegen die Pflegeeltern und den leiblichen Vater des Mädchens besteht der Verdacht der fahrlässigen Tötung. Ferner hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen die Jugendhilfe-Einrichtungen eingeleitet.

Anwohner gedenken der toten Kinder mit Trauermarsch

Bereits vor drei Jahren hatte der Tod der neun Monate alten Lara Mia im Zuständigkeitsbereich des Amtes Kritik ausgelöst. Das stark abgemagerte Mädchen war 2009 tot in einer Wohnung gefunden worden. Am Freitagabend hatten etwa 500 Menschen bei einem Trauermarsch der beiden toten Kinder gedacht. Nach Angaben der Polizei zogen die Trauernden nach einem Gottesdienst etwa eine Stunde lang schweigend durch den Stadtteil Wilhelmsburg, in dem die Kinder gelebt hatten.

Unterdessen hat sich Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) empört über den Fall Chantal geäußert: „Ich fordere eine schonungslose und rückhaltlose Aufklärung in diesem Fall, den man nicht begreifen kann und der uns alle schockiert“, sagte Bahr „Bild.de“.

Auch eine Expertin kritisierte das System der Jugendhilfe in Deutschland. Die freien Träger unter den bundesweit rund 80.000 Jugendhilfeeinrichtungen stünden in einem harten Wettbewerb, sagte die Professorin für Pädagogik, Kathinka Beckmann, dem Nachrichtenmagazin „Focus“ laut Vorabbericht. Dies gebe einen Anreiz, „alles zu tun, um einen Auftrag nicht zu verlieren“, betonte die Wissenschaftlerin von der Fachhochschule Koblenz. Das könne bedeuten, im Fall einer Gefährdung eines Pflegekindes nicht gleich tätig zu werden.