Schon wieder der Bezirk Mitte, schon wieder Wilhelmsburg - schon wieder Markus Schreiber. Fast drei Jahre nach dem Tod des Babys Lara Mia starb nun die elf Jahre alte Chantal. Auch sie stand unter der Obhut des Jugendamts Mitte. Und Bezirksamtsleiter Schreiber (SPD) machte Anfang der Woche, wie schon in den Monaten zuvor, eine denkbar schlechte Figur in der Öffentlichkeit, wenn es politisch brisant wurde. Und so begab sich Schreiber auf Kurskorrektur, während sich der Senat bemüht, dass ihn der tragische Fall nicht selbst beschädigt.
Erstaunen bis Entsetzen hatten Schreibers Äußerungen ausgelöst, als er auf NDR 90,3 sagte: "Wir achten aufs Kindeswohl, und das Kindeswohl war nicht gefährdet. Sondern im Gegenteil, dem Kind ging es gut, bis zuletzt. Jetzt ist es tot, das ist tragisch. Aber bis dahin ging's dem Kind gut." Und das immerhin eine Woche nach dem tragischen Tod Chantals. Es wäre also Zeit genug gewesen, sich in würdiger Weise vorzubereiten. Das einzig Positive, was darauf aus dem Regierungslager verlautete, war: "Immerhin stellt er sich vor seine Leute." Doch in Wahrheit war das Kopfschütteln groß. "Man kann nicht ritualhaft sagen, dass alles gut war. Und plötzlich ist ein Kind tot. Da kann natürlich nicht alles gut gelaufen sein", sagt einer aus der SPD-Führungsebene. Dem Beamten Schreiber fehle es manchmal an menschlichem Gespür. Diese Anteilnahme und den verstärkten Blick aufs Opfer zeigt er erst seit Mitte der Woche.
Gespeist waren die Einlassungen des Bezirksamtsleiters durch die Aussagen seiner Jugendamtsleiterin Pia Wolters, der nachgesagt wird, sich nur zu gern an den Akten und Paragrafen entlangzuhangeln. Sie war schon einmal wegen einer allzu bürokratischen Äußerung in die Kritik geraten, als es um die Aufarbeitung des Mordes an der 16-jährigen Morsal ging, die 2008 von ihrem Bruder erstochen wurde, weil sie aus dem muslimischen Lebensstil ausbrechen wollte. Damals sagte Wolters, dass das Jugendamt alles getan habe, was notwendig war. Auch in dieser Aussage fehlte jegliche Anteilnahme.
In diese Situation hätte Schreiber sich gar nicht zu bringen brauchen. Wie das Abendblatt erfuhr, gibt es für derartige Krisenfälle eine Absprache mit Sozialsenator Detlef Scheele (SPD), der regelmäßig mit allen sieben Bezirksamtsleitern zusammenkommt. Bei einem dieser Treffen ging es um das Verhalten nach einem Fall wie Lara Mia, die im März 2009 an Verwahrlosung und Unterernährung gestorben war. Die Verabredung lautete, dass Scheeles Behörde die Öffentlichkeitsarbeit übernehme. Damit sollte zum einen verhindert werden, dass Bezirk und Landesebene sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen behinderten oder die eigene Zuständigkeit abgestritten würde. Zum anderen sollte das Bezirksamt dadurch ausreichend Kapazitäten haben, in den eigenen Reihen alle notwendigen Daten zur Aufklärung zu sammeln. Schreiber jedenfalls nahm Scheeles Angebot zur Überraschung einiger Bezirksamtsleiter nicht an.
Dabei gibt es nicht grundsätzlich Kritik an der Außendarstellung des Bezirksamtsleiters. "Wenn es gut läuft, macht er gute Öffentlichkeitsarbeit", heißt es. Nur wenn es schlecht laufe, mache er schlechte. Im vergangenen Herbst etwa machte Schreiber eine unglückliche Figur, als es um den Obdachlosenzaun unter der Kersten-Miles-Brücke ging. Schon damals war es Sozialsenator Scheele, der Druck ausübte, den Zaun abzubauen. Als der Bezirksamtsleiter als Lösung des Problems schließlich ein 500 000 Euro teures Toilettenhäuschen präsentierte, griff Scheele erneut korrigierend ein.
Und auch jetzt sieht der Senat zu, dass er nicht selber in den Fokus der Kritik gerät. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) will auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass er den Fall jetzt zur Chefsache macht. Wohl deshalb meldete er sich erst am Donnerstagabend erstmals zu Wort. "Wir dürfen nicht achselzuckend zur Normalität zurückkehren. Wir müssen uns ganz klar mit der Frage beschäftigen, wie die Entscheidung zustande kommt, dass Kinder in Pflegefamilien eingewiesen werden." Diese Entscheidungen werden im Bezirk und nicht auf Landesebene getroffen. Und auch Scheele spielte den Ball via Pressemeldung in Richtung Bezirk Mitte, indem er auf Aufklärung drängte, warum der Drogenkonsum der Pflegeeltern so lange unbemerkt geblieben sei. Unbemerkt von den Mitarbeitern des Jugendamtes. Letzteres sagte er zwar nicht, das sollte es aber heißen.
"Vielleicht ist nichts aus dem Fall Lara Mia gelernt worden", heißt es in der SPD. Noch hält der starke SPD-Kreisverbandschef von Mitte, Johannes Kahrs, schützend die Hand über Schreiber. Das hatte er auch in der Affäre um den Obdachlosenzaun getan. Noch fordert niemand den Rücktritt. Doch dieses Machtkonstrukt könnte ins Wanken geraten. Denn Kahrs ist auch Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses Mitte. Sollte der Bundestagsabgeordnete nun selbst unter Druck geraten, könnte es eng werden für Schreiber - Kahrs dürfte zunächst seine eigene Haut retten wollen. In der SPD sind die Beißhemmungen für einen Wechsel in Mitte nicht groß. Natürlich würde der Nachfolger ein rotes Parteibuch haben. Vor einer Filz-Debatte, das hat die Partei eindrucksvoll bewiesen, hat sie aber keine Angst.