Die Scheibles aus Stellingen nehmen seit zehn Jahren immer wieder Pflegekinder bei sich auf: aus christlicher Überzeugung, aber auch wegen des Geldes. Bereut haben sie es nie
Stellingen. Ein Plakat in der U-Bahn war vor zehn Jahren der Auslöser für Christine Scheible. "Familie auf Zeit" stand auf dem Aushang, mit dem der freie Jugendhilfeträger Pfiff nach Pflegeeltern suchte. "Dabei ging mir durch den Kopf: Uns geht es so gut, und unsere vier Kinder sind gesund - dieses Glück möchten wir teilen", erinnert sich die 45 Jahre alte Mutter.
Mit ihrem Mann Hans-Dieter entschied sich die gelernte Krankenschwester kurze Zeit später zur Bereitschaftspflege. Das bedeutet, Kinder vorübergehend bei sich aufzunehmen, die vom Jugendamt aus einer Notsituation herausgenommen wurden. Seit 2003 hat das Ehepaar aus Stellingen acht Pflegekinder zwischen zwei und 13 Jahren bei sich aufgenommen. Die schwer traumatisierten Kinder lebten zum Teil nur für wenige Wochen, zum Teil bis zu einem Jahr in der Familie - in einer Gemeinschaft, in der ihnen Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Liebe geschenkt wurde. Seit drei Jahren wohnt nun Manuel bei Christine und Hans-Dieter Scheible sowie den 15, 18, 20 und 22 Jahre alten Kindern. "Hier habe ich mich sofort wohl und geliebt gefühlt", sagt der heute 14 Jahre alte Dauerpflegesohn. Längst ist er ein Teil der Familie geworden.
"Unsere Motivation, Pflegeeltern zu werden, war unser christlicher Glaube, der Wunsch, den Schwächsten in unserer Gesellschaft zu helfen und ein Stück Glück abzugeben", sagt Christine Scheible, die zuvor als Tagesmutter tätig war. Aber auch das Geld für die Pflegekinder habe eine Rolle gespielt. Daraus habe sie nie ein Geheimnis gemacht. Angewiesen ist die Familie auf das Geld nicht, es ist nur ein Zubrot. "Aber sich um ein Pflegekind zu kümmern, sehe ich auch als Berufstätigkeit, die ich von zu Hause aus ausüben kann. Auch wenn der Verdienst minimal ist." Bevor Familie Scheible ein Pflegekind anvertraut wurde, wurde sie gewissenhaft überprüft. Unter anderem musste das Ehepaar einwandfreie polizeiliche Führungszeugnisse vorlegen, ein halbes Jahr lang eine Schulung besuchen und nachweisen, dass es das Pflegegeld nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt benötigt. "Zudem wurden mein Mann und ich getrennt voneinander zu unserer familiären Situation befragt", sagt Christine Scheible. Ja, sie habe das Gefühl, dass die Jugendämter und zuständigen freien Träger sehr genau und sorgfältig prüften, bei wem ein Pflegekind untergebracht werde.
Bis heute haben Scheibles einen regelmäßigen Kontakt zu dem Sozialpädagogen vom Träger Pfiff, der die Familie seit Jahren betreut. "Wir schreiben uns etwa E-Mails und telefonieren einmal im Monat." Zudem gibt es zweimal im Jahr sogenannte Hilfeplangespräche, bei denen unter anderem auch die leiblichen Eltern und das Pflegekind teilnehmen und zusammen eine Bilanz ziehen. Christine Scheible empfindet die Betreuung durch den Pädagogen als "sehr gut und intensiv". Ob es häufigere Kontrollen bei Pflegefamilien geben sollte, kann sie nicht beantworten. "Eine Garantie, dass dem Kind nichts passiert, gibt es ohnehin nicht." Man müsse auf die Intuition und fachliche Kompetenz der Sozialpädagogen vertrauen. Doch im Fall der kleinen Chantal haben die Kontrollinstanzen offenbar versagt. "Die Geschichte des Mädchens ist tragisch - aber es dürfen jetzt nicht alle Pflegefamilien, die viel Gutes tun, über einen Kamm geschoren werden."
Dem 14-jährigen Manuel bieten Scheibles seit drei Jahren ein harmonisches Zuhause. Mit elf Jahren zog er in das Reihenhaus der Familie - als seine mit Erziehung und Alltag überforderte Mutter einen psychischen Zusammenbruch erlitt. "Er war sehr ruhig, in sich gekehrt und konnte sich schlecht alleine beschäftigen", erinnert sich Christine Scheible. In seinem neuen Zuhause bekam er einen geregelten Alltag, Anerkennung und ein Stück heile Familie. Begegnet man Manuel heute, sitzt ein offener, selbstbewusster und fröhlicher Junge vor einem, der viel lacht und gerne mit seinen Pflegegeschwistern rumblödelt. Zu seiner Mutter hat Manuel nach wie vor Kontakt. Aber woanders zu leben als bei den Scheibles, das kann er sich nicht vorstellen.
Bereut hat das Ehepaar ihre Entscheidung nie, Pflegekinder aufzunehmen. Nur einmal habe es den Moment gegeben, in dem sie sich gefragt habe: Was tun wir uns hier eigentlich an?, sagt die 45-Jährige. "Damals hatten wir ein pubertierendes Mädchen bei uns, das sehr ungepflegt war und eine zerstörerische Wut in sich hatte." Der Aufenthalt der 13-Jährigen sei eine große Belastung gewesen. "Aber abbrechen wollten wir nicht", sagt Christine Scheible. "Schließlich würden Eltern bei eigenen Kindern auch nicht aufgeben."