Ein niederländischer Marinesoldat soll aus Sicht des Anwalts den Tod des Halbbruders eines angeklagten Somaliers in Kauf genommen haben.
Hamburg. Im Hamburger Piraten-Prozess hat der Verteidiger eines 28 Jahre alten Angeklagten Strafanzeige gegen einen Zeugen gestellt. Das teilte der Vorsitzende Richter in der Verhandlung am Mittwoch mit. Der Anwalt wirft dem niederländischen Marinesoldaten fahrlässige Tötung und Verstoß gegen die Geheimhaltungspflicht vor. Hintergrund war, dass der Soldat bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht den 28-Jährigen als Informanten enttarnte. Er soll Hintergründe zur Piraterie in Somalia preisgegeben haben. Daraufhin sei nach Angaben des Verteidigers der Halbbruder des Angeklagten in dessen Heimatland erschossen worden. Zehn mutmaßliche somalische Piraten müssen sich wegen Gefährdung des Seeverkehrs und erpresserischen Menschenraubs in der Hansestadt verantworten.
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Angeklagter erhebt Vorwürfe gegen niederländische Marine
Schlaff hängen die Schultern herunter, er vergräbt sein Gesicht in den Händen. Der ganze Mensch, es ist Abdul D., einer der zehn somalischen Angeklagten im Hamburger Piraten-Prozess. Er wirkt kraftlos und in sich zusammengesunken. Bevor sein Verteidiger Andreas Thiel die Erklärung des mutmaßlichen Piraten verliest, kündigt er an: „Nach der Einlassung wird es heute wohl nicht weitergehen.“
Und er behält Recht. Was Abdul D., 28, so völlig aus der Bahn geworfen hat, wird offenkundig, als Thiel „Teil zwei“ der Erklärung seines Mandanten verliest. Es klingt gleichermaßen schockierend wie unglaublich: Der ältere Halbbruder seines Mandanten sei vor wenigen Tagen in Somalia erschossen worden – kurz nachdem ein holländischer Zeuge Abdul D. vor dem Hamburger Landgericht öffentlich als Verräter gebrandmarkt hatte.
Soldaten der holländischen Fregatte „Tromp“ hatten die zehn Piraten am 5. April 2010 kurz nach der Kaperung des Hamburger Frachters „Taipan“ überwältigt. Der Marineoffizier Paul Richard de W. leitete die Vernehmung der auf der „Tromp“ festgesetzten Piraten. Einer der besonders reuevollen Piraten habe Informationen an ihn weitergegeben, so brisant, dass sie als geheim eingestuft wurden, so de W. in der Verhandlung am 9. März. Auf Nachfrage, wer der Informant gewesen sei, zeigte er auf Abdul D., wodurch der 28-Jährige öffentlich enttarnt wurde. Für seinen Verteidiger Thiel ein Skandal, denn de W. hätte sich auf Geheimhaltung berufen können. Zudem sei seinem Mandanten damals in Aussicht gestellt worden, dass seine Kooperation mit den niederländischen Behörden auch im aktuellen Hamburger Prozess von Vorteil sein könne. Thiels bitteres Fazit: „Den Verrat liebt man, den Verräter nicht.“
Nur einen Tag nach der Aussage tauchten, so Thiel, „bewaffnete Leute, die mit den Piraten zu tun haben“, bei der Familie seines Mandanten auf. Sie stellten Fragen: Was hat Abdul D. den Niederländern erzählt? Arbeitet er für sie? Kurz darauf sei Abdul D.s Frau mit seinem Sohn und seiner Mutter „an einen sicheren Ort“ geflüchtet. Der Vater hingegen, alt und gebrechlich, habe sich nicht absetzen können. Die Banditen hätten ihn unter Druck gesetzt: Wenn er nicht rede, werde sein Sohn – der ältere Halbbruder von Abdul D. – sterben. Doch weil der Mann gar nichts wusste, konnte er nichts erzählen. Am 11. April habe er die Nachricht erhalten, dass sein Bruder erschossen worden sei, so Abdul D. Sein Mandant behalte sich nun vor, die geheimen, von den niederländischen Behörden noch immer unter Verschluss gehaltenen Informationen offenzulegen, sagt Thiel, „damit der Tod seines Bruder nicht völlig sinnlos war.“
Seit gut 20 Jahren tobt im bettelarmen Somalia ein Bürgerkrieg. Anarchie und Bandenkriminalität machen den Alltag für viele Somali zum fortwährenden Überlebenskampf. In beinahe romanhaften Zügen schildert Thiel die traurige Lebensgeschichte seines Mandanten. Abdul D. hatte sie selber aufgeschrieben. Wie er in ein Umfeld „von unendlicher Traurigkeit“ hineingeboren wurde, wie er in den Wirren des Bürgerkriegs mit seiner Mutter von einer Stadt in die nächste flüchtete, hungernd und unentwegt ums eigene Leben bangend. Wie er sich zeitweise sogar von Kadavern ernährte. Und wie ausgerechnet sein Mentor kurz nach seiner Hochzeit durch einen Blindgänger starb. „Ich bin wütend auf die gesamte somalische Bevölkerung“, so Abdul D., „Sie haben keine Regierung, keinen Staat, keine Ordnung – und jetzt verunsichern sie auch noch den Rest der Welt“. Er meint die Piraten-Angriffe auf westliche Frachtschiffe.
Dabei hat sich Abdul D. selbst an einem Angriff beteiligt – an eben dem auf den Hamburger Containerfrachter Taipan. Zur Tat werde sich der 28-Jährige jedoch nicht einlassen, um seine Familie nicht noch weiter zu gefährden, so Thiel. Abdul D. erzählt aber, wie er zu den Piraten kam. Offenbar wurde ihm zum Verhängnis, dass er ein paar Brocken Englisch sprach. Im Frühjahr 2010 sei er an eine Gruppe dubioser Männer geraten, einer habe ihm 200 US-Dollar gegeben – ein Vermögen in Somalia. Wenig später sei er von den bewaffneten Männern zu einer Hafenstadt gebracht worden. „Da wusste ich, dass es um das Kapern von Schiffen geht“, so Abdul D. Er müsse bei verschiedenen Piraten-Einsätzen solange übersetzen, bis seine Schuld beglichen sei, hätten ihm seine Peiniger erklärt. Er habe keine andere Wahl gehabt, so Abdul D. „In Somalia hat ein Mann mit einer Waffe das letzte Wort.“
Auch andere Verteidiger im Hamburger Piraten-Prozess hatten auf die widrigen Lebensumstände ihrer Mandanten in Somalia hingewiesen. Der Anwalt eines 24-Jährigen begründete damit eine anhaltende psychische Störung, aufgrund derer sein Mandant zum Tatzeitpunkt möglicherweise nicht voll schuldfähig war. Den Antrag auf ein psychiatrisches Gutachten wies das Gericht jedoch zurück. Der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz: „Schlimme Erfahrungen müssen nicht zwangsläufig zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen.“
Mit Material von dpa