Essen. Evonik plant harte Einschnitte – insbesondere in Deutschland und dort bei den Führungskräften. Vorstand strebt Sozialplan an.
Der jahrelang erfolgsverwöhnte Essener Chemiekonzern Evonik will angesichts einer schwierigen Lage in Deutschlands Industrie bis zu 2000 Arbeitsplätze abbauen, davon rund 1500 Stellen auf dem Heimatmarkt. Das hat Vorstandschef Christian Kullmann bei der Bilanzvorlage von Evonik angekündigt. „Wir dürfen uns auch bei leichten Erholungssignalen nichts vormachen“, so Kullmann. „Was wir derzeit erleben, ist keine konjunkturelle Schwankung, sondern eine massive, konsequente Veränderung unseres wirtschaftlichen Umfelds.“ Von einem „Epochenwandel“ spricht Kullmann bei der Bilanzpressekonferenz in der Essener Konzernzentrale. Auf die neue Lage reagiere das Management mit einer dauerhaften Veränderung der Organisationsstruktur.
Das Programm trägt den Titel „Evonik Tailor Made“, zu Deutsch: „maßgeschneidert“. Das Ziel sei, dass der Chemiekonzern „schlanker und schneller“ werde sowie Einsparungen erreiche. Der Vorstand rechne damit, dass die jährlichen Kosten des Konzerns nach Abschluss des Programms im Jahr 2026 um rund 400 Millionen Euro niedriger liegen werden. Diese Einsparungen entfallen Unternehmensangaben zufolge zu rund 80 Prozent auf Personalkosten und zu rund 20 Prozent auf Sachkosten. Erste Spareffekte soll es bereits im laufenden Jahr geben. Zur Einordnung: Mit 1500 Stellen sollen 7,5 Prozent der bundesweit 20.000 Arbeitsplätze wegfallen. Weltweit gehören rund 33.000 Beschäftigte zu Evonik. Große Standorte von Evonik befinden sich unter anderem in Marl im nördlichen Ruhrgebiet, in Wesseling bei Köln und am Konzernsitz in Essen.
Wie der geplante Stellenabbau „im Detail sozialverträglich gestaltet“ werde, verhandle der Vorstand in den kommenden Wochen mit den Arbeitnehmervertretern, so das Unternehmen. In den vergangenen Monaten seien „sämtliche Strukturen und Abläufe im Unternehmen umfangreich analysiert“ worden. Die erste Phase des Programms „Evonik Tailor Made“ sei damit abgeschlossen. Auf Basis dieser Erkenntnisse werde „eine neue Zielorganisation entworfen“, die bis Ende 2026 etabliert werden solle. Auf Verwaltungstätigkeiten, „die nicht direkt das Geschäft unterstützen“, wolle Evonik künftig, „wo immer möglich“, verzichten.
Evonik verkauft das Babywindel-Geschäft
Geld soll auch durch einen Firmenverkauf in die Kasse von Evonik kommen. Vom Geschäft mit Superabsorbern, die für Babywindeln gebraucht werden, trennt sich der Essener Chemiekonzern. Im Superabsorber-Bereich arbeiten Unternehmensangaben zufolge rund 1000 Beschäftigte von Evonik weltweit, etwa die Hälfte davon in Krefeld. Auch in Marl sowie in den USA gibt es Standorte. Der Käufer ist Unternehmensangaben zufolge der Chemie-Investor ICIG mit Sitz in Frankfurt am Main, der bislang mit mehr als 6200 Beschäftigten einen Jahresumsatz von über 4,6 Milliarden Euro erwirtschaft. Evonik-Chef Kullmann spricht bei der Bilanzpressekonferenz von einem „guten Deal“. Das Superabsorber-Geschäft werde mit einer niedrigen dreistelligen Millionen-Euro-Summe bewertet. ICIG sei „ein verlässlicher Investor“. Zuletzt steuerte das Superabsorber-Geschäft knapp 900 Millionen Euro zum Jahresumsatz von Evonik bei.
Das Programm „Tailor Made“ ordnet Evonik-Personalvorstand Thomas Wessel als „tiefgreifendsten Umbau“, den Evonik je hatte, ein. Das Programm werde „hart“ und „auch schmerzhaft“ sein, sagt Vorstandschef Kullmann bei der Bilanzpressekonferenz. Besonders stark sollen die Einschnitte bei den Führungskräften sein. Etwa 500 Stellen von Führungskräften wolle Evonik abbauen, so Kullmann. Angestrebt werde auch, „rund 1000 Führungskräften die Möglichkeit zu geben, ohne Führungsverantwortung als Fachexperten weiter im Konzern zu arbeiten“.
Insgesamt habe sich das Management die Aufgaben von 4600 Beschäftigten angeschaut, die sowohl mit fachlichen Aufgaben als auch mit einer Führungsfunktion im Unternehmen betraut seien. Davon könnten sich nach Einschätzung des Vorstands voraussichtlich 1000 Beschäftigte auf ihre „fachlich anspruchsvolle Aufgabe konzentrieren“. Es gehe oftmals um „Experten“ und „Spezialisten“, so Wessel. Ob die betroffenen bisherigen Führungskräfte auch auf Gehalt verzichten sollen? Das lässt der Evonik-Vorstand bei der Bilanzpressekonferenz offen. Wessel zeigt sich optimistisch, „zu guten Lösungen“ kommen zu können.
Personalvorstand Wessel: „Evonik wird in zwei Jahren anders aussehen“
Die Anzahl der Hierarchieebenen unterhalb des Vorstands werde auf maximal sechs reduziert, zugleich würden Prüf- und Freigabeverfahren bei Unternehmensentscheidungen erheblich beschleunigt, heißt es in einer Mitteilung von Evonik. Führungskräfte werden dann in aller Regel sieben Beschäftigte führen, derzeit liege die so genannte Führungsspanne noch bei eins zu vier. Dies gelte nicht nur für die Verwaltung, sondern für sämtliche Bereiche im Konzern.
Bis Ende 2026 soll das Projekt „Evonik Tailor Made“ umgesetzt sein. „Es ist klar, dass unser Unternehmen in zwei Jahren anders aussehen wird – deutlich dynamischer und leistungsfähiger“, sagt Personalvorstand Wessel. Im Jahr 2022 hat der Vorstand für einen Zeitraum von zehn Jahren einen Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen zugesagt. Daran ändere sich nichts, so Wessel. In wenigen Tagen will das Management indes Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern zu einem Interessenausgleich und einem Sozialplan aufnehmen. Dabei dürften auch Fragen nach Abfindungszahlungen und Frühverrentungszielen eine Rolle spielen.
Unter dem Strich im Jahr 2023 rote Zahlen bei Evonik
Es sind harte Zeiten für den erfolgsverwöhnten Essener Konzern, der in NRW unter anderem einen großen Chemiestandort in Marl betreibt. Unter dem Strich weist Evonik für das Jahr 2023 einen Verlust von 465 Millionen Euro aus. „Das gab es bei Evonik noch nie“, sagt die neue Evonik-Finanzchefin Maike Schuh. Im Vorjahr hatte das Konzernergebnis noch 540 Millionen Euro betragen. Das Management erklärt zur Jahresbilanz, für das Jahr 2024 erwarte Evonik bisher keine echte konjunkturelle Erholung.
„In schwierigen Zeiten gilt es zuallererst, das Geld zusammenzuhalten“, sagt Finanzchefin Schuh. „Wir haben unsere Handlungshoheit bewahrt. Das war bisweilen schmerzhaft, aber es war auch erfolgreich.“
Die Dividende will das Management trotz des Konzernverlusts indes stabil halten. Der Vorstand werde der Hauptversammlung am 4. Juni vorschlagen, die jährliche Dividende unverändert bei 1,17 Euro je Aktie zu belassen. Dies entspreche einer „hoch attraktiven“ Dividendenrendite von etwa sieben Prozent. „Kontinuität bei der Dividende spielt für unsere langfristig orientierten Anleger eine große Rolle“, sagt Schuh. Ein „guter Free Cashflow“ in der Bilanz mache die Überweisung an die Aktionäre möglich. Die Mehrheit der Evonik-Aktien gehört der Essener RAG-Stiftung, die von Bernd Tönjes geführt wird. Tönjes ist auch Vorsitzender des Evonik-Aufsichtsrats. Die Stiftung ist in den vergangenen Monaten unter Druck geraten, weil sie durch Insolvenzen des Signa-Firmenreichs von René Benko belastet wird.
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Im Jahr 2023 hat Evonik eigenen Angaben zufolge die im Sommer reduzierte Prognose trotz der schwierigen Lage in der Chemieindustrie erreicht. Das bereinigte Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) lag demnach bei 1,66 Milliarden Euro und damit innerhalb der angestrebten Spanne von 1,6 bis 1,8 Milliarden Euro. Der Konzernumsatz sank um 17 Prozent auf 15,3 Milliarden Euro. „Die vielen Krisen weltweit haben uns das Ergebnis verhagelt“, konstatiert Vorstandschef Kullmann. „Insgesamt sind wir noch mit einem blauen Auge davongekommen.“ Weil die Lage jedoch „nicht leichter“ werde, sei nun ein „grundlegenden Konzernumbau“ erforderlich.
IGBCE lehnt „reines Kosten-Einsparprogramm“ ab
Die Chemie-Gewerkschaft IGBCE reagiert mit Skepsis auf den angekündigten Stellenabbau. „Wir verstehen die Notwendigkeit, in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten bestehende Strukturen im Konzern zu hinterfragen und zu verbessern“, sagt Alexander Bercht, IGBCE-Vorstandsmitglied und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender von Evonik. Es müsse allerdings nun „der Beweis angetreten werden, dass die angekündigten Strukturveränderungen die Leistungsfähigkeit des Konzerns nachhaltig verbessern“, so Bercht. „Ein reines Kosten-Einsparprogramm würde den Herausforderungen, vor denen das Unternehmen steht, nicht gerecht.“ Die Stellenreduzierungen dürften nicht zu einer Mehrbelastung führen.
„Angesichts der umfangreichen und tiefgreifenden Maßnahmen ist es von besonderer Bedeutung, den Beschäftigten Sicherheit zu geben und Zukunftsperspektiven aufzuzeigen“, mahnt Bercht. Der vereinbarte Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 2032 sei dafür eine wichtige Grundlage. „Der geplante Jobabbau in Deutschland muss sozialverträglich erfolgen, vorrangig über natürliche Fluktuation und Angebote an Beschäftigte, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen“, sagt das IGBCE-Vorstandsmitglied.
Zudem fordere die IGBCE gemeinsam mit dem Evonik-Betriebsrat ein „klares Bekenntnis zu den deutschen Standorten“, das durch entsprechende Investitionen sichtbar werden müsse. Das Investitionsvolumen von Evonik in Deutschland bis zum Jahr 2032 – unter anderem für den Aufbau nachhaltiger Geschäfte – sollte nach Einschätzung der Arbeitnehmervertreter von bisher angekündigten vier auf rund fünf Milliarden Euro aufgestockt werden.
Ausgliederung von Infrastruktur-Geschäft könnte 3000 Jobs in Marl direkt betroffen
Über das Programm „Tailor Made“ hinaus steht in den kommenden Jahren ein weiterer tiefgreifender Umbau bei Evonik bevor. So plant der Vorstand um Konzernchef Kullmann eine Ausgliederung von weiten Teilen der wichtigen Einheit „Technology & Infrastructure“ (TI), die für den Betrieb von acht Evonik-Standorten in Deutschland und Belgien zuständig ist und zu der mehr als 8000 Evonik-Beschäftigte gehören. TI sei die „mitarbeiterintensivste Einheit“ von Evonik, so Personalchef Wessel.
Die Beschäftigten kümmern sich unter anderem um Bahngleise, Straßen und Häfen rund um die Chemieanlagen. Auch der Werkschutz und die Betriebsfeuerwehr gehören zu den Aufgaben. Hinzu kommen Technologie-Aktivitäten – etwa die Digitalisierung der Produktion, Verfahrenstechnik sowie Ingenieurstätigkeiten. Letztere sollen im Evonik-Konzern bleiben. Vom klassischen Infrastruktur-Betrieb hingegen könnte sich Evonik trennen. Ein Verkauf sei ebenso möglich wie der Einstieg eines Investors mit der Gründung einer Gemeinschaftsfirma.
Weitere Firmenverkäufe bei Evonik geplant
Ihre Dienstleistungen erbringt die Evonik-Firma TI nicht nur für den eigenen Konzern, sondern auch für andere Unternehmen – zum Beispiel für weitere Chemiebetriebe, die am NRW-Standort Marl angesiedelt sind. Die Frage, was aus der Einheit TI wird, hat eine große Bedeutung bei Evonik. Allein in Marl beschäftigt der Konzern eigenen Angaben zufolge etwa 7000 Mitarbeiter – rund 1000 Auszubildende eingeschlossen. 3000 Beschäftigte könnten der neuen Infrastruktur-Gesellschaft zugeordnet werden, die möglicherweise verkauft wird. Personalvorstand Wessel berichtet, auch mit Blick auf dieses Thema sei das Management im Gespräch mit den Arbeitnehmervertretern. Es gehe darum, die Zuordnung der Beschäftigten „verantwortungsbewusst durchzuführen“. Bis Ende 2025 soll die neuen Firmenstruktur stehen.
Trennen will sich Evonik-Chef Kullmann auch von energieintensiven Geschäften, zu denen die sogenannte C4-Chemie gehört. Es geht um einen Bereich mit etwa 1000 Beschäftigten, viele davon mit Arbeitsplätzen in Marl. Die Produkte der C4-Chemie sind nach Darstellung des Unternehmens die Grundlage für die Herstellung von Produkten wie Autoreifen, PVC-Fußböden, Sportflaschen oder Lebensmittelverpackungen. Ein Verkauf des C4-Geschäfts, den Evonik schon vor Monaten angekündigt hat, sei weiterhin das Ziel, so Kullmann. Zur Vorbereitung sei eine Verselbstständigung der Einheit („Carve out“) abgeschlossen. Das Management wolle sich aber mit Blick auf den angestrebten Verkauf nicht zeitlich unter Druck setzen lassen oder das Unternehmen unter Wert abgeben.
Evonik bündelt die Geschäfte in vier Divisionen rund um Produkte für die Pharma-, Kosmetik- und Ernährungsindustrie („Nutrition & Care“), Werkstoffe („Smart Materials“), Additive für die industrielle Anwendung („Specialty Additives“) sowie rohstoff- und energieintensive Basischemie („Performance Materials“). Als „Wachstums-Divisionen“ sieht Vorstandschef Kullmann lediglich die drei zuerst genannten Bereiche.
Verträge von Evonik zum BVB-Sponsoring laufen Mitte 2025 aus
Auf Nachfrage äußert sich Evonik-Chef Kullmann bei der Bilanzpressekonferenz in Essen auch zum Fußball-Sponsoring seines Konzerns beim Bundesligisten Borussia Dortmund. Kullmann, der auch Aufsichtsratschef des BVB ist, betont, sein Konzern habe das finanzielle Engagement in den zurückliegenden Jahren bereits „deutlich zurückgefahren“. Die aktuellen Sponsoring-Verträge mit Borussia Dortmund enden Mitte 2025, wie Kullmann berichtet. In den nächsten Wochen wolle Evonik mit den Dortmunder darüber sprechen, „ob und wie“ es weitergehe. Viele Jahre lang war Evonik in der Bundesliga der Trikot-Sponsor der Borussia. Diese Rolle hat mittlerweile der Telekommunikationskonzern 1&1 übernommen.
Die Partnerschaft des Essener Chemiekonzerns mit Borussia Dortmund reicht bis in den Sommer 2006 zurück, als der Name Evonik noch nicht reif für die Öffentlichkeit war. Nur ein kleiner Kreis um den damaligen Konzernchef Werner Müller kannte seinerzeit die neue Marke. Die Folge war ein ungewöhnliches Sponsoring: Die Mannschaft trug eine Saison lang ein Trikot, auf dem ein grünes Ausrufezeichen war. Erst mehr als ein Jahr später tauchte der Name Evonik auf, wenige Tage nach der Konzerngründung am 12. September 2007.