Essen. Der erfolgsverwöhnte Essener Chemiekonzern Evonik verbucht Verluste. Konzernchef Kullmann will mit einem Sparprogramm gegensteuern.

Dass sich der Essener Chemiekonzern Evonik im Krisenmodus befindet, wird schon bei den ersten Worten von Vorstandschef Christian Kullmann während einer Telefonkonferenz für Finanzanalysten deutlich. Kullmann zitiert Joseph Kennedy mit einem Satz, der als Leitspruch der berühmten US-Familie gilt. Er lautet sinngemäß: „Wenn es hart auf hart kommt, legen die Harten los.“

Es sind schwere Zeiten für Evonik. Der erfolgsverwöhnte Konzern schreibt rote Zahlen. Im ersten Dreivierteljahr hat Evonik einen Verlust von 319 Millionen Euro verbucht, wie aus der Zwischenbilanz hervorgeht. Im Vorjahreszeitraum erwirtschaftete Evonik noch ein Konzernergebnis in Höhe von 824 Millionen Euro.

Vorstandschef Kullmann will mit einem strikten Sparkurs gegensteuern: Freiwerdende Stellen im Unternehmen sollen nicht nachbesetzt werden. Auch durch einen Verzicht auf externe Dienstleister und Dienstreisen sollen die Kosten sinken.

An einigen deutschen Standorten schickt das Management einen Teil der Belegschaft in Kurzarbeit, wie die neue Evonik-Finanzchefin Maike Schuh in der Analysten-Konferenz berichtet. Zeitweise würden Anlagen heruntergefahren, sagt die Managerin. Als Beispiel nennt sie das Geschäft mit Silikonen.

Auch Evonik-Standort Goldschmidt in Essen von Kurzarbeit betroffen

Auf Anfrage unserer Redaktion erklärt Evonik, bundesweit seien derzeit 380 Beschäftigte in Kurzarbeit. Wo die Nachfrage niedrig sei, werde die Arbeitszeit um bis zu 30 Prozent verringert. Neben der Produktion von Silikonen gehe es unter anderem um die Herstellung von Wasserstoffperoxid. Die betroffenen Mitarbeiter in den Evonik-Werken erhielten Kurzarbeitergeld von der Bundesagentur für Arbeit (BA). Damit seien für die Beschäftigten finanzielle Einbußen verbunden, die Bezahlung werde aber auf 90 Prozent aufgestockt. Zu den Standorten, an denen es Kurzarbeit gebe, gehöre auch das Werk von Evonik-Goldschmidt in Essen. Gemessen an den knapp 20.000 Beschäftigten von Evonik in Deutschland sei das Ausmaß der Kurzarbeit allerdings überschaubar, wird bei Evonik betont.

Kürzungen zeichnen sich indes auch bei den Investitionen des Chemiekonzerns ab. Das Management werde „auch im kommenden Jahr Investitionen und andere Ausgaben weiter intensiv hinterfragen“, kündigt Evonik-Finanzchefin Schuh an. Es gehe darum, das „finanzielle Fundament“ des Unternehmens zu festigen.

Kullmann: „Konjunkturelle Erholung lässt weltweit auf sich warten“

Evonik beschäftigt rund 34.000 Mitarbeiter. Große Standorte befinden sich unter anderem in Marl im nördlichen Ruhrgebiet und am Konzernsitz in Essen. Die Lage im dritten Quartal des Geschäftsjahres, also von Juli bis September, sei weiterhin „schwierig“ gewesen, heißt es im Zwischenbericht von Evonik. In den ersten neun Monaten des Jahres habe Evonik „eine außergewöhnlich schwache Nachfrage“ verzeichnet. Auch „deutliche Preisrückgänge“ belasteten die Bilanz. „Die konjunkturelle Erholung lässt weltweit auf sich warten“, kommentiert Vorstandschef Kullmann die aktuelle Geschäftsentwicklung.

Im August hat Kullmann bereits die Gewinnerwartungen nach unten korrigiert – erstmals in seiner Zeit an der Spitze des Essener Chemiekonzerns. Diesen Ausblick bestätigt die Evonik-Führung mit der Vorlage des aktuellen Zwischenberichts.

Zu Wochenbeginn hatte der Leverkusener Chemiekonzern Lanxess erneut seine Prognose gesenkt. Außerdem will Lanxess seine Dividende für das laufende Jahr drastisch kürzen – auf zehn Cent nach 1,05 Euro im Vorjahr.

Evonik-Dividende wichtige Einnahmequelle von Essener RAG-Stiftung

Bei Evonik spielt traditionell die Dividende eine wichtige Rolle, denn sie ist eine wichtige Einnahmequelle der Essener RAG-Stiftung, aus deren Kasse die Folgekosten des deutschen Steinkohlebergbaus finanziert werden sollen. Die von Evonik-Aufsichtsratschef Bernd Tönjes geführte Stiftung, die auf dem Essener Welterbe-Areal Zollverein residiert, ist Mehrheitseigentümerin des Chemiekonzerns und hält 54 Prozent der Aktien. Eine Entscheidung zur nächsten Evonik-Dividende steht noch aus.

Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann, hier bei einem Termin im Sommer 2023 in Bochum, verordnet dem Konzern einen eisernen Sparkurs.
Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann, hier bei einem Termin im Sommer 2023 in Bochum, verordnet dem Konzern einen eisernen Sparkurs. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Der Verlust in der Zwischenbilanz von Evonik ist insbesondere eine Folge von Wertberichtigungen. Diese seien aufgrund der „schwachen wirtschaftlichen Geschäftsentwicklung“ notwendig geworden, erklärt das Evonik-Management. Bereits im Sommer hat der Vorstand Wertminderungen vorgenommen, nun habe es Anlass für weitere Korrekturen gegeben. Im Dreivierteljahr 2023 gehe es um Wertberichtigungen von insgesamt 452 Millionen.

Die Auftragslage in der Chemieindustrie bleibe angespannt, berichtet das Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo. Im Oktober hätten sich 48,2 Prozent der Unternehmen der Branche in einer Umfrage entsprechend geäußert. Im Juli seien es 40,9 Prozent gewesen. „Der Wettbewerbsdruck aus dem nicht-europäischen Ausland nimmt weiter zu“, sagt Ifo-Expertin Anna Wolf. Die heimische Chemieindustrie steht insbesondere aufgrund hoher Energiepreise in Deutschland unter Druck. „Zwar sind die Strompreise wieder gesunken, sind aber im internationalen Vergleich weiterhin hoch“, urteilt Wolf.

Freiwerdende Stellen sollen bei Evonik nicht nachbesetzt werden

Unter anderem durch eine Nicht-Nachbesetzung freiwerdender Stellen, „Disziplin beim Einsatz von externen Dienstleistern“ und „Einschränkungen bei dienstlichen Reisen“ will das Evonik-Management eigenen Angaben zufolge im laufenden Jahr 250 Millionen Euro einsparen. In den ersten neun Monaten des Jahres seien etwa 70 Prozent dieser angestrebten Einsparungen erreicht worden. Konzernchef Kullmann sagt, der Vorstand konzentriere sich „auf die Hebel, die wir selbst in der Hand haben“. Dies zeige „auf der Kostenseite zunehmend Wirkung“.

Der Vorstand strebt auch an, die gesamte Verwaltung von Evonik „neu aufzustellen“. Ziele seien „deutlich schlankere Strukturen, schnellere Entscheidungen sowie effizientere Abläufe“. Das Projekt trägt den Namen „Tailor Made“, was „passgenau“ oder „maßgeschneidert“ bedeuten soll.

Am häufigsten gebe es bei Evonik in der Verwaltung momentan „eine Führungsspanne eins zu drei“, so der für das Projekt zuständige Evonik-Manager Randolf Bursian. Das bedeute: Eine Führungskraft sei für drei Beschäftigte zuständig. „Eine gesunde Führungsspanne liegt mindestens bei eins zu sieben.“ Wie viele Stellen durch das Programm „Tailor Made“ wegfallen sollen, lässt das Management offen. Der Schutz vor betriebsbedingten Beendigungskündigungen bei Evonik in Deutschland bis Ende 2032 bleibe bestehen, betont der Vorstand.

Evonik-Vorstand will Infrastruktur-Geschäft ausgliedern

Auch an den Chemiestandorten von Evonik steht ein tiefgreifender Umbau bevor. Der Vorstand um Konzernchef Kullmann plant eine Ausgliederung von weiten Teilen der wichtigen Einheit „Technology Infrastructure“, zu der rund 8300 der insgesamt etwa 34.000 Evonik-Beschäftigten weltweit gehören – also etwa jeder vierte Mitarbeiter im Konzern.

Die konzerneigene Technology Infrastructure GmbH – kurz TI – ist derzeit für den Betrieb von acht Evonik-Standorten in Deutschland und Belgien zuständig. Die Beschäftigten der Evonik-Einheit kümmern sich unter anderem um Bahngleise, Straßen und Häfen rund um die Chemieanlage. Der Werkschutz und die Betriebsfeuerwehr gehören ebenfalls zu den Aufgaben. Hinzu kommen Technologie-Aktivitäten – etwa die Digitalisierung der Produktion, Verfahrenstechnik sowie Ingenieurstätigkeiten.

Ihre Dienstleistungen erbringt die Evonik-Firma nicht nur für den eigenen Konzern, sondern auch für andere Unternehmen – zum Beispiel für weitere Chemiebetriebe, die an den nordrhein-westfälischen Standorten Marl und Wesseling angesiedelt sind.

Das Evonik-Management um Kullmann prüft einen Verkauf der Einheit TI – denkbar sei auch die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens („Joint-Venture-Modell“) mit Investoren, heißt es in der Mitteilung von Evonik. „Alle Optionen“ seien denkbar. Im Blick hat der Vorstand insbesondere die drei großen Evonik-Standorte in Marl, im belgischen Antwerpen sowie in Wesseling zwischen Köln und Bonn. Bis Ende 2025 will das Management eigenständige Unternehmen für das Infrastruktur-Geschäft rund um die drei Chemie-Standorte gründen. Danach wolle Evonik „ergebnisoffen prüfen“, wie es weitergehe.

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