Essen. Unruhige Zeiten bei Evonik: Der Vorstand will weite Teile einer wichtigen Konzerneinheit mit 8300 Jobs ausgliedern. Die IGBCE reagiert skeptisch.

Beim Essener Chemiekonzern Evonik steht ein tiefgreifender Umbau bevor. Der Vorstand um Konzernchef Christian Kullmann plant eine Ausgliederung von weiten Teilen der wichtigen Einheit „Technology & Infrastructure“, zu der rund 8300 der insgesamt etwa 34.000 Evonik-Beschäftigten weltweit gehören – also etwa jeder vierte Mitarbeiter im Konzern.

Die konzerneigene Technology & Infrastructure GmbH – kurz TI – ist derzeit für den Betrieb von acht Evonik-Standorten in Deutschland und Belgien zuständig. Die Beschäftigten der Evonik-Einheit kümmern sich unter anderem um Bahngleise, Straßen und Häfen rund um die Chemieanlage. Auch der Werkschutz und die Betriebsfeuerwehr gehören zu den Aufgaben. Hinzu kommen Technologie-Aktivitäten – etwa die Digitalisierung der Produktion, Verfahrenstechnik sowie Ingenieurstätigkeiten.

Ihre Dienstleistungen erbringt die Evonik-Firma nicht nur für den eigenen Konzern, sondern auch für andere Unternehmen – zum Beispiel für weitere Chemiebetriebe, die an den nordrhein-westfälischen Standorten Marl und Wesseling angesiedelt sind. Auch am Standort Mobile im US-Bundesstaat Alabama sowie im chinesischen Shanghai bietet die Evonik-Firma Dienstleistungen an. Im Geschäftsjahr 2022 erzielte die Division einen Außenumsatz in Höhe von 1,5 Milliarden Euro.

Große Standorte Marl, Wesseling und Antwerpen betroffen

Durch Unternehmensverkäufe, die Evonik plant, werde sich die Kundenstruktur der Einheit TI „künftig deutlich verändern“, heißt es bei Evonik. „An einigen Standorten wird der mit Abstand größte Anteil dann externes Geschäft sein.“ Daher plant der Konzern nun eine Zweiteilung der Organisation. Nach der Aufspaltung stellt Evonik das Infrastruktur-Geschäft zum Verkauf.

Der Chemiepark Marl ist mit rund 11.000 Beschäftigten einer der größten Standorte der Branche in Deutschland.
Der Chemiepark Marl ist mit rund 11.000 Beschäftigten einer der größten Standorte der Branche in Deutschland. © FUNKE Foto Service | Hans Blossey

Im Blick hat der Vorstand um Konzernchef Kullmann insbesondere die drei großen Evonik-Standorte in Marl, im belgischen Antwerpen sowie in Wesseling zwischen Köln und Bonn. Bis Ende 2025 will das Management eigenständige Unternehmen für das Infrastruktur-Geschäft rund um die drei Chemie-Standorte gründen. Danach wolle Evonik „ergebnisoffen prüfen“, wie es weitergehe, erklärt das Unternehmen am Montag (25. September) in einer Mitteilung.

Auch ein Verkauf der Evonik-Einheit TI ist denkbar – IGBCE skeptisch

Auch ein Verkauf sei möglich – ebenso wie Gemeinschaftsunternehmen („Joint-Venture-Modelle“) mit Investoren, heißt es in der Mitteilung von Evonik. „Alle Optionen“ seien denkbar. Aus Sicht von Evonik stelle sich die Frage, „welche individuellen Modelle jedem einzelnen Standort die besten Finanzierungsmöglichkeiten bieten“.

Es ist ein heikles Manöver. Schließlich geht es um einen Bereich, zu dem besonders viele Mitarbeiter gehören. „Die TI und deren Beschäftigte leisten an unseren Standorten Tag und Nacht sehr gute Arbeit“, wird Evonik-Personalvorstand Thomas Wessel in der Mitteilung des Unternehmens zitiert. „Wir werden ihnen die beste Perspektive für die Zukunft geben.“ Schätzungen zufolge könnten rund 4000 Beschäftigte in die neuen Infrastruktur-Betreiberfirmen wechseln.

Die Gewerkschaft IGBCE reagiert skeptisch mit Blick auf die Ausgliederungspläne des Evonik-Vorstands. „TI und ihre Beschäftigten bilden das technologische Rückgrat von Evonik“, erklärt die IGBCE auf Anfrage unserer Redaktion. „Die Ausgliederung wäre hochkomplex, mit Risiken behaftet und der tatsächliche Erfolg aus heutiger Sicht zumindest offen. Unsere Position ist daher klar: Ohne nachweislichen Mehrwert sind organisatorische Veränderungen nicht zielführend.“ Die Arbeitnehmerseite werde „den Prozess daher sehr kritisch begleiten“. Die IGBCE betont, es sei vereinbart worden, dass die Einheit TI „bis mindestens Mitte 2027 integraler Bestandteil des Unternehmens“ bleibe.

Evonik will sich von einigen Aktivitäten am Chemiestandort Marl trennen

Ob der Chemiestandort Marl tatsächlich in einigen Jahren nicht mehr von Evonik betrieben wird? Es wäre eine gravierende Veränderung für einen der größten Chemiestandorte Deutschlands. Von den rund 11.000 Beschäftigten am Standort im Norden des Ruhrgebiets sind derzeit etwa 7000 Menschen direkt bei Evonik beschäftigt – und rund 4000 bei anderen Arbeitgebern. Dieses Verhältnis könnte sich perspektivisch umkehren, wenn die angedachten Veränderungen des Evonik-Managements Realität werden.

Aus Sicht des Vorstands stellt sich die Frage, in welche Geschäfte künftig die großen Investitionen fließen sollen. Vorstandschef Kullmann will das Profil von Evonik als „Spezialchemiekonzern“ schärfen und setzt unter anderem auf das Geschäft als Zulieferer für die Pharmaindustrie. Trennen will sich Kullmann indes von energieintensiven Geschäften, zu denen unter anderem die sogenannte C4-Chemie gehört. Etwa 1000 Beschäftigte gehören zu diesem Bereich, der auf der Verkaufsliste von Evonik steht. Insbesondere am nordrhein-westfälischen Standort Marl spielt das Geschäft eine bedeutende Rolle, außerdem im belgischen Evonik-Werk Antwerpen.

Die Produkte des für C4-Chemikalien zuständigen Geschäftsgebietes „Performance Intermediates“ sind nach Darstellung des Unternehmens die Grundlage vieler Anwendungen im Alltag. Überwiegend gehe es um Kunststoffe und Beschichtungen, zum Beispiel in Autos sowie im Wohn- und Freizeitbereich. Hinzu kämen Kautschuk, Schmierstoffe, Benzinzusätze, Kosmetika oder Lösemittel in der pharmazeutischen und chemischen Industrie. Endprodukte der Evonik-Kunden seien beispielsweise Autoreifen, PVC-Fußböden, Sportflaschen oder Lebensmittelverpackungen. „Generell gilt: Unser Fokus liegt auf Produkten der Spezialchemie, die höhere Margen versprechen als Massengeschäfte“, sagte Evonik-Finanzchefin Maike Schuh unlängst mit Blick auf die Strategie des Essener Konzerns.

Evonik-Vorstand plant weitere Einsparungen in der Verwaltung

Parallel zur Neuaufstellung der Einheit TI plant Evonik auch weitere Einsparungen in der Konzernverwaltung. Am 1. Oktober starte das Unternehmen ein Programm namens „Evonik Tailor Made“, so Vorstandschef Kullmann. „Tailor“ ist der englische Begriff für Schneider. Die Evonik-Verwaltung werde nun „auf einem weißen Blatt Papier neu skizziert und maßgeschneidert“, berichtet Kullmann. Damit dürften sämtliche Verwaltungsbereiche auf den Prüfstand kommen.

Der Umbau der Strukturen soll Unternehmensangaben zufolge im nächsten Jahr starten und 2026 abgeschlossen sein. Der Schutz vor betriebsbedingten Beendigungskündigungen bei Evonik in Deutschland bis Ende 2032 bleibe bestehen und gelte sowohl für die Neuaufstellung der TI als auch für das Programm „Evonik Tailor Made“, betont das Unternehmen in diesem Zusammenhang.

BASF, Lanxess, Covestro, Evonik – Chemieindustrie stark unter Druck

Deutschlands Chemieindustrie befindet sich derzeit stark unter Druck. Im Juli musste Kullmann erstmals in seiner mehr als sechsjährigen Amtszeit als Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik seine Gewinnziele nach unten korrigieren – zu groß ist die Krise in der Branche, zu schwach die Nachfrage zahlreicher Kunden.

Ähnlich wie bei Evonik sieht es bei vielen anderen deutschen Chemiekonzernen aus. Auch der Branchenriese BASF und der aus dem Leverkusener Bayer-Verbund entstandene Lanxess-Konzern haben kürzlich ihre Erwartungen eingedampft. Lanxess-Chef Matthias Zachert schlug Alarm. „Die Politik muss jetzt endlich aufwachen“, sagte er. „In der aktuellen konjunkturellen Schwächephase ist der Standort Deutschland international nicht wettbewerbsfähig.“ Insbesondere hohe Energiepreise belasten die Betriebe.

BASF und Lanxess reagierten mit Sparprogrammen – und auch mit Stilllegungen von besonders energieintensiven Anlagen. Allein im BASF-Stammwerk Ludwigshafen will der Vorstand 700 Arbeitsplätze in der Produktion abbauen. Eine Ammoniak-Anlage wird voraussichtlich geschlossen. Bei Lanxess konzentrieren sich die Planungen auf den Standort Krefeld-Uerdingen: Ein besonders energieintensiver Betriebsteil – die sogenannte Hexan-Oxidation – soll bis zum Jahr 2026 stillgelegt werden. Der Leverkusener Chemiekonzern Covestro ist derweil ins Visier eines staatlichen arabischen Ölunternehmens geraten: Die Abu Dhabi National Oil Company – kurz Adnoc – erwägt eine Übernahme des NRW-Konzerns.

„Chemie-Gipfel“ im Bundeskanzleramt geplant

Für den Mittwoch (27. September) ist ein Spitzengespräch der Chemieindustrie im Bundeskanzleramt geplant. An dem Termin mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sollen Vertreter aus Politik, Industrie und Gewerkschaften teilnehmen, wie der Branchenverband VCI erklärte. Auch im Terminkalender von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) steht der „Chemie-Gipfel“ in Berlin. „Die Lage der Chemie in Deutschland spitzt sich weiter zu“, sagt VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. „Die hohen Energiekosten sind existenzgefährdend.“

Auch Äußerungen der Essener Evonik-Großaktionärin RAG-Stiftung deuten darauf hin, wie angespannt die Lage ist. „Der Evonik-Kurs ist in den vergangenen fünf Jahren deutlich zurückgegangen“, sagte Stiftungschef Bernd Tönjes vor wenigen Tagen im Gespräch mit dem „Manager Magazin“. „Das ist nicht schön“, fügte Tönjes hinzu. Die Stiftung, die auf dem Essener Welterbe-Areal Zollverein residiert, ist Mehrheitseigentümerin von Evonik und hält 54 Prozent der Aktien.