Berlin. Die Bundesregierung stellt den Jahreswirtschaftsbericht für 2024 vor – die Wirtschaft stagniert. So schätzen Experten die Lage ein.
Die Bundesregierung hat ihren Jahreswirtschaftsbericht für 2024 vorgestellt. In Zeiten von Inflation, Energiekrise und Kriegen in der Ukraine und Nahost war der wirtschaftliche Ausblick auf dieses Jahr mit Spannung erwartet worden. Doch wer sich Hoffnungen gemacht hat, dass Deutschland schnell aus der wirtschaftlichen Krise findet, wurde enttäuscht. Experten schätzen die Lage für diese Redaktion ein.
- Verkehr: Wallbox fürs E-Auto kaufen? Experten warnen vor böser Falle
- Geld: Abfindung im Job kassieren? Diese Tipps sind bares Geld wert
- Altersvorsorge: Rente & Elternzeit – Ab welchem Einkommen Sie Verlierer sind
Was steht in dem Jahreswirtschaftsbericht?
Die Bundesregierung erwartet für dieses Jahr einen Zuwachs des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,2 Prozent. Verantwortlich für den mauen Anstieg macht die Ampel-Koalition die hohen Verbraucherpreise und daraus folgende Kaufkraftverluste sowie geopolitische Krisen und nach wie vor hohe Zinsen, die zum Beispiel Investitionen in Wohnraum erschweren. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) rechnet zwar mit steigenden Reallöhnen, einem deutschlandweiten Beschäftigungsplus von 110.000 Jobs und einer nicht mehr ganz so hohen Inflationsrate in Höhe von 2,8 Prozent. Doch das reicht nicht für den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung.
Lesen Sie auch: Zinsen & Inflation: Ökonomin wagt Prognose - „Sparen ist jetzt schlechte Idee“
Was sagt Habeck?
Der Wirtschaftsminister: „Deutschland hat sich hier als sehr widerstandsfähig erwiesen, weil wir alle gemeinsam entschieden gehandelt haben.“ Doch der Vize-Kanzler räumt auch ein, dass die deutsche Wirtschaft sich „in schwerem Fahrwasser“ befinde. „Wir kommen langsamer aus der Krise als gehofft.“ Deutschland leide unter strukturellen Problemen, die sich über viele Jahre aufgebaut hätten, sagte Habeck weiter. Und kündigte an: „Was wir jetzt brauchen, ist ein Reformbooster.“
Wie soll dieser Reformbooster aussehen?
„Es geht um nichts Geringeres, als die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Industriestandortes zu verteidigen“, so Habeck. Konkret will er den Arbeitskräftemangel bekämpfen, indem bessere Möglichkeiten für Frauen und bessere Anreize für ältere Menschen, freiwillig länger zu arbeiten, geschaffen werden sollen. Auch müsse das Fachkräfteeinwanderungsgesetz „beherzt“ umgesetzt und Geflüchtete besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. Auf dem Plan steht auch, Bürokratie abzubauen – dafür will Habeck einen „Praxischeck“ ausrollen und auf allen Ebenen, von der Kommune bis zur EU, überprüfen, wie Betrieben das Wirtschaften leichter gemacht werden kann.
Das sagen Experten zur wirtschaftlichen Lage
Experten blicken eher sorgenvoll in die Zukunft. Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Martin Wansleben, sagt dieser Redaktion: „Deutschland ist in Europa vom Wachstumsmotor zur Wachstumsbremse geworden.“ Er sagte, die Aussichten für die deutsche Wirtschaft sähen trübe aus. „Unternehmen brauchen deshalb ein verlässliches, deutliches Aufbruchssignal, mit dem eine Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik eingeläutet wird.“
ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski meint, dass es „nicht einfach wird, schnell aus der jetzigen Situation der Stagnation herauszukommen“. „Nach fast einem Jahr des Abstreitens und vielen Irrwegen, so wie ‚Deutschland braucht nur einen starken Kaffee‘, ist man da, wo man schon lange hätte sein können: der Akzeptanz, dass wir ein strukturelles Problem haben.“ Sein Urteil ist hart: „Konjunkturelle Gegenwinde wie Inflation und Zinsen oder Kriege haben die Situation noch verschlimmert, aber die strukturellen Schwächen, die verlorene Wettbewerbsfähigkeit, sind hausgemacht.“
Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts, warnt jedoch: „Schuldzuweisungen an Wirtschaft oder Politik helfen aber nicht weiter. Es geht um die Frage, was jetzt zu tun ist, um die Lage zu verbessern.“
So schätzen Experten die Zukunft der Jobs ein
„Arbeitskräfte sind nach wie vor knapp. Mit einem größeren und flächendeckenden Anstieg der Arbeitslosigkeit ist deshalb nicht zu rechnen“, meint ifo-Präsident Fuest. „Regional kann es allerdings Probleme geben, wenn größere Unternehmen Arbeitsplätze abbauen.“ Und DIHK-Chef Wansleben sagt: „Jeder dritte Betrieb plant, seine Investitionen in Deutschland zu verringern. Die düsteren Erwartungen der Unternehmen machen uns daher noch größere Sorgen als die aktuelle Lage.“
Teresa Schildmann, Konjunktur-Expertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, schätzt die Entwicklung am Arbeitsmarkt als „robust“ ein. Sie erwartet im nächsten Jahr eine Zunahme der Beschäftigung, insbesondere in den Bereichen Bereiche Gesundheit, Erziehung und öffentliche Verwaltung, Informationstechnologien und unternehmensnahe Dienstleistungen. „Die Schwäche im verarbeitenden Gewerbe dürfte hingegen noch anhalten, bis die Nachfrage nach Investitionsgütern insbesondere aus dem Ausland im Jahresverlauf voraussichtlich wieder anzieht.“ Sorge bereitet ihr der Fachkräftemangel.
Wie sieht es mit den Preisen aus?
Fuest ist sich sicher, dass die Inflationsrate sinken und voraussichtlich zwischen zwei und drei Prozent liegen wird. „Dieses Szenario setzt allerdings voraus, dass es zu keiner Ausweitung des Krieges im Mittleren Osten kommt. Sonst könnten die Energiepreise wieder anziehen.“ Auch Konjunktur-Expertin Schildmann geht von einer weiter sinkenden Inflationsrate aus.
Deutschlands oberste Verbraucherschützerin Ramona Pop, Vorständin beim Verbraucherzentrale Bundesverband, sieht in dem gesunkenen Kaufkraftverlust auch eine Gefahr für die Wirtschaft. „Viele Menschen schränken in dieser Lage ihr Kaufverhalten ein. Da knapp die Hälfte der deutschen Wirtschaftsleistung auf privaten Konsum zurückgeht, braucht eine starke Wirtschaft auch starke Verbraucher und Verbraucherinnen“, sagte Pop dieser Redaktion. Pop erneuerte ihre Forderung nach einer Preisbeobachtungsstelle, um für mehr Transparenz und Sicherheit bei den Verbrauchern zu sorgen. Insbesondere Preissteigerungen bei Lebensmitteln könnten viele nicht mehr nachvollziehen.
Auch interessant: Inflation: Im Supermarkt spricht Verbraucherschützerin bittere Wahrheit aus
Werden Löhne 2024 steigen?
Mit Blick auf die Lohnentwicklung spricht ifo-Chef Fuest von einem „Lichtblick“ und erklärt: „Die Löhne werden dieses Jahr voraussichtlich schneller steigen als die Inflation, es gibt also Reallohnerhöhungen.“ Konjunktur-Expertin Schildmann sieht einen nachlassenden Preisdruck. Und wagt ebenfalls eine positive Prognose: Sie sieht „Spielraum für Lohnzuwächse – ohne, dass in größerem Maße Preisdruck erzeugt werden dürfte“.
Das sollte die Bundesregierung laut Experten nun tun
Man ist sich einig: Deutschland muss einen gewaltigen Schritt tun, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Fuest fordert von der Politik, die Rahmenbedingungen zu verbessern und eine „überzeugende Wachstumsstrategie vorlegen. Die sollte vor allem Bürokratieabbau, Steuerentlastungen für Arbeitnehmer und Unternehmen, Kürzungen konsumtiver Staatsausgaben und mehr öffentliche Investitionen beinhalten.“
ING-Chefvolkswirt Brzeski fordert: „Wir benötigen einen Katalog an Maßnahmen. Von Steuererleichterungen, Energiesicherheit, Planungssicherheit und Investitionsanreizen zu Bürokratieabbau und Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Bildung. Das sind Aufgaben, die mehrere Jahre dauern werden.“
DIHK-Chef Wansleben will „dringend Impulse für mehr Investitionen“. Konkret fordert er eine verlässliche Energiepolitik, weniger Bürokratie und Regulierung, geringere Steuerbelastung, Stärkung der Bildung, Ausbau von Infrastruktur, Digitalisierung, schnellere Integration von Migranten. „Die Politik darf nicht nur über die Verbesserung der Standortbedingungen reden, sondern muss endlich handeln. Nur so lässt sich auch verlorenes Vertrauen in die politischen Rahmenbedingungen wieder aufbauen.“