Essen. Sorge um die Chemieindustrie: Hochrangige Branchenvertreter schreiben Brandbrief, machen Druck auf Kanzler Scholz. Das Ziel: ein „Energiepaket“.
In Brandbriefen an Bundestagsabgeordnete und die Ministerpräsidenten ruft Deutschlands Chemieindustrie die Politik zu Hilfe. Die wirtschaftliche Lage der Branche werde „immer dramatischer“, schreiben der Präsident des Chemieverbands, Markus Steilemann, sowie der Gewerkschafts-Vorsitzende Michael Vassiliadis und Arbeitgeber-Chef Kai Beckmann. Entlastungen beim Strompreis seien dringend notwendig, „um Standorte und Arbeitsplätze zu retten“. Es gehe um den Erhalt einer Branche mit bundesweit rund 550.000 Beschäftigten und 1900 Unternehmen.
„Wir bitten Sie dringend, Ihr Mandat und Ihre Funktion zu nutzen, damit noch in dieser Woche ein eindeutiges Signal der Bundesregierung zu einem kurzfristigen Energiepaket für die Industrie kommt“, appellieren die Chefs des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), der Gewerkschaft IGBCE und des Chemiearbeitgeber-Verbands BAVC in dem Brief an die Abgeordneten.
Das Schreiben richtet sich nach Angaben des VCI an alle Mitglieder des Bundestages mit Ausnahme der AfD. Ein zweites Schreiben sei an die Ministerpräsidenten adressiert.
Koalitionsausschuss am 20. Oktober – Hoffen auf „Energiepaket“
An diesem Freitag (20. Oktober) tritt der Koalitionsausschuss der Ampel-Regierung von SPD, Grünen und FDP zusammen. „Hier muss die Frage entschieden werden, ob die Industrie mit einem kurzfristigen Energiepaket rechnen kann“, mahnen die Branchen-Vertreter.
Bislang wartet die Chemieindustrie vergeblich auf eine solche Entlastung – trotz eines Spitzentreffens im Kanzleramt. „Die Koalition kann sich trotz breiter Unterstützung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen sowie auch von der Unionsfraktion bisher nicht zu einem Gesetzesvorschlag durchringen“, heißt es in dem Brief von VCI, IGBCE und BAVC. „Gleichzeitig müssen Unternehmen jetzt handeln und über ihre Investitionen entscheiden.“
Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des VCI, sieht Deutschlands Chemieindustrie akut in Gefahr. „Die Hütte brennt lichterloh“, sagt Große Entrup im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die Energiepreise in Deutschland sind immer noch doppelt so hoch wie früher. So können viele Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten.“ Zum Jahreswechsel drohe den energieintensiven Betrieben zudem eine massive Belastung: Durch einen Wegfall des sogenannten Spitzenausgleichs, der derzeit geplant sei, würden den Unternehmen schon ab Januar Mehrkosten in Höhe von 1,7 Milliarden Euro jährlich entstehen.
Branchenvertreter werben seit Monaten für einen Industriestrompreis („Brückenstrompreis“), um den Betrieben zu helfen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat für eine solche Subvention bereits ein Konzept vorgelegt. Auch die SPD-Fraktion spricht sich für Unterstützung der energieintensiven Industrien aus. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hingegen hat sich bislang skeptisch gezeigt, die FDP mit Bundesfinanzminister Christian Lindner sogar ablehnend.
„Die Spitze der Bundesregierung muss sich bewegen, allen voran der Kanzler und der Finanzminister“, sagt VCI-Hauptgeschäftsführer Große Entrup. „Der Brückenstrompreis muss kommen. Die Industrie benötigt ihn dringend. Es geht hier nicht um eine Ewigkeits-Subventionierung, sondern eine kurzfristige Entlastung bei den Energiepreisen, damit in Deutschlands Industrie nicht die Lichter ausgehen“, so der VCI-Manager. „Das Konzept des Bundeswirtschaftsministers für einen Brückenstrompreis liegt auf dem Tisch.“
VCI: „Deutschland droht eine De-Industrialisierung“
Deutschlands Chemieindustrie steht momentan stark unter Druck. Unternehmen wie der Essener Chemiekonzern Evonik, der Branchenriese BASF und der aus dem Leverkusener Bayer-Verbund entstandene Lanxess-Konzern mussten ihre Ergebnisziele nach unten korrigieren. BASF und Lanxess reagierten mit Sparprogrammen – und auch mit Stilllegungen von besonders energieintensiven Anlagen. Evonik bereitet eine Auslagerung der Betreibergesellschaft für die NRW-Chemiestandorte in Marl und Wesseling vor.
„Wenn es keinen Befreiungsschlag gibt, befürchten wir, dass es zu dramatischen Entscheidungen in den Unternehmen kommen wird“, sagt VCI-Hauptgeschäftsführer Große Entrup. „Pläne für erste Anlagenschließungen bestehen bereits. Aber auch die Perspektiven wären düster: Investitionen würden künftig vor allem im Ausland erfolgen. Deutschland droht eine De-Industrialisierung.“
Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier:
- Vorwerk-Chef: Meine Frau wollte auch keinen Thermomix haben
- Biermarkt: Darum verkauft Stauder schweren Herzens wieder Dosenbier
- Sorgen bei Thyssenkrupp: „Stahlindustrie kämpft um Existenz“
- Galeria-Doppelschlag gegen Essen: Warenhaus und Zentrale weg
- Menschen in Not: So reagieren Einzelhändler auf Bettler vor ihrer Ladentür