Essen. Vor dem Besuch von Kanzler Scholz beim Unternehmertag NRW ist die Lage in einer wichtigen Branche angespannt: Die Chemieindustrie kriselt.
Für Christian Kullmann ist es eine Premiere. Nie zuvor in seiner mehr als sechsjährigen Amtszeit als Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik hat er bislang seine Gewinnziele nach unten korrigieren müssen. Vor wenigen Wochen – am 10. Juli – ist es soweit. Was das Management noch vor nicht allzu langer Zeit erwartet hat, stellt sich als unrealistisch heraus. Zu groß ist die Krise in der Branche, zu schwach die Nachfrage zahlreicher Kunden, wenngleich der erfolgsverwöhnte Evonik-Konzern nach wie vor einen milliardenschweren Gewinn im Gesamtjahr anstrebt. Auch einen Monat später, zur offiziellen Quartalsbilanz im August, muss Kullmann weiter Trübsal blasen. „Deutschland ist in einer Rezession, Europa ebenfalls“, sagt er. Eine nennenswerte Belebung der Geschäfte? Fehlanzeige.
Ähnlich wie bei Evonik sieht es bei vielen anderen deutschen Chemiekonzernen aus. Auch der Branchenriese BASF und der aus dem Leverkusener Bayer-Verbund entstandene Lanxess-Konzern haben kürzlich ihre Erwartungen eingedampft. Lanxess-Chef Matthias Zachert schlägt Alarm. „Die Politik muss jetzt endlich aufwachen“, sagt er. „In der aktuellen konjunkturellen Schwächephase ist der Standort Deutschland international nicht wettbewerbsfähig.“ Insbesondere die hohen Energiepreise belasten die Betriebe.
BASF und Lanxess reagieren mit Sparprogrammen – und auch mit Stilllegungen von besonders energieintensiven Anlagen. Allein im BASF-Stammwerk Ludwigshafen will der Vorstand 700 Arbeitsplätze in der Produktion abbauen. Eine Ammoniak-Anlage wird voraussichtlich geschlossen. Bei Lanxess konzentrieren sich die Planungen auf den Standort Krefeld-Uerdingen: Ein besonders energieintensiver Betriebsteil – die sogenannte Hexan-Oxidation – soll bis zum Jahr 2026 stillgelegt werden.
Der Bundesregierung fehle „ein realistischer Blick für die Gefahren, denen der Wirtschaftsstandort ausgesetzt ist“, sagt Evonik-Chef Kullmann in einem Gespräch mit der „Neuen Zürcher Zeitung“, das vor
wenigen Wochen veröffentlicht worden ist. „Die lahme Bürokratie, die marode Infrastruktur und die hohen Kosten führen dazu, dass immer mehr Unternehmen ins Ausland gehen. In Asien, im Nahen Osten und in Amerika sind die Investitionsbedingungen aktuell besser als hier.“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der am Mittwoch an den Düsseldorfer Rheinterrassen zum „Unternehmertag NRW“ erwartet wird, erwähnt Evonik-Chef Kullmann bei dieser Gelegenheit zwar nicht namentlich, dafür aber Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen. „Wenn Habeck hier nicht nachsteuert“, so Kullmann, „ist Deutschland bald ein ärmeres Land“.
Chemieindustrie gilt als Frühindikator
Die Chemieindustrie gilt als Frühindikator für die konjunkturelle Entwicklung: Wenn die Branche schwächelt, dürfte eine Krise also mit zeitlichem Abstand auch in anderen Industriezweigen durchschlagen – bei den großen Autokonzernen beispielsweise. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der eigenen Angaben zufolge Unternehmen mit bundesweit mehr als 500.000 Beschäftigten vertritt, betont gerne, dass in mehr als 80 Prozent aller Dinge, die in Deutschland hergestellt werden, Chemie stecke – in der Landwirtschaft, in Pharma- oder Hygieneartikeln und bei Elektronik-Bauteilen zum Beispiel.
VCI-Präsident Steilemann: „Glaube an den Standort Deutschland schwindet“
„Der Glaube an den Standort Deutschland schwindet“, klagt VCI-Präsident Markus Steilemann, der hauptberuflich den Leverkusener Chemie- und Kunststoffkonzern Covestro führt. Die Chemieindustrie sei auf „wettbewerbsfähige Strompreise“ angewiesen. Auch wenn die Stromkosten gesunken seien, liegen sie nach VCI-Angaben „immer noch über dem Vorkrisenniveau und waren auch damals schon ein entscheidender Standortnachteil“.
Pikant: Derzeit schielt dem Vernehmen nach Abu Dhabis staatlicher Ölkonzern Adnoc auf Covestro. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters erwägen die Scheichs eine Übernahme-Offerte für das nordrhein-westfälische Unternehmen. Abu Dhabi könnte sich damit Zugang zu deutschen Zukunftstechnologien in der Chemie sichern.
Deutsche Chemiekonzerne, darunter Evonik mit dem großen NRW-Standort Marl, erwägen derweil, verstärkt im Ausland zu investieren. Bei Evonik geht es um den Bau einer Anlage für die Produktion von Isophoron, das unter anderem für Windkraftanlagen benötigt wird. „Eine Entscheidung über den Standort werden wir erst zum Jahresende treffen“, sagt Kullmann in der NZZ. „Die Chemieindustrie hat es schwer, in Deutschland wettbewerbsfähig zu produzieren. Schuld daran trägt vor allem die Energiepolitik der vergangenen Jahre, die sich gegen die Interessen der deutschen Volkswirtschaft gerichtet hat.“ Zum Bild gehört indes auch, dass die Chemieindustrie jahrelang besonders stark auf russisches Erdgas angewiesen gewesen ist.
Kanzler Scholz äußert sich zurückhaltend zu möglichem Industriestrompreis
Ganz oben auf der Liste der Forderungen, die in der Chemieindustrie aktuell zu hören sind, steht ein sogenannter Industriestrompreis – also eine staatliche Subventionierung der Energiekosten für die Chemie. Wirtschaftsminister Habeck hat sich offen für eine solche milliardenschwere und jahrelange Unterstützung gezeigt, Finanzminister Christian Lindner (FDP) gilt als Skeptiker.
Bundeskanzler Scholz hat sich eben erst in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ zurückhaltend mit Blick auf eine mögliche staatliche Unterstützung der energieintensiven Industrien geäußert. „Wir haben eine Hauptaufgabe. Die besteht darin, dass wir die Strompreise runterkriegen – strukturell. Denn wir werden ja nicht in der Lage sein, dauerhaft Strompreise zu subventionieren“, so Scholz. Ob und in welcher Form ein Industriestrompreis kommen wird? Nach monatelanger Diskussion bleibt diese Frage auch vor dem „Unternehmertag“ in Düsseldorf erst einmal unbeantwortet.