Essen. Chemiegipfel im Kanzleramt: Die Lage der Industrie sei „akut dramatisch“, so die IGBCE. Die größte Hoffnung der Branche wird aber nicht erfüllt.

Es sind ungewöhnlich scharfe Töne, die BDI-Präsident Siegfried Russwurm anschlägt. Der Manager, der auch Aufsichtsratschef des Essener Traditionskonzerns Thyssenkrupp ist, warnt mittlerweile auf offener Bühne vor einem Untergang der Industrie. „Das Licht an immer mehr deutschen Standorten wird buchstäblich ausgeschaltet“, mahnt Russwurm bei einem Kongress in Berlin, wie der BDI auf seiner Website dokumentiert. „Industrielle Produktion bricht weg oder wird ins Ausland verlagert“, berichtet der BDI-Chef. Besonders besorgt sei er um „weite Teile der energieintensiven Industrie an ihren Standorten in Deutschland“. Betriebe und Arbeitsplätze seien „konkret in Gefahr“.

Russwurm, der in seiner bisherigen Amtszeit seit Anfang 2021 meist konziliant agiert hat, greift auch die Bundesregierung von Kanzler Olaf Scholz (SPD) direkt an, die sich „gegen eine Entlastung stromintensiver Betriebe“ sperre. Mit Blick auf den Standort Deutschland gebe es derzeit generell „wenig Anlass zur Zuversicht“, so Russwurm. „Vieles macht uns in der Industrie erhebliche Sorgen. Einiges macht uns – offen gesagt – fassungslos.“

Seinen Weckruf hat Russwurm einen Tag vor einem Spitzengespräch mit Vertretern der Chemieindustrie am Mittwoch im Bundeskanzleramt formuliert. „Die Lage der Chemie in Deutschland spitzt sich weiter zu“, warnt VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup wenige Tage vor dem Treffen. „Die hohen Energiekosten sind existenzgefährdend.“ Über den Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) legt der VCI kurz vor dem geplanten Gespräch im Kanzleramt nach. Die Branche erwarte „ein klares Zeichen zur Lösung der aktuellen Chemiekrise“, dies sei insbesondere „ein temporärer Industriestrompreis“. Die Formulierung ist bemerkenswert, denn Kanzler Scholz hat sich bisher insbesondere gegen eine „Dauer-Subventionierung“ des Strompreises ausgesprochen.

IGBCE: „Die Lage der Chemieindustrie ist akut dramatisch“

Die Erwartungen sind hoch – und bleiben im Wesentlichen unerfüllt. Beim Verband der Chemischen Industrie (VCI), der eigenen Angaben zufolge die Interessen von rund 1900 Unternehmen mit etwa 550.000 Beschäftigten vertritt, ist nach dem Treffen im Kanzleramt von „gemischten Gefühlen“ die Rede. Bei der Bundesregierung sei viel Verständnis für die Situation der Branche spürbar gewesen. Aber: „Leider hat sich unsere Hoffnung auf eine kurzfristige Entscheidung bei den viel zu hohen Strompreisen nicht erfüllt“, berichtet VCI-Präsident Markus Steilemann, der Chef des Leverkusener Chemiekonzerns Covestro.

Die Hoffnung auf Entlastungen für seine Branche gibt der Manager augenscheinlich nicht auf. Steilemann fordert jedenfalls, die Bundesregierung müsse „noch im Oktober zu einer Einigung über ein kurzfristiges Energiepaket kommen, um den Strompreis sehr schnell zu senken“.

Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft IGBCE, Michael Vassiliadis, zeigt sich nach dem „Chemiegipfel“ mit Bundeskanzler Scholz enttäuscht. Die Lage der Chemieindustrie sei „akut dramatisch“, urteilt er. Die politischen Zusicherungen für eine Senkung der Stromkostenbelastung seien indes noch zu vage gewesen. „Wir müssen dringend vorankommen und konkret werden“, sagt Vassiliadis.

„Es ist 5 vor 12 in Deutschland“, sagt NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), in dessen Terminkalender der „Chemiegipfel“ ebenfalls stand. Er könne nachvollziehen, warum Unternehmensvertreter und Gewerkschafter enttäuscht seien vom Ergebnis des Treffens, merkt Wüst an. Bei der Bundesregierung sei Problembewusstsein klar erkennbar gewesen. „Aber es ist eben nicht zu der Konkretisierung der Problemlösung gekommen, die der Lage angemessen gewesen wäre.“

Chemieindustrie steht schwer unter Druck

Deutschlands Chemieindustrie steht momentan stark unter Druck. Unternehmen wie der Essener Chemiekonzern Evonik, der Branchenriese BASF und der aus dem Leverkusener Bayer-Verbund entstandene Lanxess-Konzern mussten ihre Ergebnisziele nach unten korrigieren. „Die Politik muss jetzt endlich aufwachen“, sagte Lanxess-Chef Matthias Zachert unlängst. „In der aktuellen konjunkturellen Schwächephase ist der Standort Deutschland international nicht wettbewerbsfähig.“ Insbesondere hohe Energiepreise belasten die Betriebe.

BASF und Lanxess reagierten mit Sparprogrammen – und auch mit Stilllegungen von besonders energieintensiven Anlagen. Evonik bereitet eine Auslagerung der Betreibergesellschaft für die NRW-Chemiestandorte in Marl und Wesseling vor. Der Leverkusener Chemiekonzern Covestro ist derweil ins Visier eines staatlichen arabischen Ölunternehmens geraten: Die Abu Dhabi National Oil Company – kurz Adnoc – erwägt eine Übernahme des NRW-Konzerns.

Evonik-Chef Christian Kullmann: „Jetzt droht die De-Industrialisierung, und viele tun so, als wäre das egal oder nicht schlimm.“
Evonik-Chef Christian Kullmann: „Jetzt droht die De-Industrialisierung, und viele tun so, als wäre das egal oder nicht schlimm.“ © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

„Noch vor zwei Jahren haben wir in der Pandemie einmütig festgestellt, wie wichtig eine Re-Industrialisierung Deutschlands ist, dass wir bedeutende Wertschöpfungsketten zurückholen oder im Land halten müssen“, sagte Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann dem „Handelsblatt“. „Mir ist vollkommen unverständlich, warum die Bundesregierung nicht alles dafür tut. Jetzt droht die De-Industrialisierung, und viele tun so, als wäre das egal oder nicht schlimm.“

Monatelanges Ringen um einen „Industriestrompreis“

Schon seit Monaten steht ein staatlich subventionierter Industriestrompreis weit oben auf der Liste der Forderungen, die aus der Chemieindustrie kommen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat im Mai Eckpunkte vorgelegt für einen Industriestrompreis von sechs Cent je Kilowattstunde (kWh), der für 80 Prozent des verbrauchten Stroms und bis zum Jahr 2030 gelten soll. Die SPD-Fraktion hat einen Preis von fünf Cent vorgeschlagen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) gilt als Skeptiker. Bundeskanzler Scholz äußerte sich bisher zurückhaltend. Der Staat sei „nicht in der Lage, dauerhaft Strompreise zu subventionieren“, lautete das Hauptargument des Kanzlers.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm (rechts) im Juni mit Bundeskanzler Olaf Scholz: Der BDI-Chef, der auch den Thyssenkrupp-Aufsichtsrat führt, äußert sich besorgt mit Blick auf den Standort Deutschland – und äußert sich kritisch zur Energiepolitik der Bundesregierung.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm (rechts) im Juni mit Bundeskanzler Olaf Scholz: Der BDI-Chef, der auch den Thyssenkrupp-Aufsichtsrat führt, äußert sich besorgt mit Blick auf den Standort Deutschland – und äußert sich kritisch zur Energiepolitik der Bundesregierung. © dpa | Kay Nietfeld

Um Bedenken zu zerstreuen, hat die Gewerkschaft IGBCE nun ein Gutachten vorgelegt, das von ihr in Auftrag gegeben worden ist. Demnach könne der Industriestrompreis aus dem Etat des bestehenden Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) finanziert werden – ohne rechtliche Probleme. Mit Hilfe des WSF wollte die Bundesregierung die Wirtschaft in der Corona-Krise stabilisieren. IGBCE-Chef Michael Vassiliadis gehört zu den vehementen Befürwortern von staatlichen Hilfen für die energieintensive Industrie, zu der auch die Chemiebranche gehört.

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