Berghausen. Bad Berleburger Automobilzulieferer Stahlschmidt ist zahlungsunfähig. Was die Gewerkschaft IG Metall zu der Schock-Nachricht sagt.
„Ich bin von dem Insolvenzverfahren genauso überrascht wie alle anderen“, sagt Andree Jorgella im Gespräch mit dieser Zeitung. Der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Siegen begleitet die Entwicklung in dem von Krisen geschüttelten Unternehmen seit Jahren. Und auch erst vor Kurzem hatte es Gespräche mit der Geschäftsführung gegeben. „Wir haben Tarifverhandlungen geführt, um den Zukunftstarifvertrag mit SCS weiterzuführen.“ Diese Gespräche seien dann aber durch das Unternehmen unterbrochen worden - mit der Bitte, sie um eine Woche zu verschieben, als dann die Nachricht vom Insolvenzverfahren eintraf. Jorgella will nun Gespräche mit SCS bzw. dem Insolvenzverwalter abwarten. Diese werden aber erst im neuen Jahr stattfinden können.
Nach der Betriebsversammlung am Montag im Stammwerk Berghausen schwankt die Stimmung. „Es gibt welche, die resignieren und es gibt auch Aufbruchstimmung. Uns ist bei all den Verlagerungen und Umstrukturierungen nur kurz vor dem Gipfel die Puste ausgegangen“, beschreibt ein Mitarbeiter die Lage. Und schiebt hinterher, „die Auftragslage ist gut. Wir dürfen nicht aufgeben und müssen das wieder auf die Kette kriegen.“ Auch der vorläufige Insolvenzverwalter habe Optimismus ausgestrahlt.
Was bis Mittwoch berichtet wurde
Der vorläufige Insolvenzverwalter Rechtsanwalt Jens Lieser präsentiert seinen Plan für eine Sanierung des zahlungsunfähigen Traditionsunternehmens. Der vorläufige Insolvenzverwalter der SCS Deutschland GmbH & Co. KG hat - gemeinsam mit Geschäftsführer Friedemann Faerber, am Dienstagvormittag zunächst die Belegschaft in einer Betriebsversammlung informiert und am Abend eine Pressemitteilung verteilen lassen. Darin äußert er sich zur Zukunft der Arbeitsplätze, zum Insolvenzgeld für die Mitarbeitenden und zu den Ursachen für die finanzielle Schieflage im 99. Jahr des Wittgensteiner Traditionsunternehmens.
Löhne bis Februar 2024 gesichert
Das wichtigste vorweg: „Die Löhne und Gehälter der insgesamt 96 Beschäftigten am Hauptsitz in Bad Berleburg sind von Anfang Dezember 2023 bis Ende Februar 2024 über das Insolvenzgeld der Bundesagentur für Arbeit gesichert. Rechtsanwalt Lieser wird nun die Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes beantragen, damit die Löhne und Gehälter zeitnah und pünktlich ausgezahlt werden können.“
Mehr zum Thema SCS Stahlschmidt
- SCS Stahlschmidt: Werk in Marokko soll Stammsitz retten
- SCS in Berghausen: Probleme mit der Erreichbarkeit
- Bad Berleburg Investmentfonds kauft SCS
- Corona zwingt SCS zu Kurzarbeit in Berghausen
- SCS setzt Zeichen mit Impftag
- Marokkogeschäft von SCS startet
- SCS Stahlschmidt soll 2021 wieder schwarze Zahlen schreiben
- Umstrukturierung bei SCS in vollem Gang
- Mitarbeiter machen sich schon 2017 Sorgen um die Zukunft
Jens Lieser und sein Team sind nach eigenen Angaben erst einmal dabei, sich einen Überblick über das Unternehmen zu schaffen und Handlungsoptionen ausloten, um eine Sanierungslösung zu finden, heißt es weiter.
„Kurz vor Weihnachten ist diese Nachricht sicherlich für viele ein Schock. Aber mein Team und ich werden alles tun, um das Traditionsunternehmen zu erhalten und fortzuführen. Als erstes werden wir mit den Kunden und den Lieferanten sprechen, um die zuverlässige Belieferung zu gewährleisten, heißt es in der Pressemitteilung vom Dienstagabend. Erste Gespräche mit wichtigen Kunden habe ich bereits geführt“, sagt Sanierungsexperte Lieser. „Unser Ziel ist es, SCS angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen am Markt stabil und robust aufzustellen. Denn das ist auch die Basis, um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten“, so Jens Lieser weiter. Der Geschäftsbetrieb läuft indes uneingeschränkt und in vollem Umfang weiter.
Ursachen für finanzielle Schieflage
Der Automobilzulieferer habe laut Pressemitteilung mit dem bereits am vergangenen Freitag 15. Dezember gestellten Insolvenzantrag „konsequent auf die aktuellen Entwicklungen und den tiefgreifenden Wandel, dem die gesamte Automobilindustrie seit geraumer Zeit ausgesetzt ist“ reagiert.
Demnach sei SCS von den gleichen Entwicklungen betroffen, wie anderen Wirtschaftsunternehmen und private Haushalte auch: „Als im Februar 2022 der Ukraine-Krieg ausbrach, Lieferengpässe entstanden und insbesondere die Rohstoffpreise sich deutlich erhöhten, traf dies die SCS besonders empfindlich. Als produzierendes Unternehmen, das bei seiner Wertschöpfung auf Rohstoffe zu kostendeckenden Preisen angewiesen ist, hat SCS unter den erheblich gestiegenen Rohstoffkosten besonders stark gelitten. Zudem konnten die höheren Rohstoff- und Energiepreise nicht in gleicher Weise über Preiserhöhungen an die Kunden weitergegeben werden. In Folge dessen sank die Ertragslage beim Zulieferbetrieb. Darüber hinaus hat die Verunsicherung der Verbraucher aufgrund steigender Zinsen und höherer Inflation den Absatz von Automobilen verringert. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf die Auftragslage bei SCS, wodurch sich bei dem Zulieferbetrieb die Situation weiter verschärfte. Als es nicht mehr gelang, die finanzielle Schieflage zu verhindern, hat die Geschäftsführung rechtzeitig und konsequent einen Insolvenzantrag gestellt, um die Chancen auf eine nachhaltige Sanierung zu nutzen“, heißt es in dem Schreiben.
Ein Rückblick auf krisenreiche Jahre bei SCS Stahlschmidt
Betroffen von den insgesamt drei bereits am vergangenen Freitag, 15. Dezember, gebündelt gestellten Insolvenzanträgen, die dann am Montag, 18. Dezember, veröffentlicht wurden, sind nach Angaben des vorläufigen Insolvenzverwalters die SCS Deutschland GmbH & Co. KG, in der das operative Geschäft gebündelt wird, die Stahlschmidt International GmbH und die Stahlschmidt Geschäftsführungs GmbH.
Was bisher bekannt war und bis Dienstag berichtet wurde
Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Sechs Tage vor Heiligabend ist am Montag das Insolvenzverfahren über das Wittgensteiner Traditionsunternehmen SCS Cable Systems GmbH angeordnet worden. Und nicht nur das: Ein Großteil der gut 100 Beschäftigten am Stammsitz in Berghausen erfahren durch die Medien davon. In der Belegschaft herrscht Fassungslosigkeit: „Wir sind alle wie vor den Kopf geschlagen“, berichtet ein Mitarbeiter, der anonym bleiben will. Und ein anderer ehemaliger Mitarbeiter nennt das ganze „schlechten Stil“.
Nicht nur die gut 100 Beschäftigten im Stammwerk in Berghausen müssen jetzt um ihren Arbeitsplatz bangen. Auch an den Auslandsstandorten, wie in dem gerade erst in Betrieb genommenen Werk in Marokko, wird dieses Verfahren Folgen haben. Für den Dienstagvormittag war eine Betriebsversammlung in Berghausen angesetzt, erfuhr die Redaktion.
Vorläufiger Höhepunkt der schlechten Nachrichten
Die Eröffnung des Verfahrens wegen Zahlungsunfähigkeit ist der vorläufige Höhepunkt einer Krisengeschichte, die schon 2009 ihren Anfang nimmt. Damals ist Stahlschmidt noch ein reines Familienunternehmen, das sich bei der Expansion unter anderem in China verkalkuliert und 2015 erstmalig an einen externen Investor verkauft worden ist. In den acht Jahren seither machte SCS mit seinen Umstrukturierungen Schlagzeilen. Aus Sicht der Beschäftigten waren die Neuigkeiten meist keine Guten. Die Zahl der zwischenzeitlich knapp 200 Mitarbeitenden in Berghausen wurde inzwischen halbiert und sollte ohnehin auf 85 sinken. Nicht nur die Produktion in Deutschland, sondern auch in Osteuropa ist aus Sicht der Geschäftsführung zu teuer geworden. Der Ausweg: Die Verlagerung der Produktion in eine Freihandelszone im marokkanischen Tanger. Das Werk in Ungarn ist längst geschlossen. In Polen arbeiten nach Insiderangaben noch 50 Mann, während der Großteil der Produktionslinien nach Marokko verlagert worden ist.
Auf der firmeneigenen Webseite wird noch am 1. Dezember stolz gemeldet: „Auf insgesamt 20.000 qm errichten wir in Marokko ein neues Werk. In Tanger werden komplette Bowdenzugsysteme für Automotive und Industrieanwendungen unter modernsten Umwelt- und Qualitätsstandards produziert und weltweit versendet.“ Auf der Internetseite Linkedin, dem seriösen Facebook der Wirtschaft, preist Stahlschmidt Marocco einen Personalzuwachs seit Dezember 2021 bis jetzt von 11 Prozent auf über 100 Mitarbeiter an.
SCS: Neun Jahre im Krisenmodus
Dezember 2023: Insolvenzverfahren über die SCS Cable Systems GmbH eröffnet.
Februar 2023: Die Lafayette Mittelstand Capital, ein Luxemburger Investmentfonds, übernimmt SCS von der Möhrle Gruppe.
Januar 2022: Ein neuer Produktionsstandort in Tanger/Marokko wird aufgebaut, die Werke in Polen und Ungarn schließen.
Januar 2022: Geschäftsführer Friedemann Faerber kündigt einen Arbeitsplatzabbau am Stammwerk Berghausen von 110 auf 85 Mitarbeiter an.
Januar 2018: Friedmann Faerber wird neuer Geschäftsführer und ersetzt Kai Uwe-Wollenhaupt. Dessen Umbau des Unternehmens hatte zu massiven Konflikten mit Gewerkschaft und Belegschaft geführt. Faerber startet nun ebenfalls einen Restrukturierungsprozess. Dabei verlor ein Drittel der 180 Mitarbeiter ihren Job.
September 2017: Stahlschmidt Cable Systems hat am Standort Berghausen etwa 190 Beschäftigte. Weltweit zählt der Hersteller von Bowdenzug-Systemen und Kunststoff-Komponenten für die Autoindustrie 1200 Mitarbeiter. SCS hat Werke in Deutschland, Polen, Ungarn, China und Kanada.
Februar 2017: Die Belegschaft macht sich Sorgen um die Jobs. Kai-Uwe Wollenhaupt kündigt Entlassungen an und verhandelt über einen Standortsicherungs-Tarifvertrag.
September 2016: SCS entlässt einen leitenden Mitarbeiter und macht mit einem Arbeitsgerichtsprozess negative Schlagzeilen.
Juli 2016: Führungswechsel: Reinhold Klein muss gehen und Kai-Uwe Wollenhaupt übernimmt.
September 2015: SCS investiert in Ausbildung und einen an die IG-Metall-Tarife angeglichenes Lohnniveau.
August 2015: Geschäftsführer Reinhold Klein fädelt einen Deal ein: Die Hamburger Peter Möhrle Holding übernimmt das seit 2009 kriselnde Familienunternehmen mit 1000 Beschäftigten an mehreren Standorten. Die Familie Stahlschmidt gibt alle Geschäftsanteile ab.
1924: Das Unternehmen Stahlschmidt wird gegründet.
Noch im Juli dieses Jahres hieß es in einem Gespräch von Geschäftsführer Friedemann Faerber mit der Redaktion, dass sich der Automobilzulieferer auf der Zielgeraden eines Umstrukturierungsprozesses befinde, der den Gründungsstandort Berghausen zukunftssicher mache. Friedemann Faerber sprach über die Hintergründe eines überraschenden Eigentümerwechsels im Februar, die Verlagerung der Produktion nach Marokko und die Auswirkungen dieser Restrukturierung. „Das, was unsere Kunden und auch potenzielle Investoren immer wieder überzeugt, ist unsere strategische Neuausrichtung der SCS Group, mit der Konsolidierung der Produktion in Marokko.“ Für Marokko spreche laut Faerber die große Zahl verfügbarer Arbeitskräfte, Lohnkosten, die wettbewerbsfähig seien und die Nähe zu Europa. So sichere Marokko auch den Standort Berghausen.
Bei Szenekenner stößt das auf Kopfschütteln. Ein ehemaliger leitender Angestellter von SCS schätzt, dass die Investition in Marokko zur Schieflage des Unternehmens geführt haben muss. So könnten die Kosten für den Warentransport zwischen Deutschland und Marokko zusammen mit Zollmodalitäten - trotz Freihandelszone - den finanziellen Aufwand im Vergleich zu den tatsächlich günstigeren Lohnkosten ins Ungleichgewicht gebracht haben.
Offenbar hat sich die schwierige wirtschaftliche Entwicklung im Unternehmen für die meisten Mitarbeitenden nicht transparent dargestellt. Das erklärt, warum der Schock so tief sitzt. Während auf der Internetseite die Insolvenzbekanntmachung veröffentlicht wurde, lief für die Beschäftigten ein ganz normaler Arbeitstag.
Ein Rückblick auf krisenreiche Jahre bei SCS Stahlschmidt
Für einige wenige Mitarbeitende kommt der Schritt in die Insolvenz aber nicht überraschend, erfährt die Redaktion aus einem Hintergrundgespräch. So haben Mitarbeitende die Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausgelotet oder sich über einen vorzeitigen Renteneintritt informiert. Besonders hart trifft die aktuelle Unsicherheit diejenigen Beschäftigten, die bislang alle Umstrukturierungen der vergangenen Jahre mitgemacht haben und ihre Erfahrung eingebracht haben. „Wie sieht das jetzt aus, wenn man 55 Jahre alt ist und noch mindestens zehn Jahre arbeiten muss?“, fragt ein Beschäftigter im Gespräch mit der Redaktion, der seinen Namen ebenfalls nicht genannt wissen will.
Vor Weihnachten kommt diese Diskussion in Bad Berleburg zur Unzeit. Die Nachrichten hier bestimmen jetzt erst einmal die amtlichen Bekanntmachungen. Wie das zuständige Amtsgericht in Siegen am Montag veröffentlichte, ist das „Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der im Handelsregister des Amtsgerichts Siegen eingetragenen SCS Deutschland GmbH & Co. KG, ist am 18. Dezember, um 11.21 Uhr angeordnet worden.“ Als vorläufiger Insolvenzverwalter wurde der Kölner Rechtsanwalt Jens Lieser bestellt.
Sowohl die Industriegewerkschaft Metall, als auch die Besitzergesellschaft Lafayette Mittelstand Capital haben sich auf Anfragen der Redaktion bislang nicht zur aktuellen Lage bei SCS geäußert.