Warstein. . Der normale Weg ist ihm zu langweilig. „Den gleichen Weg zum Turm hin und zurück gehen? Das wollen Sie doch nicht wirklich!“ - Stefan Enste geht lieber querfeldein.
Der Mann kennt sich nicht nur in der Bilsteinhöhle aus, auch die Wege im Arnsberger Wald sind ihm vertraut. Also ab in den „richtigen“ Wald. Der Höhlenführer hat sogar vorgesorgt: „Ich habe extra vorher nachgesehen, der Weg ist passierbar. Nicht, dass es wieder heißt, ich habe wen in die Irre geführt.“ Das hat der 44-Jährige noch nie gemacht, er geht nur gerne abseits der normalen Wege. Frei nach dem Motto: „Der interessante Weg ist immer besser als der kurze Weg.“ Stefan Enste schmunzelt: „Da kann man nur manchmal auf Schlammlöcher stoßen.“ Die finden wir heute nicht. Dafür liegt zu viel Schnee.
Stefan Enste wandert gerne. Allerdings „viel zu wenig“, wie er findet. Zwischen seiner Arbeit als Höhlen – und Landschaftsführer, seiner Familie mit vier Kindern und seinem Engagement im Bilsteintal bleibt dem studierten Theologen kaum Zeit fürs Wandern. „Das dauert ja auch lang, wenn man die interessanten Wege geht.“ Interessant, das ist unser heutiger Weg zum Turm auf jeden Fall. Über Holzstämme und Schneehügel geht es; der schmale Pfad entsteht quasi erst durch uns – ein Weg genau nach Enstes Geschmack.
Die eigene Umgebung erkundet Stefan Enste am liebsten. „Ich bin gerne westlich von Hirschberg Richtung Möhnesee unterwegs, da ist richtig schön tiefer Wald, da trifft man keine Menschenseele, da ist Ruhe“, erzählt der gebürtige Warsteiner, der mittlerweile in Hirschberg lebt. Ist ihm diese Ruhe wichtig? „Absolut.“ Unterwegs zu sein, ohne Leute zu treffen, das sei etwas, was die Gegend auszeichne. „Daran werden auch die neuen Wanderwege nichts ändern, der Wald ist ja groß genug“, lacht Enste.
Wenn Stefan Enste wandert oder Exkursionen anbietet, dann ist er stets auf der Suche. „Interessant ist es immer, wenn es etwas zu entdecken gibt“, erklärt er. Was er so findet? Den Wald an sich, aber vor allem auch irgendwelche Geschichten, „die es zu entdecken gibt“. Er ist also ein Geschichtensucher? „Wenn es welche zu entdecken gibt, ja klar. Je mehr desto besser.“ Die Geschichten, die er findet, sind meistens „Geschichten aus der Geschichte.“
Und wenn einer wie Stefan Enste sie findet, dann wird aus diesen Geschichte eine wahre Fülle an Fakten, Zusammenhängen und Erklärungen. Während wir durch den zentimeterhohen Schnee stapfen, erzählt der selbstständige Landschaftsführer von einigen der Geschichten, die er schon gefunden hat. Nur Bruchstücke sind es, doch bereits die formuliert Enste so präzise und hintergründig, dass man erahnen kann, wie genau der Hirschberger die Gegend rund um Warstein kennt. „Wir sind eine Bergbauregion, das ist kaum bekannt“, führt er nur ein Beispiel an, „dabei findet man so viele Hinweise.“
Enstes Stimme wird lebhafter, man merkt, dass er jetzt voll bei der Sache ist. „Es gibt vier Brennpunkte in Warstein, wo man viele interessante Spuren der Kultur- und Naturgeschichte finden kann.“ Im Lörmecke- und im Bilsteintal, im Oberhagen und in der Gegend nördlich von Belecke finde er jede Menge solcher Ansatzpunkte. Eine alte Baumgruppe, die zwischen Mülheim und Belecke steht, auf den ersten Blick völlig unscheinbar, die sei beispielsweise einer der „spannendsten Orte der westfälischen Landesgeschichte“.
Stefan Enste lacht. „Das klingt verrückt, oder? Aber das ist ja gerade das Faszinierende: ‚Wo finde ich etwas, was auf den ersten Blick nicht so spannend erscheint, wo aber ganz viel dahintersteckt?“ Dass diese alte Baumgruppe den Ort markiert, mit dem der Kölner Erzbischof um 1200 das Gebiet eingrenzte, welches er für sich beanspruchte, wissen die wenigsten. Stefan Enste weiß es nicht nur, er lebt diese Geschichte förmlich. „Ja, Heimatkunde ist mein Ding; das ist einfach an sich schon ein toller Begriff.“ Das Ganze betrachten, ohne eine Aufsplitterung in viele Einzelbereiche, das fasziniert den Höhlenführer an der Heimatkunde. „Mal ehrlich: Unterwegs begegnet uns die Geologie oder die Biologie doch auch nicht in Reinkultur, es hängt alles zusammen, also kann man den ganzen Ramsch doch auch wieder zusammenpacken.“
Der „ganze Ramsch“ darunter fällt der Bleiabbau in Belecke („Der war gar nicht so unbedeutend, wie alle das immer meinen“), die Eisenindustrie in dem vermeintlichen „Ackerbügerstädtchen“ Warstein („Dieser Begriff ärgert mich, weil er nicht stimmt; die Hälfte der Einwohner waren vom Bergbau und der Eisenindustrie abhängig“) oder auch die erste urkundliche Erwähnung Warsteins. Zu letzterem kann Stefan Enste so viel berichten, so detailliert und fundiert, dass man den Eindruck bekommt ,es könne ganze Bücherregale füllen. Dazu eine Erzählstimme, die irgendwie sofort an einen Geschichtslehrer oder Professor erinnert.
Er sei eine Art „Offline-Wikipedia“, so haben ihn Bekannte mal genannt. Für den Bereich der Heimatgeschichte im Warsteiner Raum scheint dies mehr als zu stimmen, vermutlich gibt es kein Lexikon, das die wechselvolle Geschichte Warsteins besser dokumentiert als Stefan Enstes lebhafte Erzählungen dies tun. Wieso kennt er sich so gut aus? Die Antwort kommt blitzschnell: „Es ist spannend. Das fand ich schon immer. Ich habe mich immer interessiert.“
Interesse. Das Wort fällt oft heute. Für Stefan Enste ist es von zentraler Bedeutung: „Interesse hilft. Wenn ich mich für nichts interessiere, dann kann da auch nichts bei rumkommen.“ Was dabei „rumkommt“, sei letztlich egal, meint der 44-Jährige. „Irgendwas. Eine Erkenntnis, die irgendwie weiterhilft“, sinniert er und nennt als Beispiel die Bilsteinhöhle. „Es gibt ungefähr 70 Höhlen im Warsteiner Raum, das hat nie einen interessiert. Woanders gibt es ein Loch und zwei Vereine kloppen sich drum.“ Zu viele Menschen interessierten sich einfach nicht mehr für das, was in ihrer Heimat passiere. „Das ärgert mich.“
Mittlerweile haben wir auf dem kaum vorhandenen Weg den Kapellenplatz erreicht, auch dazu kennt Stefan Enste die Geschichte, führt kurz aus, wie die Kölner Erzbischöfe diese Kapelle nutzten, wenn sie zur Jagd in Hirschberg weilten. Hirschberg ist die Heimat von Stefan Enste – und auch ein Ort, wo er Geschichten in Geschichte findet. Festgelegt auf eine bestimmte Epoche ist er dabei nicht. „Ich habe steinzeitliche Funde auf Hirschbergs Feldern entdeckt, aber auch einen Bügelverschluss einer Mineralbrunnen-Flasche“, erinnert sich der Höhlenführer. Dessen Geschichte verfolgte Stefan Enste bis nach Stuttgart und fand heraus, dass die dazugehörige Flasche kurz nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg nach Hirschberg gefunden haben musste. Wer Geschichten sucht, findet sie in allen Jahrtausenden. „Es gibt so viele interessante Sachen; es ist traurig zu sehen, wie viel man nicht retten kann“, wird der 44-Jährige plötzlich nachdenklich, „jetzt geht langsam die Nachkriegsgeschichte unter. Sie stirbt mit den letzten Zeitzeugen.“
Den ganzen Tag mit einem Aufnahmegerät durch die Gegend laufen und einfach nur alten Menschen zuhören – für Stefan Enste wäre das ein Weg, wertvolle Erinnerungen zu konservieren: „Ich bin mir sicher, man käme aus dem Staunen nicht mehr heraus.“ Wünscht er sich mehr Zeit, um zumindest einen Bruchteil dieser Kultur zu konservieren? „Nein, ich fände es viel schöner, wenn es mehr Menschen gäbe, die sich ebenfalls dafür interessieren.“
Geschichten weitergeben, das spielt eine wichtige Rolle für Stefan Enste. In seiner Familie hat er selbst erlebt, wie gut das funktionieren kann: Jedes Jahr an Weihnachten, wenn bei Enstes der Baum geschmückt wird, sagt irgendwann einer: „Tante Dora hat die dicke Kugel kaputt gemacht.“ Stefan Enste lacht. „Ich kenne diese Tante Dora gar nicht, sie war die Tante meines Urgroßvaters, glaube ich. Aber das Schöne an dieser Geschichte ist doch: An einem konkreten Ort in einer konkreten Situation erinnere ich eine Geschichte, die ich selbst nicht erlebt habe, die aber über Generationen nur mündlich höchst zuverlässig weitergegeben wurde.“ Er wirkt selbst ein wenig ungläubig, als er die Geschichte erzählt, ein feines Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht. „Jedes Jahr Weihnachten denke ich an Tante Dora, ohne sie erlebt zu haben. Ich habe ziemlichen Spaß daran, solche Bezüge zu haben.“
Große Freude hat der Höhlenforscher auch an unserem Aufstieg auf den Turm. Zwar ist die Sicht durch den Schnee quasi nicht vorhanden und die Informationstafeln tief eingeschneit, doch wenn einer weiß, was auf ihnen steht, dann Stefan Enste. Kein Wunder, hat er sie doch selbst geschrieben.
Auf dem Rückweg erzählt Enste von einem Phänomen, das er seit einigen Jahren beobachtet. „Mittlerweile ist Höhenangst bei Kindern im Trend.“ Wenn er mit ihnen auf den Bilsteinfelsen steige, bekäme er immer öfter zu hören: „Eigentlich habe ich ja Höhenangst.“ Überhaupt werde die Höhle als Erstes immer als etwas Gefährliches wahrgenommen, von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. „Als ich 1989 meine erste Höhlenführung gemacht habe, da hat das noch keiner gefragt, ob die Höhle denn auch sicher sei oder schon einmal etwas passiert sei.“
Er selbst fand die Höhle immer spannend, als Zweitklässler kroch Stefan Enste das erste Mal mit der Taschenlampe durch die Höhle – und kam von da an nie wirklich von ihr los. „Ich fand das schon immer spannend, dieses Unterirdische.“ Als Jugendlicher arbeitete er in den Ferien an der Höhle. „Das war ein viel spannenderer Aushilfsjobs als alle anderen.“ Die Begeisterung ist ihm anzumerken, seine Führungen versucht er immer gleichbleibend spannend zu gestalten. „Eine Führung an der Bordsteinkante des Wissens zu machen, das ist ganz gefährlich, das möchte ich nicht.“ Fragen müssten jederzeit möglich sein. „Da müssen wir mehr dran arbeiten.“
Viel zu tun gäbe es ohnehin im Bilsteintal. „In den letzten Jahren sind die Erwachsenengruppen ziemlich weggebrochen“, erzählt der Höhlenführer ernst, „dadurch sind die Kinder natürlich unheimlich wichtig für uns.“ Die Zeit der Kurgäste aus den Kurorten an der Haar ist vorbei, es kommen nicht mehr jeden Samstag die Busse mit 30, 40 Mann. „Das gibt es seit vielen Jahren nicht mehr.“ Wie steuert man da gegen? Kann eine einfache Höhle heute interessant sein, ohne Technik, ohne multidimensionale Erlebnis-Führungen?
Stefan Enste nickt vehement, er ist überzeugt: „Ich bin gnadenlos davon überzeugt, dass es funktioniert und der Erfolg gibt uns recht.“ Sprechende Taschenlampen, Erlebnisführungen mit Audioguides, bei denen die Besucher alleine durch die Höhle gehen, davon hält Enste nichts. „ Man kann das so machen, aber es muss auch passen. Und es wäre längst nicht für jeden was, alleine durch die Höhle zu gehen.“ Der Höhlenführer ist ernst, bei dem Thema „Höhle“ will er sich nicht reinreden lassen. „Mal ehrlich, wer könnte besser wissen, was für die Höhle gut ist, als die Menschen, die tagtäglich in ihr unterwegs sind?“.
Wir sind am Parkplatz angekommen, auf dem „normalen“ Weg. Könnte sich Enste vorstellen, was anderes zu machen? „Nö, momentan mache ich das sehr gerne“, kommt die Antwort. Die Überlegung, in die Wissenschaft zu gehen, verwarf er, als einer seiner Professoren ihm nicht einmal sagen konnte, wie man am schnellsten zum Bahnhof kommt – in der Stadt, in der er seit Jahren arbeitete. „Wenn man so in der Wissenschaftswelt festsitzt, dass man nichts mehr von außen mitbekommt, dann ist doch was nicht richtig.“ Stefan Enste könnte das nicht passieren. Dafür geht er viel zu gerne abseits der Wege.