Warstein. . Der ganze Regen dieser Welt scheint an jenem Morgen auf den Stimm Stamm zu fallen. Schmuddel-Wetter. Ein graues, nasses Kleid umhüllt den Pfad vom Parkplatz bis zum Lörmecke-Turm. Das ist kein Parade-Auftakt für unseren ersten „Talk am Turm“.
Mein Gesprächspartner hält aber für suppige Wetterverhältnisse wie diese eine echte sauerländische Weisheit bereit: „So is’ das eben.“ Es gibt kein falsches Wetter. Nur falsche Kleidung. Und deshalb hat Pastor Markus Gudermann unseren Termin auch nicht abgesagt. Er hat mich nicht im Regen stehen lassen.
Darin steckt schon so viel von dem, wofür seine Gemeinde in Belecke ihren Pastor schätzt. Gudermann ist pragmatisch und geerdet. Keiner, der sich auf der Kanzel neu erfindet. Jemand, der die Dinge auch mal laufen lässt. „Ich kann doch“, und damit lässt er schon auf den ersten Metern unseres Spaziergangs wieder jene sauerländische Gelassenheit durchblitzen, „viele Dinge sowieso nicht ändern.“
Wanderschuhe und Regenjacke
Er trägt Wanderschuhe und Regenjacke. Die Schultern hebt er darin so an, dass seine Hände nicht mehr aus den Ärmeln gucken. Wie ein Schulkind mit zu großem Pullover. Der Regen kommt jetzt nicht mehr von oben, sondern von vorne. Die kleinen Kieselsteine auf dem Weg knirschen im Profil unserer Wanderschuhe
Der Pastor marschiert stramm. Trainiert? „Nein, ich mache mir gar nichts aus Sport.“In zwei Stunden ist Beerdigung. Da muss er pünktlich sein. Und trocken. Und mal wieder die richtigen Worte finden.
Der Pastor-Job öffnet nur wenige Zeitfenster für private Momente, in denen der 45-Jährige mal nur Markus Gudermann sein kann. Jener Sunderaner Junge, der die Natur liebt und jene Minuten zu schätzen weiß, in denen man mal nichts tun muss. Arbeiten Sie zu viel Herr Gudermann? „Manchmal ist es ein ganzer Berg, der sich da auftürmt. Aber ich mache das ja auch mit viel Freude.“ Der Tag habe manchmal 10 bis 14 Stunden. Gemeindearbeit, Beerdigungen, Jubiläen, Seelsorge, Gottesdienst-Vorbereitung, Verwaltungsarbeit. Ein Mann Gottes zu sein hat seine irdischen Grenzen vor allem in der Anatomie. Ein Pastor hat eben auch nur zwei Arme, zwei Augen, zwei Ohren.
So langsam wird es warm unter den Regenjacken. Gudermanns Brille beschlägt. In kleine Redepausen schwingt sich ein Anflug von Japsen. Japsen, das ist ein gutes Stichwort. Auch die Kirche in der Region japst. Nicht nach Luft, sondern nach Frische, nach Jugendlichkeit.
Im demografischen Würgegriff
Die neueste Prognose der Pastoralverbünde legt den demografischen Würgegriff noch ein bisschen fester an. „Natürlich sind die Zahlen alarmierend“, sagt Gudermann, „aber ob das das Ende der Kirche sein wird?“ Bei vielen fehle noch der „Klick“. Der Moment im Leben, der den Glauben bringt. „Man kann den Glauben nicht machen“, sagt Gudermann, „er muss kommen.“
„Klicks“ also. Was so elektronisch, so plastisch klingt, sind die großen Glanzpunkte oder der Balance-Akt am Abgrund im Leben eines Menschen. Der Moment der größten Dankbarkeit oder eben jene Stunde, über die Gudermann sagt, „dass man in ihr nicht tiefer fallen kann als in die Hände Gottes.“ Aus der vom mittlerweile seitwärts gepeitschten Regenjacke neben mir strahlt tiefstes Gottvertrauen in den nebligen Wald.
Für einen kurzen Moment vergesse ich all meine Fragen. Irgendwie ist das für mich gerade ein kleiner „Klick“. Lass doch manche Dinge mal geschehen. Fürchte doch nicht immer den Moment des Stillstands. Gudermann sagt das nicht aus priesterlicher Routine. Er war selbst an dem Punkt der totalen Machtlosigkeit. Dort wo die Angst jede Bemühung um positives Denken verweht.
Als sein Vater von einem Auto erfasst wurde und mit zwei Beinbrüchen und schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus mit dem Tod rang, schickte Gudermann Gebete in Dauerschleife in den Himmel. „Ich konnte nichts tun“, erinnert er sich.
Offener Mensch mit Charisma
Die Angst lähmte. Ob es die Gebete oder sein guter Draht zu Gott waren, die seinen Vater überleben ließen, weiß er nicht. „Ich weiß nur, dass ich noch nie so oft danke in meinem Leben gesagt habe wie in dieser Zeit.“
Ein Thema wollte ich eigentlich nicht ansprechen. Aber es brennt auf der Zunge. Irgendwie ist Gudermann auch das, was viele Frauen wohl als „gute Partie“ bezeichnen würden. Ein offener Mensch mit Charisma, einem ansteckenden Lachen und dieser über allem thronenden Beruhigung. Ein Mann mit Chancen, oder?
„Sicherlich wäre ich nicht ganz chancenlos“, sagt er. Jetzt lächelt er nicht. Er wirkt nachdenklich. „Aber ich habe mich anders entschieden.“ Vor rund 20 Jahren war das. Da schlug der Sauerländer den Weg zur Priesterweihe ein. Zu einem Leben ohne Partnerin – zum Weg in den Zölibat.
Ich, der kein Priester ist, vermutet anstrengende gedankliche und moralische Übung hinter dem Verzicht auf ein Leben zu zweit. Einen lebenslangen Konflikt, den man im stillen Kämmerlein ganz alleine ausficht. „Sie dürfen nicht vergessen, dass das alles auf Überzeugung fußt“, sagt Gudermann, „wenn ich damit kämpfen müsste, hätte ich mich niemals für meinen Beruf entschieden.“
Konzentration auf den Geist von Weihnachten
Der 45-Jährige weicht Fragen dieser Art nicht aus. Er gesteht, dass es an Weihnachten manchmal ein „besonders merkwürdiges Gefühl“ sei, wenn die Familien in Harmonie und Eintracht die Messe verlassen und den Heiligen Abend gemeinsam zu Hause verbringen. „Ich mache mir daheim an so einem Abend ein wenig Musik an und konzentriere mich auf den Geist von Weihnachten“, verrät Gudermann und schiebt nüchtern hinterher: „Natürlich ist es für viele Menschen besonders in dieser Zeit schön, einen Partner zu haben.“
Wir sind jetzt kurz vor dem Lörmecke-Turm. Die ersten Menschen kommen uns entgegen. Walker, die dem Regen, der jetzt scheinbar auch von unten kommt, genauso trotzen wie wir.
Das Thema Weihnachten beschäftigt mich noch. Ich gehöre auch zu jenen Gemeindemitgliedern, deren Passfoto eigentlich schon im Schaukasten vor der Kirche hängen müsste, damit der Pfarrer überhaupt noch weiß wer sie sind. Nur am Heiligen Abend schleiche ich hin, komme meistens während die Orgel schon spielt und nehme in der letzten Reihe Platz.
„Daran gewöhnt man sich“, sagt Gudermann. An Weihnachten ist die Bude ausverkauft. Er ist ehrlich, macht keinen Hehl daraus, dass es „manchmal echt blöd“ sei, die Schäfchen bis zum nächsten Jahr zu verabschieden. „Natürlich fragt man sich dann: Was gibt euch Kirche eigentlich? Sind es nur Atmosphäre und Stimmung?“
Abgebrannte Friedhofskerzen
Ich muss mich das wohl auch fragen. Vielleicht hat es in meinem Leben aber auch einfach noch nicht richtig „Klick“ gemacht.
Am Lörmecke-Turm versucht unser Fotograf Tim Cordes ein gescheites Porträt von Markus Gudermann einzufangen. Der Nebel, der Regen und Gudermanns schwitzendes Okular machen es aber fast unmöglich. „So ist das eben“, schmunzelt er. Fotos seien schließlich nicht so wichtig.
Vor dem Turm stehen noch einige abgebrannte Friedhofskerzen. Mit dem Rest hat der Wind gespielt und sie in alle Himmelsrichtungen verteilt. Vor kurzem hat hier ein Mann den letzten Ausweg vom Aussichts-Plateau in windiger Höhe gesucht. Gudermann hält inne.
Mit Selbstmördern hatte er es auch schon zu tun. Die Trauergespräche in den Familien seien von noch dunklerer Qualität als die ohnehin schon von Schmerz und Kummer durchdrungenen Termine bei Hinterbliebenen. Die Beerdigung kommt Gudermann zynischerweise wieder in den Sinn. Etwa eine Stunde noch. Wir gehen zurück.
Mantel des Misstrauens
Dunkel war auch das Jahr 2010 für die Katholische Kirche. Die Missbrauchsfälle haben einen Mantel des Misstrauens über die Hüter von Glaube und Werten gelegt. Auch an Gudermanns Arbeit ist das nicht spurlos vorbeigegangen.
Vor einiger Zeit habe ihn eine Messdienerin gefragt, ob er sie vielleicht nach Hause fahren könne. „Solche Dinge tue ich zum Beispiel nicht mehr. Ich empfange auch keine Kinder mehr allein im Pfarrhaus“, sagt er. Engagierte Geistliche wie Gudermann, dem die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Herzen liegt, baden das abnormale Verhalten einiger Kollegen aus - verrückte Welt.
Der Himmel klart etwas auf. Nur noch Niesel-Regen statt Tropfen-Peitsche. Das ist jetzt leider egal. Ich hätte mehr Geld in eine gute Regenjacke investieren sollen. Wo ich lange Zeit Schweiß wähnte, rinnt jetzt Regenwasser den Rücken herunter.
Der Boulevard hatte die Missbrauchsfälle großzügig ausgeschlachtet und vor allem den Zölibat für die unsteuerbaren Triebe einiger Geistlicher verantwortlich gemacht. "Das ist Quatsch, Zölibat macht nicht krank", erklärt Gudermann, „aber in gewisser Weise ist es leider auch für das Ausleben abnormaler Fantasien förderlich gewesen. Der Zölibat schafft einen Schutzschild um die Leute herum. Keiner fragt, was man so macht“, sagt der Geistliche. Er hat sich maßlos geärgert über die Täter und kann heute noch nicht verstehen, wie man das mit seinen Wertvorstellungen als Priester vereinbaren kann.
Unterwegs im Auftrag des Herrn
Wie schön ist da das Signal, das aus der anderen Richtung kommt. Von Kindern, von Jugendlichen. Sie haben ihren Pastor Markus Gudermann im Internet entdeckt. Auf Facebook. „Ich war neugierig und habe mich einfach mal angemeldet“, sagt er. Seitdem spürt er, was multimediale Nächstenliebe bedeutet. „Da wollen ziemlich viele Leute meine Freunde werden."
Nur von der Pflicht, ständig mitzuteilen was er gerade tue, entbindet er sich. „Da käme ich gar nicht hinterher. Und viele Dinge würden die Leute vielleicht auch nicht lesen wollen.“
Unser Spaziergang ist rum. Gudermann muss zur Beerdigung. „SO-PX“ prangt von seinem Kennzeichen als er Richtung Warstein zurück rollt. Chi und Roh, die griechischen Buchstaben die aussehen wie ein X und P. Das Christus-Anagramm. Unterwegs im Auftrag des Herrn. So ist das eben …