Warstein. . Über die Gemeinschaft zum Erfolg - das ist die Lebensphilosophie von Günther Risse. Der 59-Jährige ist Lehrer, Fußballer und Schützenoberst. Günther Risse ist ein Vereinsmensch durch und durch.
Stellen wir uns mal für zwei Stunden vor, das Leben sei ein Fußballspiel. Anpfiff. Zwei Halbzeiten. Ein paar rüde Fouls, schöne Tore. Schlusspfiff. Wer kein Fußball-Ass ist, so wie ich, aber verstanden hat, dass die talentiertesten Mannschaften aller Zeiten ihre Meister nie in anderen Talent-Schuppen, sondern in verschworenen Gemeinschaften mit echter Kameradschaft gefunden haben, der wird meinen Gesprächspartner in den nächsten 120 Minuten verstehen lernen. Über die Gemeinschaft zum Erfolg - das ist die Lebensphilosophie von Günther Risse.
Der Stimm Stamm hat schon jede Wetterlage für unsere Spaziergänge bereit gehalten. Schock-Frost. Sonnenschein. Nebel. Regen von oben. Von der Seite. Von unten. Heute ist Amazonas-Tag. Biergarten würdige 23 Grad. Aber der Himmel schmeißt mit eklig warmen Bindfäden. Günther Risse ist zum Glück nicht aus Zucker. Und selbst wenn: Er könnte es sich bei 1,96 Meter Körpergröße erlauben ein wenig zu schmelzen. Ich auch. Allerdings eher von vorne nach hinten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Noch sagt er „Sie“ zu mir. „Sie“, erinnert er mich, „haben doch am Telefon gesagt, es gebe kein falsches Wetter, sondern nur die falsche Kleidung.“ Richtig. Und deswegen kratzt es an meiner vorgetäuschten Härte, dass Risse seinen Familienschirm auch schützend über meinen Kopf hält.
„Ein Ungeheuer namens Risse“
Diesen Spaziergang zum Turm haben wir wenige Tage vor dem Suttroper Schützenfest gemacht, das heute beginnt. Es wird sein erstes als Oberst sein. Die „Belecker Hausgeburt“, wie Risse über sich selbst sagt, hätte vor vielen Jahren niemals geglaubt, überhaupt mal ein Suttroper Schütze zu sein. In Belecke stand seine Wiege. Hier ging er zur Schule. Hier ballerte sich der damals 24-Jährige in die Annalen der Bürgerschützen. Als der Vogel beim 1977er-Schützenfest von der Stange fiel, hatte Risse, der jüngste König aller Zeiten, ihm den bleiernen Rest gegeben. Da ging sie los, die Schützen-Karriere.
Der liebe Gott hat das Holz, aus dem Vereinsmenschen sind, verwendet, als er den baumlangen Günther Risse schuf. Mit dem Unterschied, dass dieser Baum so ganz und gar nicht unbeweglich war, sobald ein Ball vor seine Füße rollte. Angefangen beim TuS Belecke, rackerte sich das Sturm-Talent bis in die höchste deutsche Amateurklasse und sogar fast zu Borussia Dortmund hoch. „Die Bild-Zeitung im Ruhrgebiet hat damals eine Geschichte über mich gemacht. Im Titel stand: Ein Ungeheuer namens Risse.“ Eine Anlehnung an Nationalstürmer Horst Hrubesch, der mit dem Kopf so wuchtig einnetzte, wie manche Spieler mit zehn Metern Anlauf und Vollspann nicht.
„Nicht meine Welt“
Nach einigen Probetrainings beim damaligen Zweitligisten stieg Risse aus. „Nicht meine Welt“, sagt er knapp. Heute ist er Trainer des B-Ligisten SuS Sichtigvor. Wer ihn nicht als Lehrer, als Schützen oder als ehemaligen Karnevalsprinzen wahrgenommen hat, kennt Risse frühestens - oder spätestens - vom Fußballplatz.
Günther Risse und Glaube, Sitte, Heimat
Wenn das Suttroper Schützenfest beginnt, wird noch ganz viel von dem, was Risse als Fußballer ausgemacht hat, im Herzen des Obersts mitschlagen. Gemeinschaft. Teamarbeit. Respekt. Die Fähigkeit zu akzeptieren - und Geduld. „Ein Schützenverein funktioniert genau wie eine Fußballmannschaft. Wie ohnehin das ganze Leben wie der Sport ist“, sagt Risse. Und umgekehrt. Das Ungeheuer weiß das.
Der Schirm kann jetzt weg. Der Wald versucht seine Nebelmaschine anzuwerfen. Heraus kommt aber nur Schwüle. Bäume und Sträucher wetteifern derweil darum, wer das schönste Grün hervorbringt. Jacke auf? Besser ist es. Sonst kommt passend zum Amazonas-Gefühl gleich noch ein nasser Rücken dazu. Moment mal, ist das ein Leguan am Wegesrand? Nein, vollgesogenes Moos, das den zwischenzeitlichen Schauer wie eine Runde Freibier herbei gesehnt hat. Natürlich grün.
Glaube, Sitte, Heimat. Es gibt zwei Denkmuster unter den Menschen, wenn sie mit den Idealen, den Leitprinzipien des Schützenwesens in Kontakt kommen. „Die einen sind Schützen. Sie versuchen diese Werte weiterzuvermitteln“, sagt Risse, „und die anderen sind die, die glauben, dass wir die ewig Gestrigen sind.“ Beim Durchbrechen dieses Denk-Knotens hilft dem 59-Jährigen, dass er nicht nur Schütze ist. Er ist Lehrer für Geschichte und Sport am Warsteiner Gymnasium. Er hat schon jungen Menschen das Fußballspielen gelehrt, als Handys noch Hirngespinste am Technik-Horizont waren. Das hat jung gehalten.
„Das Leben ist zu schnell geworden“
„Ich sehe, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat, wie sich unsere Kinder verändert haben. Das Leben ist zu schnell geworden.“ Früher sei eine Fahrt nach Dortmund ein absolutes Erlebnis gewesen. Heute seien Australien oder die USA einen Mausklick, nur den Gang ins Reisebüro entfernt. „Erklären Sie den jungen Menschen vor diesem Hintergrund mal, was Glaube, Sitte und vor allem die Heimat bedeuten sollen.“
Es ist eine Kluft, deren Überwindung er nicht als Bürde, sondern als Herausforderung ansieht. Er blickt beim Schützenfest in die Gesichter derer, die nach den grauenhaften Wirren des Zweiten Weltkriegs in ihrem Verein einen neuen Halt und das schmerzhaft vermisste Gefühl der Heimat gefunden haben. „Für unsere Älteren hat der Verein deshalb einen ideellen Wert, der unschätzbar hoch ist“, sagt Risse als wir kurz stehen bleiben. Dazwischen tummeln sich jene, für die Krieg und Leid glücklicherweise etwas sind, das sie höchstens aus seinem Geschichtsunterricht kennen.
Tragende Rolle der Jugend bei modernenen Schützenfesten
„Und doch erlebe ich, wie beide Gruppen miteinander funktionieren. Wie sie gemeinsam arbeiten und gemeinsam zu denken versuchen. In der Vorbereitung auf unser Schützenfest war das sichtbar“, sagt der Oberst voller Stolz auf den Nachwuchs in seinem Verein. „Da wächst etwas heran, das mich positiv in die Zukunft unserer Tradition blicken lässt.“
Ohnehin spielt die Jugend eine tragende Rolle bei modernen Schützenfesten. „Eine Hälfte unserer Besucher sind die Jungen. Die andere Hälfte sind die Senioren. Die Gruppe dazwischen, die 30- bis 50-Jährigen, die fehlt uns.“ Deshalb wird das Fest der Nachfrage angepasst. „Mittlerweile gibt es einen Tag, der für die Jugend gedacht ist. Abends spielt dann eine Live-Band.“ Die Vereine - nicht nur in Suttrop - müssen so planen.
Die Vielfalt an Freizeitangeboten, die Menge an Clubs, Discos und Bars, in denen sich junge Menschen heute amüsieren können, ist im Vergleich zu den 50er-, 60er-Jahren, als das Schützenfest das große Jahres-Highlight war, explodiert.
Günther Risse: Gemeinschaft das Wichtigste für die Menschen
Der Turm baut sich vor uns auf. Es nieselt wieder. Was hier unten seichte Tröpfchen auf der Stirn sind, ist 204 Stufen höher eine klatschnasse Abreibung, die Petrus jedem verpasst, der seine Niesel-Warnungen nicht ernst nimmt. So hoch werden wir allerdings nicht steigen. Das hat einen mehr als guten Grund, den Risse mir aber leider viel zu spät verrät. „Ich habe eine Herz-OP hinter mir.“ Schon immer, auch während seiner Fußballer-Karriere hat er gespürt, dass etwas nicht stimmt. „Beim ersten Sprint nach der Halbzeit hatte ich häufig Herzrasen. Ich habe aber nicht viel darum gegeben.“
An jenem Nachmittag in einer Turnhalle in Warstein zwang ihn sein Körper aber, etwas darum zu geben. Während der Stadtmeisterschaft fuhr Risse ins Krankenhaus. Was folgte war eine oft entmutigende Odyssee von „Ihnen fehlt nichts, sie müssen nur abnehmen“ bis zu dem Satz, den der entscheidende Arzt bei einem Leistungstest fallen ließ: „Sie hören sofort auf zu trampeln. Es ist allerhöchste Alarmstufe.“ Risses hintere Herzwand-Arterie war seit Geburt an seinem Herzen angewachsen. Spezialisten korrigierten diesen Fehler später.
Rational und wissenschaftlich betrachtet war das der medizinische Schlüssel zur Hilfe. Emotional, seelisch und gedanklich aber ein großer großer Einschnitt in seinem Leben. „Den Gedanken, nicht selbst über sich bestimmen zu können, den kannst du erstmal gar nicht fassen. Das ist etwas Übernatürliches. In dieser Zeit hat es mir gut getan, etwas zu haben, das Sinn stiftet.“ Es war sein Glaube.
Viele gemeinsame Interessen
Noch immer sei es schwer zu begreifen, welches Glück er in all den Jahren als Fußballer hatte. Was hätte mit mir passieren können? Was wäre mit meiner Familie geschehen? Gedankenspiele, deren dunkle Erfüllung niemals eingetreten ist und die doch weh tun, weil man sie als feinfühliger Mensch nicht über Bord werfen kann.
Wir sind längst auf dem Rückweg. Der Boden dampft. Es klart auf. Ungefähr so wie der Himmel die dunklen Wolken beiseite schiebt, wirkt auch Risses Frau Margret daheim ihre kleinen Wunder. „Ohne meine Frau wäre das alles gar nicht möglich“, sagt er und verrät eines der Geheim-Rezepte, warum es so gut funktioniert: „Wir teilen viele unserer Interessen. Wir gehen gemeinsam zum Fußball und sind in Vereinen engagiert.“
Die kleine Schmunzel-Anekdote dazu muss aber auch erzählt werden: Die zwei Jahre jüngere Margret interessiert sich erst für Fußball, seit ihr Günther, der damals noch nicht „ihr“ Günther war, sie mit seinem Fußball-Album rumgekriegt hat. „Manche zeigen die Briefmarken-Sammlung, ich hatte dieses Album von meinem Vater.“
Kopfball-Ungeheuer in engen Hosen
Der Senior hatte die Karriere seines Sohnes darin säuberlich archiviert. Das Kopfball-Ungeheuer in engen Höschen, die ob ihrer Länge heute in der Damenabteilung hängen - dort heißen sie „Hot Pants“.
Seine Worte über „Margret“ klingen noch wärmer als die anderen. Die 57-Jährige hat selbst eine schwere Zeit hinter sich. Aus ihrem alten Job als Kauffrau hat sie sich wegen einer Burn-Out-Erkrankung zurückgezogen. Nun hat sie eines ihrer größten Talente zu ihrem Beruf gemacht und eine kleine Schneiderei eröffnet.
Ein Blick in die Augen von Ehemann Günther verrät, was dieses Projekt für die Risses bedeutet: „Meine Frau hat das verdient. Das war, was sie immer konnte und immer wollte. Der Zuspruch von den Menschen im Dorf ist so positiv. Das berührt mich auch.“
Nichts Wert ohne Mitspieler
Die Gemeinschaft habe ihnen die Stärke gegeben, „die Kurve zu kriegen“. „Gemeinschaft, sie begegnet mir immer wieder in meinem Leben. Sie ist das Wichtigste für die Menschen. Ich war beim Fußball ohne meine Mitspieler nichts wert. Im Schützenverein kann ein Oberst ohne die fleißigen Mitglieder auch nichts ausrichten. Und in der Familie ist Gemeinschaft das, was alles zusammenhält.“ Ein Gefühl, das diesem bodenständigen Kerl sicherlich auch in den nächsten vier Tagen zurückgegeben wird.
Am Ende unseres Spaziergangs zwinkert er mir zu: „Ich bin übrigens Günther.“ Es ist seine Art zu sagen, dass ihm der Amazonas-Tag gefallen hat.