Warstein. . 15, vielleicht 20 Meter. Länger dauert es nicht, ehe Josef Leßmann das erste Mal eine Tür in sein Inneres öffnet. Der Mann, der mit Feuereifer und Herzblut dunkle Schatten und Störgeister von fremden Seelen zu vertreiben versucht, spricht über eines der größten Traumata in seinem eigenen Leben.
Er war 15 Jahre alt, als ein Lkw seinen Vater aus der sechsköpfigen Familie riss. Schicksalsschlag. Trauma. Doch zugleich Weichenstellung und Charaktertest. „Ich habe früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Leßmann. „Es hat mich für das spätere Berufsleben gestählt.“ Der gebürtige Höxteraner wälzt sich zielstrebig durch das Medizinstudium, wird 1984 Assistenz-Arzt der Suchtfachklinik Stillenberg, 1990 bereichsleitender Arzt der Westfälischen Klinik in Warstein und im Juli 1996 schließlich Klinikchef in Warstein. Eine „Herzens-Aufgabe“, wie Leßmann sagt.
Als wir uns auf den Weg zum Lörmecke-Turm machen, hat der Winter den Stimm Stamm schon gepudert. Der Atem dampft. Die Haut spannt. Doch neben Leßmann wird einem nicht kalt. Seine Worte und Blicke sind voller Warmherzigkeit, die sich echt anfühlt. Kein Showmachen für den Pressetermin. Leßmann wirkt offen. Lebenslustig. Positiv.
Ehefrau hält den Rücken frei
Der 55-Jährige unterlegt jeden seiner Gedanken mit klaren Gesten. Es verwundert, dass seine Antworten angesichts ihrer Tiefe so zügig über seine Lippen kommen. Die Unterhaltung fesselt früh. So ein Mensch macht Spaß.
In diesen Tagen trudeln Leßmanns Kinder in der Heimat ein. David, Nicola und Jonas studieren Politikwissenschaften, Kunst und Audio-Engineering. „Mediziner wollte keines meiner Kinder werden“, lacht Leßmann. Denn daheim ist Vater Josef nicht gerade ein Vorzeige-Doktor. „Ich sage häufig, das geht von alleine wieder weg. Ansonsten rate ich zu Salbe. Hauchdünn.“
Den Nimbus des Arztes habe er den Kindern längst genommen. Seiner Frau auch ein bisschen. Mit Monika ist er seit 27 Jahren verheiratet. Die Erzieherin, die sich in ihrer Freizeit stark in der Pankratius-Gemeinde engagiert, gibt ihm Halt. „Meine Frau trägt vieles mit. Sie hält mir den Rücken frei“, sagt er, „sie sagt aber auch oft: In deinem Leben kommt erst die Klinik, Klinik, Klinik, dann der MGV 1858 und dann irgendwann ich.“
Kampf für Gleichberechtigung psychischer und körperlicher Erkrankungen
Die eigene Professionalität – das Psychiater-Sein – kommt im Alltag eines Chefs von rund 800 Angestellten für Leßmann häufig zu kurz. Zwar behandelt er noch Patienten, dem praktischen Teil seiner Arbeit aber geht er während seiner gutachterlichen Tätigkeit nach. Vorwiegend im Hochsauerlandkreis. „Da kenne ich die Menschen und die Zusammenhänge kaum. Das ist vorteilhafter“, sagt Leßmann. Die Psychiatrie ist eine intime Disziplin. Die meisten Menschen scheuen vor ihr, vor dem Blick in die Seele. Oder nicht Herr Leßmann? „Danke für diese Steilvorlage“, entgegnet mir der Psychiater. Er bleibt stehen, hebt den Finger. „Ich würde sagen, die Psychiatrie ist vielfach normaler als die Öffentlichkeit sie wahrnimmt.“
Leßmann kämpft seit vielen Jahren für die Gleichberechtigung psychischer und körperlicher Erkrankungen. „Man sollte sich kein Stigma geben. Es gibt schlimmere Dinge, als sich in einer schweren Phase im Leben helfen zu lassen.“
Spaß beim "Schwäler-Stammtisch"
Die überdachte Bank am Wegesrand lädt zu kurzer Rast ein. „Jetzt haben wir aber gar kein Warsteiner“, sagt Leßmann. Blick auf die Uhr. Es ist viertel vor zwölf. „Ich kann auch früh mal ein Bier trinken.“ Ich auch. Es macht aber nichts, dass wir keins haben, denn Leßmann hatte am Abend zuvor in der Domschänke beim „Schwäler-Stammtisch“ erst das Vergnügen. Der trifft sich jeden letzten Freitag im Monat. Beim Jahresabschluss-Essen waren diesmal auch die Ehefrauen dabei.
Wir sitzen. Wir rasten. Keine Hast. Kein Tempo. Wie sieht so ein Arbeitstag im Leben eines Klinik-Direktors eigentlich aus? Was bleibt da für Josef Leßmann selbst? „Ich bin Frühschwimmer“, fährt es aus ihm heraus. Zweimal pro Woche zieht er mit Freunden, Nachbarn und anderen Warsteinern seine Bahnen im Allwetterbad. Die soziale Kontrolle ist hoch. „Wer nicht kommt, wird sofort gefragt, wo er war“, sagt er. Früher ging er 13 Jahre lang dreimal pro Woche joggen. Heute fordert der Klinik-Alltag seinen sportlichen Tribut. Um 5.27 Uhr klingelt der Wecker. Nicht früher. Nicht später. Um 7.30 Uhr geht es – an den Tagen, an denen er nicht schwimmt – in den auch von ihm geleiteten Standort in Benninghausen. Am Mittag zurück nach Warstein. Die Arbeit dort dauert bis etwa 18 Uhr. Danach zwei Stunden Aktenstudium. Nach Hause. Abendbrot. Die Tagesschau. Noch mal zwei Stunden Schreibtisch. „Ich stehe mit Herzblut hinter dieser Klinik“, sagt Leßmann. Anders ist so ein straffes Programm wohl auch nicht zu schaffen.
Akku im MGV 1858 aufladen
Den Akku lädt er im MGV 1858 wieder auf. Wenn Leßmann über den Männerchor und die Musik spricht, weht ein Hauch Euphorie in seiner Stimme mit. Wie bei einem Kind, das das nächste Fußballspiel kaum erwarten kann. „Die Musik ist etwas ganz Wunderbares und vor allem bringt sie Gemeinschaft.“ Als erster Bass singt er dort mit, was seine Sprechstimme ebenfalls nicht verleugnen kann.
Müde wird Leßmann in seinem dichten Alltag nicht. Zu sehr fühlt sich der 55-Jährige seiner Disziplin verpflichtet, den Menschen in der Region, die unter großem Leidensdruck den Weg durch die Kliniktüren finden. „Wer zu uns kommt“, sagt Leßmann, „den nimmt man nicht nur aus professionellen Gründen ernst, sondern auch, weil wir wissen, was derjenige schon durchgemacht hat, bevor er diesen Schritt wagt.“ Nimmt man die Ängste und Nöte der Patienten in einem so sensiblen Job denn nicht manchmal mit nach Hause? „Nein. Das ist meine Professionalität. Zuhause kann ich abschalten. Ich schlafe auch sehr gut.“ In der Klinik verfolgt er ein klares Credo: „Dort gibt es kein „Ich“, sondern immer das „Wir“. Jeder ist dazu angehalten, über seinen Tellerrand zu schauen, jeder denkt über das Gesamte nach. Das hat den Standort Warstein in den vergangenen Jahren auch so erfolgreich gemacht.“
Leßmann ist Burn-out-Experte
Leßmann ist Burn-out-Experte, hat schon viel über das Erschöpfungssyndrom publiziert. Als wir am Lörmecke-Turm ankommen vertiefen wir das Thema. „Burn-out ist keine manifeste psychiatrische Erkrankung“, erklärt Leßmann. „Es ist die Folge einiger Faktoren, die sowohl die Persönlichkeit betreffen, als auch externe Faktoren wie die Arbeit, Hobbys oder unseren Partner.“
Aber, wenn Arbeitstiere plötzlich in Starre verfallen, wenn Enthusiasten plötzlich verstummen, wenn extrovertierte Macher ermüden, dann gehe es nicht immer nur um das „zu viel“.
„Es ist ein Teufelskreis“, weiß Leßmann. „Wer bei seiner Arbeit zum Beispiel plötzlich nicht mehr die Wertschätzung erfährt, die er braucht – also Bestätigung durch Topleistung – wird irgendwann erste Symptome verspüren. Doch weil ja die Arbeit die Bestätigung bringt, wird er das Problem zuerst durch noch höheren Einsatz zu lösen versuchen.“
Das heißt im Klartext: Der Ermüdete beraubt sich der letzten Reserven durch noch mehr Anstrengung. Die Folge: Man fällt aus. Im Schnitt 39 Tage wie Leßmann weiß. „Zudem haben wir im letzten Jahr 33 Prozent aller Rentenneuzugänge wegen psychosomatischer Erkrankungen gehabt. Wenn man sich die letzten 20 Jahre anschaut, steckt da der Faktor fünf drin.“ Doch nicht nur die Leistungsträger „verbrennen“ dann mit der Zeit. Auch jene, die durch noch mehr Qualitätsmanagement, Stellenrationalisierungen und „Effizienz-Steigerungen“ am Arbeitsplatz zu ihren originären Aufgaben mit noch mehr Arbeit zugefrachtet werden, gehören zu den Patienten. Mit Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen fange es an, mit Deprimiertheit und Angstzuständen höre es auf, sagt Leßmann.
Übersteigerter Anspruch an Harmonie
Weihnachten steht vor der Tür. Auf dem Rückweg sprechen wir über die psychische Dimension des so genannten Weihnachtstresses. Kann der krank machen, Herr Doktor? „Krank vielleicht nicht. Aber es gibt durchaus eine psychologische Erklärung dafür.“ Durch übersteigerten Anspruch an Harmonie und dem gleichzeitigen Wegfall der alltäglichen Strukturen könne der Tagesfrieden erheblich gestört werden. „Durch die fehlende Struktur, viele von uns haben ja frei, kommen wir schnell auf den Gedanken, dass viele Dinge, so wie sie laufen, ja überhaupt nicht mehr in Ordnung sind. Das ist der Grund; warum auch im Urlaub so viele Beziehungen kaputt gehen.“
Vom Weihnachtsstress lässt sich der Psychiater nicht anstecken. Leßmann ist kein Stressmann. Auch die Tatsache, dass er zum Zeitpunkt unseres Spaziergangs noch kein Weihnachtsgeschenk für seine Frau hat, macht ihm keinen Druck.
Bevor unser Rundgang endet, frage ich nach der Zukunft. Nach der Zeit nach der Klinik. Bleibt der Höxteraner der Wästerstadt erhalten? „Wissen Sie, mit zunehmendem Alter sprießen die Wurzeln einer alten Eiche nicht mehr so stark. Wir fühlen uns wohl hier.“ Und viele Menschen fühlen sich wohl mit Josef Johannes Leßmann.