Siegerland. KInder, die mit 15 nicht rechnen, nicht richtig lesen und sich nicht ausdrücken können: Wir haben Schulleitungen nach Erklärungen und Lösungen gefragt.
Den internationalen Leistungsvergleich hat Deutschland verloren: In der neuen Pisa-Studie schneiden 15-jährige Schülerinnen und Schüler schlechter ab als zuletzt vor drei Jahren. Die Schwachpunkte: Lesekompetenz, Naturwissenschaften, Mathematik. Schulleiterinnen und Schulleiter im Siegerland hat das nicht überrascht.
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Alexander Lisai, Leiter der Gesamtschule Auf dem Schießberg in Geisweid, schaut auf die Länder, die besser abgeschnitten haben: Die sind früher gut gewesen in Digitalisierung, haben den Lehrerberuf anders ausgestaltet, mit ganztägiger Präsenz in der Schule, wo sie auch Arbeitsplätze haben und immer für die Jugendlichen erreichbar sind, lassen Jugendliche selbstständig lernen - und sie haben kein nach Schulformen gegliedertes Schulsystem. „Wir brauchen eine klare Ansage für Individualisierung.“ Die sich auch am Lernort selbst bemerkbar machen könnte, jenseits von unifomen Klassenzimmern. „Im Zweifelsfall kann man auch mal auf dem Sofa lernen.“
Dr. Jochen Dietrich, Leiter des Gymnasiums Stift Keppel in Allenbach, hebt die Defizite in der Sprachbildung hervor, die sich auf alle Fachbereiche auswirken. Wer nicht im Lesen geübt ist, versteht die Aufgaben in Mathematik erst gar nicht - von der Fähigkeit, ein Ergebnis in Worte zu fassen, ganz zu schweigen. „Früher und intensiv“ müsse geübt werden, „damit man nicht im 1. Schuljahr mit der Herstellung von Schulfähigkeit anfangen muss.“ Außerdem: Zeiten, die mit Social Media verbracht werden, sind fürs Lesen und Schreiben verloren. „Das trägt viel zur jetzigen Situation bei.“ Zu hinterfragen sei schließlich, ob Schule alle gesellschaftlichen Probleme behandeln müsse, von der Verbraucherbildung bis zur Prävention gegen Rechtsextremismus: „Auch das nimmt alles Zeit in Anspruch.“
Eckhard Göbel, Leiter des Gymnasiums Netphen, sieht im Umgang mit digitalen Geräten eine Ursache dafür, dass Kinder Mühe habe, sich auszudrücken oder längere Texte zu lesen und zu verstehen. „Wir müssen Kinder dringend an Bücher heranführen.“ Die Lesewettbewerbe nehmen in Netphen wieder einen größeren Raum ein, eine Bücherei und eine Leseecke wurden eingerichtet.
Andrea Benito, Leiterin der Anita-Ruth-Faber-Sekundarschule in Netphen, sieht eine ganze Reihe von Baustellen: Verantwortungsbewusster Umgang mit Digitalisierung ist nur eine davon. Sprache steht im Mittelpunkt des Unterrichts, kleine Klassen, wie sie in Netphen gebildet werden können, sind hilfreich. Aber: „Es vergeht keine Woche, in der nicht neue Schüler zu uns kommen.“ Die in der Regel noch dabei sind, überhaupt erst einmal Deutsch zu lernen. Und schließlich ist, nach Corona, auch das Sozialverhalten Thema - Kinder müssen wieder neu lernen, miteinander umzugehen und Konflikte zu lösen. „Was wir brauchen, ist Zeit.“
Marco Schneider, Leiter der Clara-Schumann-Gesamtschule in Kreuztal, fordert Veränderung: „Die Schülerschaft hat sich geändert, da müssen sich auch die Schulen bewegen.“ Dazu gehöre der Abschied von einem Unterricht, wie er vor 15 Jahren üblich war. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass alle Schülerinnen und Schüler auf die gleiche Art lernen können.“ Die Schulen benötigten allerdings auch ausreichend Personal, um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, und äußere Voraussetzungen wie zum Beispiel Differenzierungsräume. Schneider setzt da auf die anstehende Erweiterung des Schulzentrums: „Es stehen ja Baumaßnahmen an.“ Vor allem aber müsse der Bedarf der Kinder frühzeitig festgestellt werden, spätestens beim Übergang von der Grundschule in die 5. Klasse. „Sonst unterrichten wir an den Kindern vorbei.“
Tanja Schwenke, Leiterin der Carl-Kraemer-Realschule in Hilchenbach, sieht das Positive: Bei den landesweiten Lernstandserhebungen nach Klasse 8 lag das Hilchenbacher Ergebnis über dem Landesdurchschnitt. Die Rektorin hebt die Leistung der Jugendlichen hervor, die den Hauptschulbildungsgang eingeschlagen haben: „Die waren richtig gut.“ Die Hilchenbacher Realschule habe als kleines System Herausforderungen wie Zuwanderung und Pandemie auffangen können, gibt aber zu bedenken: „Wenn die Kinder bei uns landen, ist schon ganz viel passiert. Die Grundsteine werden in den Kitas gelegt. Man muss mehr in frühkindliche Bildung investieren.“
Florian Kraft, Leiter der neuen Gesamtschule Am Rosterberg in Siegen, hat zwar auch vier mit 29 Kindern proppenvolle 5. Klassen, aber noch eine vergleichsweise gute Ausstattung mit Lehrkräften, durch die Lernzeiten mit acht Gruppen möglich werden: „Da wird Arbeitszeit effektiv genutzt.“ Wichtig seien für die Schule Fachkräfte wie zum Beispiel Sonderpädagogen, außerdem Räume, in denen auch kleine Gruppen arbeiten können. „Wir müssen uns ein Stück umorientieren“, sagt Florian Kraft: „Schüler an ihren Interessen abholen.“ Auf dem Rosterberg ist der „Frei Day“ der Tag, an dem die Schülerinnen und Schüler in Projektkursen individuell arbeiten. „Motivation führt dazu, dass intensiv gearbeitet wird.“
Rüdiger Käuser, Leiter des Fürst-Johann-Moritz-Gymnasiums in Weidenau, ist skeptisch: „Ich weiß nicht, wie wir aus der Nummer rauskommen wollen.“ Nachdem Deutschland immer an Bildungsausgaben gespart habe, fehle nun zusätzlich zum Geld auch noch das Personal, der Lehrerberuf gelte als unattraktiv, die Klassen seien übervoll. „Der Bildungsnotstand hat sich über 20 Jahre fortgesetzt.“ Die Gymnasien brauchten über die Lehrkräfte hinaus multiprofessionelle Teams, in Siegen habe dagegen kein Gymnasium einen Sozialarbeiter - den bekämen die Schulen, wenn sie dafür Lehrerstellen aufgäben. „Wenn die Eltern selbst nicht mehr lesen“, sagt Käuser, greifen auch Kinder zu Hause nicht zum Buch. „Das können wir nicht ersetzen.“ Dabei braucht es nicht viel, um etwas zu ändern. Rüdiger Käuser berichtet über die gut gepflegte Präsenzbibliothek am FJM: „Die Kinder rennen uns die Bude ein.“
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