Geisweid. Die Gesamtschule Auf dem Schießberg stellt ihr neues Unterrichtskonzept vor: individuell – und digital schon, als es Corona noch nicht gab

Yagmur geht nicht einfach so in die Schule. Wenn sie morgens um 8 Uhr auf dem Schießberg ankommt, hat sie selbst geplant, was sie heute und in den nächsten Tagen lernt. „Wenn wir diese Woche eine Deutscharbeit schreiben, gucke ich, wann mein Fachlehrer ein Lernbüro anbietet.“ In einem anderen Fach sucht sie gezielt nach einem Lehrer, den sie im Unterricht nicht hat: „Der erklärt das besser.“ Und sie weiß, dass am Ende das Stundenkonto aufgehen muss: „Wenn ich in einer Woche mehr Mathe mache, mache ich in der nächsten Woche mehr Deutsch.“ Die Zehntklässlerin engagiert sich auch in der SV. „Wir haben wahrgenommen, dass wir mehr Unterricht brauchen“, erzählt Yagmur Ibis. Das Lehrerkollegium folgt: Ab 1. Dezember stehen je eine Stunde Mathe, Englisch und Deutsch mehr auf dem Stundenplan.

Zahlen

Die Gesamtschule Auf dem Schießberg wurde 2016 eröffnet; sie ist in die Gebäude der Realschule und der Geschwister-Scholl-Hauptschule eingezogen.

Zur Schulgemeinde zählen heute 632 Schülerinnen und Schüler, unter ihnen etwa 56 mit Förderbedarf, 72 Lehrerinnen und Lehrer, zwei Sozialpädagogen, etwa 20 Schulbegleiter für die Inklusionskinder und zehn nichtpädagogische Kräfte

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Die Idee: Kinder aus Geisweid stark machen

Schöne neue Schule? „Gute Schule“, sagt Alexander Lisai, der Direktor der jüngsten Siegener Gesamtschule, die inzwischen mit den Klassen 5 bis 10 komplett ist und im nächsten Schuljahr die Gymnasiale Oberstufe eröffnen wird. 2025 wird erstmals in Geisweid eine Abiturprüfung abgenommen werden. Und in den Reihen der Abiturienten werden auch junge Leute sein, denen das am Ende der Grundschule noch gar nicht zugetraut wurde. Viele hatten keine Gymnasialempfehlung, weiß Elternvertreterin Tanja Schmidt. Nun könnten es um die 50 sein, die nach der 10 weiterlernen, entweder hier oder an einem Berufskolleg. „Viele haben sich wahnsinnig gut entwickelt.“ Geisweid, weiß Alexander Lisai, ist „kein leichtes Quartier.“ Bildung, sagt der Pädagoge, „ist der Weg aus gewissen sozialen Gefügen heraus.“ Das geht mit engagierten Eltern. Aber auch dort, wo Eltern kein Interesse haben. „Das ist ein Grund, Kinder zu emanzipieren“, sagt Alexander Lisai, „unser Ziel ist es, die Kinder möglichst stark zu machen.“

Alexander Lisai leitet die Gesamtschule auf dem Schießberg seit ihrer Gründung im Jahr 2016.
Alexander Lisai leitet die Gesamtschule auf dem Schießberg seit ihrer Gründung im Jahr 2016. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Kinder, die früher auf dem Schießberg zur Haupt- oder zur Realschule gegangen oder nach Weidenau ins Gymnasium gefahren werden, sind nun zusammen in der Gesamtschule. „Wir wollen eine Schule für diesen Stadtteil sein", sagt Alexander Lisai. Tatsächlich kommen etwa 80 Prozent der Gesamtschülerinnen und -schüler auch aus Geisweid auf den Schießberg. Sie sind verschiedener denn je: vom Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf, das am Ende doch den regulären Realschulabschluss schafft, bis zum Physikschüler, der Bewegungsmechanik lernt, indem er ein Katapult baut und einen Chip mit Geschwindigkeitssensor herausschaut. Da braucht es Individualisierung, erklärt der Schulleiter. Und illustriert das mit einem Stundenplan, den sich die Kinder und Jugendlichen wie einen Rahmen selbst füllen. Zum Beispiel so:

Der Schultag: Lernbüro, Projekt, Werkstatt

Um 8 Uhr ist der gemeinsame Anfang in den Klassen, die bereits ab 7.45 Uhr geöffnet und beaufsichtigt sind.

Nach der halbstündigen Orientierung für den Tag geht es für 90 Minuten in die Lernbüros: Aus ihrer – digitalen – Lerntheke nehmen Schülerinnen und Schüler den Stoff, den sie nun selbstständig bearbeiten. Bei einem Lehrer oder einer Lehrerin für Mathe, Deutsch, Englisch, Naturwissenschaften oder Gesellschaftslehre.

Nach der 25-Minuten-Pause folgen ein 90- und ein 60-Minuten-Block. Auf dem Plan stehen nun Mathe, Englisch, Deutsch, Sport im Klassenverband, der wie in der Gesamtschule üblich nach Leistungsniveaus differenziert wird.

Im Werkstatt-Bereich ist auch Raum für Ideen aus den Bereichen Kunst und Musik. Eine Reihe von Fächern wird in Form von Projekten erlebbar.
Im Werkstatt-Bereich ist auch Raum für Ideen aus den Bereichen Kunst und Musik. Eine Reihe von Fächern wird in Form von Projekten erlebbar. © Gesamtschule Auf dem Schießberg | Gesamtschule Auf dem Schießberg

Neu ist das „Projekt“, das aus den Bereichen Naturwissenschaften und Gesellschaftslehre entwickelt wird. Denkbar wäre zum Beispiel, sich im Lernbüro die Geschichte Deutschlands nach 1945 anzueignen und im Projekt zum Wiederaufbau in Siegen zu recherchieren. „Die Projektideen werden von den Schülerinnen und Schülern entwickelt“, erklärt Lehrerin Felicitas Leopold, die in der Steuerungsgruppe des neuen, in diesem Schuljahr begonnenen Unterrichtsmodells ist. „Das ist auch für Lehrkräfte eine große Herausforderung“, sagt ihr Kollege Matthias Schäfers. Und: „Scheitern gehört dazu.“

Ein anderes neues Element im Stundenplan ist die „Werkstatt“: Für ein halbes Jahr finden sich dort Schülergruppen zusammen, um eine zweite Fremdsprache zu lernen – zur Wahl: Französisch, Spanisch und Italienisch –, sich kulturell zu bilden, sich um Glaubensfragen zu kümmern oder Volleyball oder Basketball zu lernen.

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Diese Freiheit ist in den Normen inbegriffen, die auch auf dem Schießberg anzuwenden sind: „Nirgendwo steht, dass man genauso viele Stunden Kunst wie Musik haben muss. Und man muss auch nicht in jedem Halbjahr Religion haben “, sagt Alexander Lisai. Wo Kinder und Jugendliche eigenen Neigungen nachgehen können, „sind sie deutlich motivierter.“

Von 13 bis 14 Uhr ist Mittagspause. Für die Schülerfirma Vegetania – auch eine „Werkstatt“-Aktivität –, die Veranstaltungen mit Büffets ausstattet, ist das eine Nummer zu groß: Für den Alltag kocht der Profi-Caterer Cucina. Montags, mittwochs und donnerstags geht es dann noch einmal mit einem 90-Minuten-Block bis 15.30 Uhr weiter: Werkstatt oder Projekt.

Das Tablet ist für die Schülerinnen und Schüler von Anfang an normales Arbeitsgerät.
Das Tablet ist für die Schülerinnen und Schüler von Anfang an normales Arbeitsgerät. © Gesamtschule Auf dem Schießberg | Gesamtschule Auf dem Schießberg

Digital: Ohne Tablet läuft fast nichts

Die Gesamtschule Auf dem Schießberg ist digital. Nicht wegen der Pandemie, sondern vorher auch schon. „Wir haben immer über den Tellerrand geschaut“, sagt Direktor Alexander Lisai, dank des Netzwerks der Liga-Schulen („Lernen im Ganztag"): „Wir können auch international von ganz vielen Systemen lernen, die uns weit voraus sind.“ Jede Schülerin und jeder Schüler verfügt über ein digitales Endgerät, bei den meisten haben die Eltern selbst – auch bei knappem Einkommen – die Kosten aufgebracht: „Das hat damit zu tun, dass sie den Wert schätzen.“

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Über die Tablets läuft alles: das Lernen, das Kommunizieren, das Planen. Und auch die ganze Schulverwaltung: Die Klassenbücher werden digital in Echtzeit geführt, unbemerkt klinkt sich hier niemand aus. Die Klassenlehrerinnen und -lehrer haben im Blick, was ihre Schülerinnen und Schüler in den Lernbüro-, Projekt- und Werkstattzeiten macht. In den täglichen Beratungsstunden kommt schnell zur Sprache, wenn jemand drei Wochen lang einen großen Bogen um ein Fach macht. Denn am Ende der Schulzeit müssen Stundenzahlen und Leistungen passen. „Wir können ja hier nicht freestyle machen“, stellt Schulleiter Alexander Lisai klar.

Auch Kochen gehört in die Schule – nicht nur als Unterrichtsfach. Bei der Schülerfirma Vegetania können Kunden ganze Büffets ordern.
Auch Kochen gehört in die Schule – nicht nur als Unterrichtsfach. Bei der Schülerfirma Vegetania können Kunden ganze Büffets ordern. © Gesamtschule Auf dem Schießberg | Gesamtschule Auf dem Schießberg

Ausblick: Nächstes Jahr in die Oberstufe

„Wir werden versuchen, gewisse Freiheiten mit in die Oberstufe zu nehmen“, sagt Alexander Lisai über die nächste Herausforderung – die Reglementierungen sind in diesen Jahrgängen viel stärker. Und natürlich wird an dem neuen Konzept weiter zu arbeiten sein. „Wir sind auf dem Weg, nicht alles geht reibungslos.“ Was so normal ist wie die Jugendlichen, die gerade auf dem Schulhof unterwegs sind. Lärmend und tobend. Und ganz ohne Bildschirme.

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