Hilchenbach. Gerade kämpfen zig Apotheken ums Überleben. Ein Hilchenbacher Apotheker warnt eindringlich und erklärt, warum das System kurz vorm Kollaps steht.

Apotheken streiken, schließen oder arbeiten am Limit: „Die Bevölkerung glaubt, dass Apotheken Goldgruben sind“, sagt der Hilchenbacher Apotheker Dr. Christof Werner. „Der Berufsstand war über Jahrhunderte besser situiert. Aber das ist schon längere Zeit nicht mehr der Fall.“ Tatsächlich kämpfen immer mehr Apotheken ums Überleben. „Ein Drittel ist akut existenzgefährdet. Bei den restlichen zwei Dritteln, dazu würde ich auch uns zählen, geht es dauerhaft nicht gut.“ Christof Werner betreibt schon über zwanzig Jahre die Stadt-Apotheke und die Ginsburg-Apotheke in Hilchenbach. Es sind immer mehr Probleme, mit denen die Branche zu kämpfen hat und die dafür sorgen, dass das System kurz vorm Kollaps steht.

Apotheke in Hilchenbach: „Die Versorgungsprobleme machen den Alltag zur Katastrophe“

„Es macht keinen Spaß mehr“, sagt der Hilchenbacher Apotheker. Die Ursachen für den Unmut liegen tief und sind so vielfältig, dass Christof Werner kaum aufhören kann, sie aufzuzählen. Da gibt es zu viel Bürokratie, zu wenig Honorar, Lieferengpässe bei den Medikamenten, Personalmangel und so vieles mehr. „Das System ist dramatisch unterfinanziert“, betont Christof Werner. Eines der finanziellen Hauptprobleme liegt schon in den 2000ern begründet.

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Doch einen Schritt zurück: Rund 80 Prozent des Umsatzes einer Apotheke resultieren aus verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, rund 20 Prozent aus Medikamenten, die rezeptfrei gekauft werden können (Over-the-Counter-Arzneimittel). Das Prinzip: Die Apotheke erhält einen Fixzuschlag pro Packung des verschreibungspflichtigen Medikaments (8,35 Euro) und eine Vergütung in Höhe von drei Prozent des Apothekeneinkaufspreises. Einen festgelegten Rabatt müssen die Apotheken den gesetzlichen Krankenkassen gewähren (zwei Euro pro Packung). Das Problem: „Die Pauschale pro Packung wurde nicht gesetzlich dynamisiert, sie ist von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt. Wir sind also netto bei dem, was wir vor zwanzig Jahren bekommen haben“, erklärt Christof Werner. Dass bei der Einführung der Arzneimittelverordnung nicht auf die Dynamisierung geachtet worden wäre, sei ein schwerwiegender Fehler gewesen und nun „Keim unseres finanziellen Problems“.

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Den Alltag in den Hilchenbacher Apotheken bestimmen vor allem die Versorgungsprobleme: Der Patient oder die Patientin kommt mit dem Rezept zur Apotheke, doch das verschriebene Medikament ist oft nicht vorhanden. „Das Problem taucht erst bei uns auf“, sagt Christof Werner. Kundinnen und Kunden sind darüber verärgert, genervt oder enttäuscht und die Hilchenbacher Apothekenmitarbeiterinnen bekommen diesen Frust immer häufiger zu spüren. „Die Versorgungsprobleme schwellen seit zehn Jahren an und machen den Alltag zur Katastrophe“, sagt der 49-jährige Apothekenbetreiber. „Und ich kann nichts an der Lage ändern.“

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Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass Apotheken an Rabattverträge mit gesetzlichen Krankenkassen gebunden sind: Sind zum Beispiel die antibiotischen Augentropfen von dem Anbieter nicht lieferbar, den eine bestimmte gesetzliche Krankenkasse vorgibt, braucht es Mut, dass ein Apotheker oder eine Apothekerin sie von einem anderen Anbieter bestellt. Denn ist das von der Krankenkasse gewünschte Produkt wieder lieferbar, verstößt er oder sie gegen den Rabattvertrag, verkauft er das Medikament des Alternativanbieters. So bleiben Alternativprodukte liegen und der Vorrat an Medikamenten kann auch umsonst angeschafft worden sein. Je teurer das Produkt, umso heftiger sind die finanziellen Konsequenzen für Apothekerinnen und Apotheker.

Die Stadt-Apotheke in Hilchenbach ist für Kundinnen und Kunden oft die erste Anlaufstelle, wenn Ärzte nicht erreichbar sind oder man dort zu lange auf Termine wartet.
Die Stadt-Apotheke in Hilchenbach ist für Kundinnen und Kunden oft die erste Anlaufstelle, wenn Ärzte nicht erreichbar sind oder man dort zu lange auf Termine wartet. © WP | Ina Carolin Pfau

Wenn immer mehr Apotheken schließen: „Dann sind wir komplett am Ende“

Nachwuchs ist ebenfalls schwer zu finden. „Wir haben einen riesigen Personalmangel“, schildert der Hilchenbacher Apothekenbetreiber. In der Branche würden aufgrund der finanziellen Situation vieler Apotheken vergleichsweise niedrige Gehälter bezahlt. Das Tarifgehalt eines Pharmazeutisch-technischen Assistenten (PTA) liege im ersten Berufsjahr bei 2419 Euro brutto. Die Absolventinnen und Absolventen, die gut wären, würden deshalb im Anschluss oft Pharmazie studieren.

Wenn China uns den Medikamentenhahn zudreht, sterben hier Menschen.
Christof Werner, Apotheker

Generell sei die PTA-Ausbildung anspruchsvoll, sie schaffe nicht jeder. „Wir müssen leistungsgerechte und konkurrenzfähige Gehälter zahlen können, sonst werden wir keinen Nachwuchs finden“, sagt Christof Werner. In der Ginsburg-Apotheke gehe das halbe Team nächstes Jahr in Rente. „Die Mitarbeiterinnen zu ersetzen, wird schwierig bis unmöglich.“

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Christof Werner ist dankbar für sein „tolles Team“, das unglaublich viel leiste und dabei immer zusammenhalte. Doch auch an der Belegschaft geht der Stress nicht spurlos vorbei – es gibt immer mehr Krankheitsfälle. Und auch Christof Werner merkt, dass er nach zwanzig Jahren in der Branche „ausgebrannt“ ist, die wirtschaftlichen Zwänge ihn aber weiter binden. Ländliche Regionen wie Siegen-Wittgenstein und Olpe würden zu den ersten gehören, die die Konsequenzen des schon länger herrschenden Apothekensterbens spüren werden. Trotzdem sollte man nicht denken, dass die Mehrarbeit durch die übriggebliebenen Apotheken zu leisten sei: „Dann sind wir komplett am Ende“, sagt Christof Werner. „Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, Apotheken in diesem Maße zu verlieren.“

Apotheker aus Hilchenbach: „Alle Pläne, die Lauterbach hat, sind Käse“

Der Hilchenbacher appelliert: „Wir müssen bürokratisch entlastet werden.“ Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Apotheke verkaufen nicht nur Medikamente, sie sind auch Vertrauenspersonen und erste Anlaufstelle, wenn Ärzte nicht erreichbar sind oder man dort zu lange auf Termine wartet. Oft raubt ihnen der „Bürokratiewahnsinn“ aber Zeit. „Wir müssen uns mehr aufs Wesentliche konzentrieren können“, sagt Christof Werner.

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Und auch das Versorgungsproblem bei den Medikamenten sei zu lösen, wenn man die Arzneimittelherstellung wieder nach Europa hole. „Das geht aber nur, wenn man bereit ist, mehr zu zahlen.“ Die Medikamentenherstellung in anderen Ländern außerhalb der EU erfolge oft unter Einhaltung geringerer Umweltstandards. „Im Ausland verseuchen sie die Umwelt und wir machen da mit, weil wir in Deutschland nichts bezahlen wollen.“ Politische Schwierigkeiten sind zudem nicht ausgeschlossen: „Wenn China uns den Medikamentenhahn zudreht, sterben hier Menschen.“

E-Rezept sorgt für Probleme

Immer mehr Menschen kaufen bei Online-Versandapotheken ein. „Das sind Versandhändler, keine Apotheken“, sagt Christof Werner. Oft hätten sie in den Niederlanden ihre Lager, würden die Kundinnen und Kunden von dort aus beliefern, könnten dadurch auch günstigere Preise anbieten. „Sie haben eine ganz andere Kostenstruktur als wir.“

Und auch das E-Rezept sieht der Hilchenbacher Apotheker kritisch. An sich sei die Idee super. „Es war so gedacht, dass der Arzt oder die Ärztin keine formalen Fehler machen kann, die die Einlösung des Rezeptes in der Apotheke schwierig bis unmöglich machen“, sagt er. Tatsächlich gibt es sie aber. Wegen einer fehlenden Unterschrift des Arztes oder der Ärztin könne ein E-Rezept zum Beispiel nicht abrufbar sein. Es könne aber auch einfach die Krankenkassenkarte nicht funktionieren. All das wird in der Regel erst in der Apotheke festgestellt. Das E-Rezept sei erst richtig alltagstauglich, wenn man dafür eine klare Prüfroutine etabliere.

Christof Werners Apotheken blieben am 15. November (da fand der jüngste Apothekenprotest in NRW statt) geschlossen, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Apothekerinnen und Apotheker hätten die Situation zu lange mit sich selbst ausgemacht. „Wir hätten früher etwas sagen müssen. Wir waren jahrelang viel zu still.“ Nun stehe das System kurz vor dem Zusammenbruch. Dennoch hat Christof Werner aktuell wenig Hoffnung, dass sich etwas ändert („Alle Pläne, die Lauterbach hat, sind Käse.“). Er setzt auf Proteste, „die weh tun“, ohne dass dabei Patientinnen und Patienten als Kunden verloren gehen. „Wir werden weiter protestieren und weiter laut sein.“

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