Siegen/Hilchenbach. „Wir laufen auf der letzten Rille“: Medikamentenmangel spitzt sich immer weiter zu. Apotheken fällt auch immer mehr Personal aus – Kollaps droht.

Der Arzneimittelmangel spitzt sich immer weiter zu. Auch die Ersatz-Lösung, dass Apotheken bestimmte Medikamente wie etwa Fiebersäfte für Kinder selbst herstellen, scheitert in der Praxis an mehreren Faktoren – unter anderem daran, dass diese Rezepturen überaus viel Zeit benötigen: „Wir laufen auf der letzten Rille“, berichtet Dr. Christof Werner, Vorsitzender der Bezirksgruppe Siegen-Wittgenstein im Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) über die aktuelle Situation: Die Kundschaft würde die Apotheken geradezu fluten, bei immer mehr krankheitsbedingten Personalausfällen.

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Fiebersäfte, Antibiotika, Inhalativa, Hustenmittel, aber auch Insulin und starke Schmerzmittel sind immer schwerer oder gar nicht zu bekommen. Das Management solcher Engpässe gehört zwar seit Jahren zum Apothekenalltag, „selbst Kolleginnen und Kollegen, die bereits seit Jahrzehnten im Beruf stehen, haben eine derart schwierige Lage noch nicht erlebt“, sagt der Inhaber der Stadt-Apotheke in Hilchenbach. Probleme lösen sei tägliches Geschäft, Alternativen für Patienten zu finden, werde aber immer schwieriger und immer öfter auch unmöglich.

Flut von unterschiedlichsten Vorgaben bringt Apotheken ans Limit

Verschärft werde diese Situation durch bürokratische Regelungen und komplexe Vorgaben der Krankenkassen, die unkomplizierte Lösungen sogar verhinderten. Beispiel Fiebersäfte, die viele Apotheken von der Wirkstoffkonzentration her genauso herstellen können wie die Industrie. Ibuprofen-Suspension etwa könnten Kunden – auch ohne Rezept – genauso kaufen wie industriell hergestellte Produkte. Aber: Die Apotheken dürfen die Arznei dann nur auf Einzelanforderung herstellen, erklärt Dr. Werner – was pro Patient durchaus 45 Minuten dauern kann. Auf Vorrat größere Mengen herstellen gehe nicht – den Behörden gegenüber müsse die Apotheke immer nachweisen, dass es an diesem Tag die entsprechende Nachfrage gab. „Dafür brauchen wir eine ärztliche Verschreibung“, so der Apotheker.

Die Stadt Apotheke in Hilchenbach.
Die Stadt Apotheke in Hilchenbach. © Ina Carolin Pfau

„Aktuell hat nahezu jede Krankenkasse ihre eigenen Regeln, welche von Engpässen betroffenen Arzneimittel zügig ohne Genehmigung importiert werden können und für welche Medikamente etwaige Mehrkosten übernommen werden. Dabei variieren von Kasse zu Kasse die Formalien, die die Apotheken erfüllen müssen“, kritisiert der Apothekerverband. Bei annähernd 100 gesetzlichen Krankenkassen sei es für die Apotheken unmöglich, den Überblick zu behalten und den verschiedenen Anforderungen nachzukommen.

Im völlig überregulierten Gesundheitsmarkt steigt kaum jemand noch durch

Selbst wenn viele Apotheken die Bürokratie auf sich nehmen würden: Es fehlt aktuell das Personal. Und: „Die Komponenten zu bekommen ist ja auch für uns problematisch“, sagt Christof Werner: Die Grundsubstanzen aus Fernost seien für einzelne Apotheken genauso schwer erhältlich wie für die Pharmaindustrie. „Typisch Politik“, kritisiert der Hilchenbacher Pharmazeut – es werde eine öffentlichkeitswirksame Lösung präsentiert, die im Endeffekt keine Lösung sei.

Nicht nur im Beispiel Fiebersaft-Suspension kämen im völlig überregulierten und überkomplexen Gesundheitswesen Budgetgründe hinzu: Nicht alle Kinderärzte verschreiben den verzweifelten Eltern die selbsthergestellten Arzneien der Apotheken. „Die sind natürlich meist viel teurer als die der Industrie“, erklärt Dr. Werner. Aus Sorge, dass die Kassen den Praxen diese Rezepte negativ auslegt, werde das wohl gescheut. Derzeit gebe es eine Diskussion – aber keine Entscheidung –, die Ärzte anzuweisen, dass das die Herstellung vor Ort unbürokratisch möglich sei.

Hintergrund: Das Jahrelange Flehen der Apotheken für nachhaltige Lösungen

Ebenso wie die Pflege rufe die Apothekerschaft seit Jahren immer alarmierender um Hilfe, ohne dass sich etwas verbessere, das System könnte kurz vor dem Kollaps stehen, fürchtet der Bezirksverbandsvorsitzende – auf den Rücken der Patienten, der Apotheken, der Ärzte. „Es geht nicht mehr“, sagt Christof Werner, „wir sind durch.“ Es sei allerhöchste Zeit, das Gesundheitswesen vom Kopf auf die Füße zu stellen, sonst könne es die Versorgung der Bevölkerung bald nicht mehr abfedern. Die Politik sei mehr als je zuvor nun dringend gefordert, den bürokratischen Flickenteppich abzuschaffen, einheitliche Vorgaben zu machen – und zusätzlichen Aufwand angemessen zu vergüten. „Unsere Basisvergütung ist seit 20 Jahren nicht erhöht worden“, sagt Christof Werner. Den Apotheken gehe es nicht blendend. Sie seien kurz vor dem Zusammenbruch.

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Klar sei, dass die aktuelle Krise im Gesundheitssystem ohne das flächendeckende Netz der Apotheken vor Ort nicht zu bewältigen wäre. „Wir können dezentral produzieren und individuelle Lösungen für die Probleme finden, die weder Hotline noch Versandhandel bieten können“, sagt Thomas Rochell, AVWL-Vorstandsvorsitzender. Wie schon in der Corona-Pandemie zeige sich nun erneut, dass das Apothekennetz gesichert werden müsse. „Statt wie zuletzt trotz explodierender Kosten und galoppierender Inflation die Vergütung zu kürzen, müssen die Apotheken vielmehr dringend gestärkt werden.“Rochell betont: „Die Apotheken vor Ort tragen keinerlei Schuld an diesen Lieferengpässen.“ Unterstellungen aus der Politik, die Apotheken horteten Arzneimittel, weist er entschieden zurück: „Das ist absurd und nur ein Versuch, von den eigentlichen Problemen abzulenken. Wir haben kein Verteilungsproblem, sondern schlicht einen Versorgungsmangel. Die Apothekenteams geben derzeit alles. Deshalb möchte ich die Patienten auch dringend um Verständnis und Geduld bitten.“