Siegen. Kirill Perstenkov kam zum Studium aus Mykolajiw nach Siegen. Dann begann der Krieg in der Ukraine. Die Familie war noch dort.
An diesem Morgen im Studierendenwohnheim in Siegen „wachte ich mit der Nachricht auf dem Handy auf, dass meine Heimatstadt bombardiert wurde“, erinnert sich Kirill Perstenkov. Es war der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Der Student, heute 19 Jahre alt, schrieb sofort seine Verwandten an, wartete auf Antworten. Doch er wurde auch noch anders tätig: Schon am Abend desselben Tages nahm er in Siegen an einem ersten Treffen mit anderen Menschen aus der Ukraine teil. „Wir haben Ideen gesammelt, was wir nun tun könnten.“ Daraus entwickelte sich die Friedensgruppe Siegen, die seitdem Spendensammlungen und Hilfslieferungen in beachtlichem Umfang auf die Beine gestellt hat und mit öffentlichen Veranstaltungen immer wieder auf den Krieg aufmerksam macht.
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Kirill Perstenkov ist ein ungewöhnlicher junger Mann. Bei der Verleihung der Hochschulpreise an der Universität Siegen erhielt er jüngst die Auszeichnung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). „Mit dem Preis zeichnen wir internationale Studierende aus, die fachlich herausragen und sich sozial engagieren“, erklärte Prorektorin Prof. Dr. Petra Vogel bei der Verleihung an Kirill Perstenkov, der inzwischen in Siegen sein Masterstudium in „Economic Policy“ begonnen hat. Er kam 2021 im Alter von gerade einmal 17 Jahren zum BWL-Studium her, machte seinen Bachelor in vier Semestern (Regelstudienzeit sind sechs) und arbeitete parallel dazu in der Friedensgruppe. „Ich entschied, dass ich helfen muss“, sagt er rückblickend zu diesem zeitintensiven Engagement. „Ich dachte, dass an meiner Stelle jeder das tun würde.“
Studium in Siegen: Kirill Perstenkov kam mit 17 alleine aus der Ukraine
Der 19-Jährige kommt aus Mykolajiw, einer Stadt mit mehr als 450.000 Einwohnern zwischen Odessa und Cherson. Deutsch lernte er seit der 5. Klasse in der Schule, außerdem besuchte er zusätzliche Kurse des Goethe-Instituts. Dass er in Deutschland studieren möchte, habe er schon früh gewusst, „das ist ein Traum von vielen Jugendlichen in der Ukraine“. Seit der 9. Klasse habe er sich darauf vorbereitet. Seit Vater habe sich informiert und ihn auf die „Studienbrücke“ des Goethe-Instituts aufmerksam gemacht, ein „Exzellenzprogramm“, das laut offizieller Homepage ausländischen Schülerinnen und Schülern mit „herausragenden Leistungen“ in den MINT-Fächern (also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ein Studium in Deutschland ermöglicht. In der Ukraine, erklärt Kirill Perstenkov, dauere es bis zum Abitur lediglich elf Jahre. Dank der „Studienbrücke“ habe er dennoch nahtlos in Deutschland an die Uni gehen können. Für sein Wunschfach Betriebswirtschaftslehre konnte er zwischen den Unis Frankfurt an der Oder und Siegen wählen. Beide Städte kannte er nicht live, also schaute er sich online Bilder und Videos an, bevor er sich für Siegen entschied.
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„Ich war schon immer ziemlich zielstrebig und selbstbewusst. Und ich mochte es schon immer, andere Länder zu besuchen.“ In Mykolajiw spielte er in einem Badminton-Club, reiste für Wettkämpfe in diverse Staaten. Der Schritt, als Minderjähriger alleine ins Ausland zu ziehen, ist selbstverständlich noch einmal eine andere Hausnummer. „Natürlich fragte ich mich vorher – wie alle Menschen es täten – wie das sein würde. Aber größere Angst hatte ich nicht. Ich sah es eher als Herausforderung, die ich überwinden muss.“
Siegen: Kirill Perstenkovs erstes Semester an der Uni lief weitgehend online
Vieles – eigentlich alles – was Kirill Perstenkov sagt, klingt für einen Menschen seines Alters äußerst erwachsen. Aber nichts klingt aufgesetzt, nichts gestelzt. Und egal, über welche seiner Leistungen er redet: Nichts vermittelt den geringsten Hauch von Arroganz. Er spricht freundlich, formuliert präzise, strahlt Ruhe aus, vielleicht eine etwas tiefere Ernsthaftigkeit als viele andere Jugendliche.
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In der ersten Woche in Siegen, berichtet er, sei sein Vater bei ihm gewesen. „Die Vollinvasion hatte noch nicht begonnen“, sagt Kirill Perstenkov; kriegerische russische Akte wie die Annexion der Krim im Jahr 2014 hatten aber sehr wohl schon stattgefunden. Nach wenigen Tagen war der junge Ukrainer, der seit Anfang an im Studierendenwohnheim eingemietet ist, auf sich gestellt. Sein erstes Semester lief wegen der Pandemie in weiten Teilen online, das gewöhnliche Campusleben gab es zu dieser Zeit nicht. „Ich war gelangweilt, also nahm ich zusätzlich Module dazu“, sagt er.
Friedensgruppe Siegen: Erstes Treffen noch am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine
Eva-Maria Grottschreiber vom International Office der Uni Siegen betreute ihn, stellte Kontakt zu anderen, vor allem ausländischen Studierenden her. Außerdem ging Kirill Perstenkov zum Training der Badminton-Abteilung der TSG Siegen 1846 in der Halle am Oberen Schloss, „das hat mir geholfen, mich einzuleben“. Ein deutlicher Einschnitt war dann der russische Überfall auf sein Heimatland, auch wenn er davon nicht sonderlich überrascht gewesen sei „angesichts der Berichte in den Medien und der Äußerungen von Wladimir Putin. Aber ich hoffte trotzdem bis zum letzten Tag, dass es nicht passieren wird.“
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Nachdem die Nachrichten von der Eskalation ihn erreicht hatten, nahm er rasch Verbindung zu Dr. Tetiana Havlin von der Uni Siegen auf. Die beiden kannten sich bis dahin nicht persönlich, doch er wusste von ihr und dass auch sie aus der Ukraine stammt. Am Abend fand das erste Treffen statt, aus dem die „Friedensgruppe Siegen“ entstand. Erste Aktion war nach wenigen Tagen eine Menschenkette in der Innenstadt als Zeichen der Solidarität. Dann richtete die Gruppe eine Spendenausgabe- und Annahmestelle in einem Ladenlokal an der Hagener Straße ein. Er habe dort in der vorlesungsfreien Zeit von morgens bis abends gearbeitet, „ich habe bestimmt tausend Kartons mit Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln gepackt. Ich fand, dass es meine Pflicht ist, zu tun, was ich kann.“ Die Menschen in der Friedensgruppe hätten sich auch untereinander unterstützt, „jeder versuchte, jedem zu helfen.“
Kirill Perstenkov war in Siegen, seine Familie in der Ukraine – und der Krieg tobte
Mit seiner Familie in Mykolajiw habe er fast jeden Tag gesprochen. „Ich sagte ihnen, dass sie die Stadt verlassen sollen.“ Nach etwa einem Monat seien seine Mutter und seine Großeltern zu Bekannten in die Westukraine gegangen, nach zwei weiteren Monaten nach Deutschland geflohen. Am Bahnhof in Köln habe er sie wiedergesehen, „es war eine große Freude und Erleichterung“. Sie konnten zunächst einige Tage bei ihm in Siegen bleiben, mussten seitdem aber mehrfach umziehen und wohnen jetzt in Senden bei Münster. „Ich besuche sie jeden Monat.“ Pro Strecke ist er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vier Stunden lang unterwegs. Sein Vater verließ die Ukraine etwas später und ging in die Schweiz, sein älterer Bruder studiert in Frankreich.
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In der Friedensgruppe bleibt Kirill Perstenkov weiterhin aktiv. Die Spendenbereitschaft habe allerdings deutlich nachgelassen. „Die Menschen, nicht nur in Deutschland, vergessen diesen Krieg“, sagt er ruhig, ohne Bitterkeit. „Das ist auch verständlich, denn Menschen wollen sich nicht immer nur mit solchen Themen beschäftigen.“ Gerade deshalb sei es wichtig, immer wieder aufmerksam zu machen, etwa mit Veranstaltungen und Aktionen. Derzeit liefen zum Beispiel die Vorbereitungen für ein Kulturfest mit ukrainischer Musik. Die Friedensgruppe habe mittlerweile auch zwei eigene Chöre: „Glocken UA“ und für Kinder „Glöckchen UA“, die unter anderem mitwirken werden.
Sein größter Wunsch: Das Ende des Krieges in der Ukraine
Während des Masterstudiums würde Kirill Perstenkov gerne ein Auslandssemester in Japan einlegen, danach im Job „für einige Jahre Erfahrungen in Deutschland sammeln“. Auf lange Sicht favorisiert er derzeit eher die USA oder die Schweiz als Lebensmittelpunkt oder – je nach weiterer Entwicklung – die Ukraine: „Nach dem Krieg bieten sich viele Perspektiven für den Wiederaufbau.“ Gefragt nach seinen Wünschen fällt ihm spontan nur einer ein. „Wie bei allen Ukrainern: Kriegsende.“
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