Siegen. Friedensgruppe Siegen aktiviert am Tag des Überfalls auf die Ukraine ihre Kontakte und baut Hilfsnetzwerk auf. Was jetzt dringend benötigt wird:
Die Bilder der Zerstörung flackern auf einer Plane, draußen weht die zerschlissene Fahne der Ukraine im kalten Wind. Für Äußerlichkeiten haben sie wenig Zeit an der Hagener Straße. Rund um die Uhr sind die Freiwilligen der Friedensgruppe Siegen im Einsatz für die Menschen in ihrer Heimat. Inzwischen arbeiten sie in Schichten. Sie wissen: Ihre Kraft, die werden sie noch brauchen.
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Große Mengen Hilfsgüter müssen sortiert, priorisiert, gepackt, verladen werden. Drei Räume an der Hagener Straße stehen zur Verfügung, links und rechts des Polnischen Delikatessengeschäfts, die Eigentümer stellen die Immobilien unentgeltlich zur Verfügung. Für jede Kategorie gibt es einen Raum: Nahrungsmittel, Medikamente, weitere Hilfsgüter wie Kleidung, die aktuell nicht die höchste Priorität haben. Kinderwagen, für Mütter, die nur mit ihrem Kind auf dem Arm geflohen sind. Matratzen, für die nackten Böden der Keller, wo die Menschen Schutz suchen vor den Bomben. In den Läden wird deponiert, was von Privatleuten gespendet wird; für Firmen mit größeren Mengen gibt es ein Lager in Kreuztal, inzwischen auch in Siegen an der Tiergartenstraße.
Friedensgruppe Siegen: „An dem Tag haben wir alle geweint. Aber das hilft ja nicht“
Mehrere Lkw-Ladungen Hilfsgüter waren nach wenigen Tagen zusammengekommen und wurden bereits aus dem Siegerland in die Ukraine geschickt, nach Czernowitz im Westen. Von da aus wird weiterverteilt. Die Friedensgruppe hat gute Kontakte vor Ort, zu Hilfsorganisationen, die sich um die Weiterverteilung vor Ort kümmern; dahin, wo die Hilfe am dringendsten gebraucht wird.
Die Hilfskette entstand 2015, als der Konflikt in der Donbass-Region losbrach. Damals sammelten die Siegerländer bereits medizinisches Gerät für Verwundete, schickten Lastwagen in die Ukraine. Mit dem Überfall Putins wurden diese Verbindungen reaktiviert, erzählt Dr. Wassilij Tscherleniak. Das Kernteam der Friedensgruppe bildete sich gleich am ersten Tag des Krieges, startete sofort einen Hilfeaufruf. „Wir haben alle geweint“, sagt Dr. Tscherleniak, „aber es bringt ja nichts. Wir müssen was machen.“
Siegener Arzt Dr. Wassilij Tscherleniak: „Hilfsbereitschaft ist unglaublich“
Die Helfer aus dem Siegerland halten engen Kontakt zu ihren Freunden, Bekannten, Verwandten in der Ukraine, die ebenfalls gut vernetzt und organisiert sind. Ein Arzt, der zum Zeitpunkt des Angriffs in der Slowakei war, koordiniert von dort, aus Michalovce an der Grenze zu Uschgorod in der Ukraine, vor allem medizinische Güter. Wo immer es geht, versuchen sie, bestimmte Wünsche für bestimmte Orte zu erfüllen. Je nach dem, wo die Not am größten ist. Meistens im Osten; da, wo Hilfstransporte am schwierigsten, am gefährlichsten sind. Konvois müssen bewacht werden. Russische Saboteure sind hinter den Linien aktiv, es kommt zu Überfällen.
„Die Hilfsbereitschaft ist unglaublich“, sagt der Arzt. „Unglaublich.“ Von allen ethnischen Gruppen, betont er – an der Hagener Straße melden sich Menschen aus der Ukraine, aus dem arabischen Raum, aus Ungarn und Deutschland, Rumänien und Polen, aus Russland. „Alle wollen helfen“, sagt er, „alle haben Verwandte oder Bekannte in der Ukraine.“ Dieser Krieg sei kein Konflikt zwischen den Völkern, betont Dr. Tscherleniak. Sondern zwischen zwei Weltordnungen; Demokratie und Diktatur. „Unser gemeinsamer Feind sind nicht die Russen. Sondern das Putin-Regime.“
Medikamente aus Siegen: Hilfe für grauenvolle Verletzungen durch Vakuumbomben
Viele Speditionen bieten Unterstützung an, sie arbeiten mit allen möglichen Logistikern zusammen. Sind genug Güter für eine Ladung da, wird ein Laster organisiert, der bei der Firma Lindenschmidt in Kreuztal betankt werden kann. Unentgeltlich. Das Netzwerk ist weit verzweigt: Krankenhäuser spenden Medikamente; Ärzte stellen Rezepte für Kriegsopfer aus, damit private Spender Arzneimittel kaufen und zur Hagener Straße bringen können. Auch Dr. Tscherleniak. „Privatrezepte“ betont er, damit alles seine Ordnung hat. „Das kann jeder Arzt unterstützen.“ Die sogenannten Vakuumbomben, die Putin einsetzen lässt, verursachen furchtbare Verbrennungen, Spezialmedikamente sind teuer. Alte, abgelaufene, überflüssige Arzneimittel, gegen Zucker, Blutdruck, Epilepsie; gegen Schmerzen – immer her damit. „Wir können alles sortieren“, sagt er.
In der Friedensgruppe tut jeder das, was er am besten kann. Wassilij Tscherleniak spricht viele Sprachen und ist Arzt, er kümmert sich vor allem um Medikamente, erledigt Formalitäten, füllt Dokumente für den Zoll aus. Dr. Tetiana Havlin aus Odessa, Soziologin an der Universität Siegen, ist für die Koordination zuständig, hält Kontakt zu Behörden und Politik; Tetyana Pankovska zu Großkunden und Hilfsorganisationen. Für jeden Bereich gibt es Ansprechpersonen, damit die Handys nicht zu oft klingeln und die schier nie enden wollende Arbeit besser erledigt werden kann.
Ukrainerin lässt Mann zurück und flieht – jetzt hilft sie in Siegen, er kämpft an der Front
Dazu kommen viele Freiwillige, von denen sie gar nicht genug haben können, die Spenden in Empfang nehmen, auspacken, sortieren. Die Ladenzeile gleicht einem Bienenstock. Es ist immer noch Corona, also gilt Maskenpflicht, Schnelltests liegen bereit, ein Hygienekonzept musste her. „Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir wegen der Pandemie geschlossen werden“, sagt Dr. Tscherleniak. Inzwischen sind pro Schicht in jedem der drei Depots drei Ehrenamtliche vor Ort. Die ersten Geflüchteten haben sich gemeldet. Eine Frau hat ihren Mann zurückgelassen, erzählt der Arzt. „Er kann ruhiger kämpfen, wenn er weiß, dass seine Familie in Sicherheit ist.“
Die sozialen Netzwerke sind wichtige Hilfsmittel – und eine gefährliche Quelle für Putins Geheimdienste. Wer sich fotografieren lässt, weiß: Der Inlandsgeheimdienst FSB sieht das auch. Die Rache fürs Helfen kann kommen, sagt Tscherleniak. Deswegen sind sie vorsichtig. „Uns ist das bewusst. Wir machen es trotzdem.“ Und die Helfer auch. „Das freut uns sehr.“
Helfer für die Ukraine in Siegen: Gestresste Mütter können ihre Babys nicht mehr stillen
Keine Kleider, bitten die Helfer – davon haben sie genug und die sind gerade nicht so wichtig. Windeln, für Kinder und auch Erwachsene brauchen sie dringend – für Verwundete in den Krankenhäusern zum Beispiel. Babynahrung, weil viele Mütter so erschöpft und gestresst sind, dass sie ihre Kinder nicht mehr stillen können und die Kleinen verhungern. Wasser, damit die Kämpfer an der Front und der Territorialverteidigungen, die die Bevölkerung schützen, durchhalten können. Leitungen für Wasser, Strom und Wärme wurden vielfach schon von den russischen Streitkräften zerstört, weiß Tscherleniak. Die ersten Kinder sind bereits verdurstet.
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Am besten gezielt die dringend benötigten Hilfsgüter kaufen und an der Hagener Straße vorbeibringen, sagt Dr. Tscherleniak. Listen, was aktuell gebraucht wird, werden laufend aktualisiert, liegen in der Sammelstellen aus oder werden in den Sozialen Netzwerken geteilt, etwa in der öffentlichen Facebook-Gruppe „Hilfe für die Ukraine Siegen“. Firmenkunden wenden sich an Tetyana Pankovska, 0176/73552192. Auch Helfer zum Sortieren werden benötigt. Vor Ort kann man sich in Listen eintragen.