Weidenau. Der Sozialdienst katholischer Frauen hilft Familien aus schwierigen Verhältnissen, den Alltag mit Kind zu meistern. Nun gibt’s ein neues Angebot.

Hilfe gibt’s im Haus, eine Etage weiter oben. Für Eltern, die im Umgang mit ihren Kindern und bei der Bewältigung des Alltags Probleme haben, hat der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Siegen in seinem Gebäude in Weidenau zwei Wohnungen eingerichtet, in denen Familien (miteinander) leben lernen können. Der Name des Projekts: „Perspektive Wohnen“.

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„Manchmal müssen wir von Null auf anfangen“, sagt Melanie Dicke über die Arbeit mit Betroffenen. Sie ist Leiterin des Bereichs Familienwohnen und des „SkF-Sozialzentrums“, wie das Haus in der Haardtstraße nun heißt. Im ersten und zweiten Stockwerk sind die Räume der Fachbereiche ambulante Familienhilfen und Pflegekinderdienst, im Erdgeschoss die beiden neuen Wohnungen. Letztere richtete der SkF ein, nachdem die Caritas-Sozialstation im Frühjahr von dort in die Siegener Straße in Buschhütten umgezogen war. Das neue Angebot in Weidenau schließt eine Lücke „zwischen dem Mutter-Kind-Haus und dem ambulant betreuten Wohnen“, wie SkF-Geschäftsführer Wolfgang Langenohl erläutert.

Siegen: SkF schließt mit Mutter-Kind-Wohnungen Lücke in der Versorgung

Manche Menschen kämen mit der Struktur im Mutter-Kind-Haus nicht so gut zurecht. Diese sind oft eher wie Wohngemeinschaften aufgebaut: Trotz eigener Zimmer gibt es auch Gemeinschaftsräume, in denen sich die Bewohnerinnen und Bewohner – Erwachsene ebenso wie Kinder – begegnen. Für manche ist eine solche Konstellation geeignet, andere brauchen aber eher eine Wohnung für sich. Und wenn ambulante Unterstützung dann nicht ausreicht, um mit dem Alltag zurechtzukommen, schafft das Modell „Perspektive Wohnen“ eine zusätzliche Option, die Vorzüge der beiden anderen Varianten verbindet.

Fachkräfte fehlen

Die Nachfrage nach dem Modell „Perspektive Wohnen“ ist so groß, dass der SkF das Angebot ohne Weiteres ausbauen könnte. „Das würden wir auch sofort machen – wenn wir die Fachkräfte hätten“, sagt Geschäftsführer Wolfgang Langenohl. Es scheitere nicht an den Möglichkeiten zur Anmietung von Wohnraum, sondern an der Situation auf dem Arbeitsmarkt.

Weitere Infos zu den Angeboten des SkF gibt es auf skf-siegen.de oder im Sekretariat unter 0271/23252-23 (montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr).

Zielgruppe sind Leute, die ihren Alltag und die Betreuung ihrer Kinder alleine nicht gestemmt bekommen. Der als Verein organisierte SkF hatte in den frühen 1990er Jahren schon einmal vorübergehend ein Mutter-Kind-Wohnen, wie Elisabeth Forderung, ehemalige Leiterin des Familienwohnens und am Aufbau des neuen Angebots beteiligt, berichtet. Damals sei die Fortführung an der Finanzierung gescheitert; heute sei das auf Dauer geregelt, weil das Jobcenter (über das Bürgergeld) und das Jugendamt die Kosten übernehmen. In einer der beiden Wohnungen sind derzeit zwei geflüchtete Frauen untergebracht, die in einer Notlage Hilfe benötigten. Dies soll allerdings nur eine vorübergehende Lösung sein. Die andere Wohnung ist seit Ende September von einer Mutter mit Kind belegt. Es ist ein Zuhause auf Zeit. Zwei Jahre sind pro Familie vorgesehen, bevor diese in eine eigene Wohnung vom freien Markt umzieht und dort selbstständig leben können soll.

SkF Siegen hilft Eltern, die nie gelernt haben, was Eltern eigentlich ausmacht

Das Angebot ist neu, doch inhaltlich ist das SkF-Team aufgrund der langen Erfahrung im ambulant betreuten Wohnen genauestens im Thema. Die Menschen, um die die Fachkräfte sich kümmern, sind oft schon mit Dingen überfordert, die für andere Leute banal klingen: Den Haushalt organisieren und sauber halten, Behördengänge erledigen, sich um Arztbesuche kümmern, den Kindern ein sicheres Zuhause schaffen. Darauf mit der verständnislosen Frage „Warum können die das denn nicht?“ zu reagieren, sei völlig unangebracht, wie Melanie Dicke betont – weil niemand sich so etwas freiwillig aussucht. „Für mich war immer das Wissen wichtig, dass auch ich selbst in jede Lebenslage kommen könnte“, sagt die Fachfrau. Umbrüche, Krankheiten, Schicksalsschläge könnten quasi jeden Menschen aus der Bahn werfen. „Man muss da vom hohen Ross runter.“

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Die SkF verfolgt entsprechend einen so genannten ressourcenorientierten Ansatz: Nicht auf Defiziten herumreiten, sondern vorhandene Ansätze und Fähigkeiten nutzen. „Wer ist die Mutter, was kann sie, was braucht sie?“. beschreibt Elisabeth Forderung den Ausgangspunkt, von dem aus ein individueller Hilfeplan erstellt wird. Patentrezepte gibt es nicht, „jeder Fall hat etwas, was man bis dahin noch nicht hatte“, so die Dipl.-Sozialpädagogin, Mediatorin und Kinderschutzfachkraft. Entscheidende Voraussetzung ist, wie sie weiter erklärt, eine Willensbekundung: „Will die Mutter dazulernen, will sie wirklich etwas verändern?“ Das Angebot basiert auf Freiwilligkeit und Einsicht.

Siegen: Sozialdienst katholischer Frauen will Familien helfen, ihre Kinder zu behalten

„Wir sind auf die Kooperation der Menschen angewiesen“, ergänzt Wolfgang Langenohl. Für diese gehe es auch und gerade darum, zu verhindern, dass die Kinder aus der Familie genommen werden. Dass von einer latenten, manchmal auch akuten Kindeswohlgefährdung auszugehen sei, schließe nicht aus, dass „die emotionale Bindung der Kinder zu ihren Eltern als förderlich erlebt wird“, wie es im Konzept heißt. Wobei das Team im Falle akuter Gefährdungen, etwa bei Anwendung von Gewalt, natürlich eingreifen muss.

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Es geht bei der Zielgruppe nicht um Personen, die sich wissentlich oder vorsätzlich falsch verhalten – sondern um solche, die nicht gelernt haben, wie angemessenes Verhalten, wie angemessener Umgang mit Kindern aussehen. Viele haben keinen familiären Rückhalt und kein persönliches Netzwerk, können ihre eigenen Eltern nicht – wie es gemeinhin üblich wäre – um Rat fragen oder um Unterstützung bitten. „Wir haben Familien, da sind wir die einzigen sozialen Kontakte“, sagt Elisabeth Forderung. Natürlich stehe, ob ambulant oder im Sozialzentrum in der Haardstraße, ein Auftrag des Jugendamtes hinter den Bemühungen. Doch der noch immer in vielen Köpfen präsente Gedanke „Jugendamt = mir werden die Kinder weggenommen“ sei unrealistisch, wie Melanie Dicke klar macht. „Wenn man in die Familie kommt und deren Sprache spricht, wird man nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern als Hilfe.“ Das Team steht außerdem nicht einfach auf der Matte und erwartet die Einhaltung überzogener Standards. „Wir haben ein geschultes Auge“, sagt Elisabeth Forderung. Ob eine Wohnung beispielsweise verdreckt sei oder ob es sich um eine „mit einem Kleinkind auch schonmal normale Unordnung handelt – das können wir unterscheiden“.

Wohnprojekt in Siegen: Manche Eltern müssen den Alltag mit Kind erst mühsam einüben

Die Familien in den Wohnungen – oft werden es wohl alleinerziehende Mütter sein, doch auch jede andere familiäre Konstellation wäre denkbar – werden zu festen Terminen von den Fachkräften besucht. Sie können aber auch jederzeit ins obere Stockwerk gehen, außerhalb der Bürozeiten gibt es eine Rufbereitschaft. Sie können über Konflikte, Probleme, Ängste und Überforderungen sprechen und sich Unterstützung holen. Viel sei „auch ganz praktische Arbeit“, erläutert Melanie Dicke: Gemeinsam Anträge ausfüllen, einen Personalausweis beantragen, ein Konto eröffnen; Begleitung bei Behördengängen oder Arztbesuchen, Hausarbeit erlernen, die Wohnung kindersicher machen und einen Blick für Risiken wie scharfe Gegenstände oder für das Kind erreichbare volle Aschenbecher entwickeln. „Es kann aber auch sein, gemeinsam auf den Spielplatz zu gehen und Verhaltensweisen einzuüben“, so die Expertin. Auch die Vermittlung zu anderen Hilfsangeboten und Anlaufstellen gehört dazu. Die Mutter, die aktuell im Sozialzentrum zu Hause ist, bekam beispielsweise Kontakt zu einer Mutter-Kind-Krabbelgruppe und einer Physiotherapie-Praxis.

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„Perspektive Wohnen“ ist in mehrere Phasen unterteilt, an deren Ende die Familie ihr Leben selbstständig bewältigen können soll. Es gibt eine Nachbetreuung und auch über das Wohnen in der Haardtstraße hinaus Möglichkeiten der Unterstützung. Irgendwann kommt ein Ablöseprozess. Das Team ist daran schon aus dem ambulanten Bereich gewöhnt und geht professionell damit um. Die Situation ist natürlich speziell, wie Elisabeth Forderung einräumt, schließlich sind die Fachkräfte extrem dicht dran. „Man ist so nah wie ein Familienmitglied, aber trotzdem mit einer Distanz.“ Das sei auch notwendig, um die Aufgabe erfüllen zu können. Eine Maßnahme, um das immer im Bewusstsein zu halten: „Wir achten darauf, dass wir nicht ins ,Du’ fallen.“

Professionelle Distanz ist wichtig – doch es gibt auch sehr emotionale Momente

Trotzdem gibt es emotionale Momente, oft auch mit zeitlichem Abstand. In einem Möbelhaus habe sie einmal spontan eine Frau umarmt, erzählt Elisabeth Forderung, und gesagt: „Ohne Sie hätte ich heute mein Kind nicht mehr bei mir.“

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