Deuz. Stefan Bünnig und Giulia Gendolla bauen in Netphen die „Qulturwerkstatt“ auf. Kennen und lieben gelernt hat sich das Paar aber ganz woanders.
Man findet Giulia Gendolla und Stefan Bünnig mitten in einer Baustelle, in der bis Mai 2022 noch eine Tischlerei zu Hause war. Einiges musste abgerissen werden. Der große Raum, das Herzstück der Werkstatt, ist noch nicht ganz fertig, nimmt aber schon Formen an. Er wird das Zentrum des Gebäudes sein, in dem dann ab 2024 die Kultur der Region einen weiteren Veranstaltungsort anbieten kann. „Wir hatten Monate zu tun, um Teile der Werkstatt abzureißen. Nun bauen wir neu auf und freuen uns tierisch auf die Zukunft“, sagen sie.
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Giulia Gendolla ist in Netphen aufgewachsen und auch hier zur Schule gegangen. „Nichts wie weg“, lautete ihre Devise nach dem Abitur am Gymnasium Netphen. Nach dem Germanistik- und Romanistikstudium in Bonn folgte ein Jahr Florenz („Keine Studenten- sondern eine Touristenstadt“), ein Jahres-Praktikum am Apollo Theater in Siegen, ein Masterstudium „Performance“ in Erlangen und eine Anstellung als Regieassistentin am Theater „Tafelhalle“ in Nürnberg. Dort lernte sich das spätere Paar bei einer Theaterproduktion kennen. Inzwischen haben sie drei Söhne.
Qulturwerkstatt Netphen-Deuz: Das Initiatoren-Paar lernte sich in Nürnberg kennen
Stefan Bünnig erlebte einen Teil seiner Kindheit im kleinen Ort Bismark in der Altmark, 150 Kilometer westlich von Berlin. Zwei Wochen vor dem Mauerfall im Oktober 1989 gelangten er, seine Mutter und der jüngere Bruder über Ungarn in ein Auffanglager in Baden Württemberg und von dort nach Wetzlar, wo seine Mutter, die von Beruf Optikerin ist, eine Arbeitsstelle fand. „Ich wollte zum Film“, war schon immer sein Traum. Nicht als Schauspieler, sondern hinter der Kamera.
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Er machte ein Praktikum bei einer Produktionsfirma in Fulda und arbeitete anschließend als Regie-Assistent und freier Mitarbeiter in Berlin. Dann schloss er an der Filmakademie in Baden-Württemberg das Studium „Regie für szenischen Film“ an und drehte, wieder zurück in Berlin, Auftragsproduktionen für Firmen und auch für Arte. „In die Glitzerwelt des Spielfilms wollte ich nicht reinpassen“, sagt Stefan Bünnig, „Film als Kunstform ist mir wichtiger als Film als Spektakel.“ Also streckte er die Fühler in Richtung Theater aus. Für eine Tanztheater-Produktion am Nürnberger Theater „Tafelhalle“ stellte er die Background-Videos her – und begegnete Giulia Gendolla.
Netphen: Qulturwerkstatt Deuz soll offen für alle sein, die Kultur erleben möchten
Nach einer Fernbeziehung zwischen Berlin und Nürnberg („Vier Stunden mit dem Zug oder mit dem Flixbus“) fanden Giulia und Stefan eine erste gemeinsame Wohnung in einer WG in Stuttgart, weil Giulia dort am Jungen Ensemble als Regieassistentin anfing. Dort entwickelten sie ihr gemeinsames Ziel: „Wir wollen einen Kulturraum schaffen, für alle offen, in dem auch wir zu Hause sind.“ Da das in Stuttgart nicht möglich war und Giulias Verwandtschaft in Netphen lebt, kam das Siegerland ins Spiel. Und der Zufall, dass die Tischlerwerkstatt beste Voraussetzungen dafür bot.
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Auch ein Name war schnell gefunden: „Kultur in einer ehemaligen Werkstatt, doch da der Begriff Kulturwerkstatt häufig zu finden ist, gibt es durch das Q ein Alleinstellungsmerkmal.“ Weitere Fragen, etwa nach der Organisationsform, mussten geklärt werden. Also wurde als Träger der Qulturwerkstatt ein Verein gegründet. Das geschah am 5. Juli 2019 mit etwa 20 Interessierten im Hof vor der Werkstatt. Dass der Verein inzwischen mehr als 130 Mitglieder hat, ist eine Erfolgsgeschichte für sich.
Qulturwerkstatt Netphen-Deuz: Projekt lebt vom Einsatz der Vereinsmitglieder
Der finanzielle Anschub wurde mittels der erfolgreichen Bewerbung auf das Förderprogramm „Dritte Orte“ des Landes NRW geschaffen, das kulturelle Projekte im ländlichen Raum unterstützt. Außerdem erhielten sie großzügige Förderungen durch regionale Unternehmen. Giulia Gendolla und Stefan Bünnig: „Am wichtigsten ist aber die Beteiligung der Vereinsmitglieder mit körperlichem Einsatz auf der Baustelle und mannigfachem kreativen Engagement.“ Etwa durch interkulturelle Gruppen mit dem Ziel, die Sprachkompetenz zu erweitern und Lebenshilfe zu geben, eine Bienengruppe mit eigener Honigproduktion, Radio AG, Krabbelgruppe, Skatabende, Spielabende, Filmclub… Nicht zu vergessen der Qultur-Aperitif, bei dem Kulturmacher der Region zu Gesprächen eingeladen werden. „Was Gutes zu essen gibt es dabei auch“, weiß Stefan Bünnig zu berichten. Ein besonderes Projekt war der „Video-Walk“: Menschen aus Deuz, mindestens 60 Jahre alt, erzählten in Interviews, wie sie früher gelebt haben. Daraus wurde ein 40-Minuten-Film produziert und ein Spaziergang durch den Ort entwickelt, wobei man an zwölf Stationen per QR-Code auf seinem Handy die Erzählungen der Deuzer abrufen kann.
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Wenn dann in einigen Monaten der große Veranstaltungsraum fertig ist, eröffnen sich für die Menschen in Deuz und Umgebung neue Möglichkeiten: Dort werden auch Konzerte und Workshops stattfinden, Vereine, Organisationen, Firmen können ihn mieten, Feiern eine besondere Umgebung finden. Und auch Theater wird möglich sein. Denn Giulia Gendolla leitet im Team mit zwei Kolleginnen als Theaterpädagogin die Theater AG am Gymnasium Netphen, dort, wo sie einst selbst Schülerin war, und bringt ihr Wissen auch in das Programm der Qulturwerkstatt ein. Vor zwei Wochen gab es am Netphener Gymnasium die Premiere von „Komisch“, einem Stück der Theater-AG, und erst vor wenigen Tagen präsentierte die intergenerative Theatergruppe „Rudi räumt das Feld“. Mit ganz jungen Akteuren und anderen in sehr reifem Alter. Der Beifall war überwältigend.
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