Dahlbruch. Am Samstag feiert die SMS group ihr Jubiläum in Hilchenbach. Mit ihr verbunden sind zwei bewegte Lebensgeschichten, die sie nun offen erzählt.

Die SMS group, mit rund 1900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und 154 Azubis in Dahlbruch größter industrieller Arbeitgeber im Siegerland, feiert ihr Jubiläum nach. 150 Jahre hätten 2021 gefeiert werden können, wenn Corona nicht gewesen wäre. Nun sind es 152 Jahre, die das Unternehmen am Samstag mit einem Festakt und einem Familienfest für die Belegschaft begeht.

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Das Unternehmen: Von der Siemag zur SMS

1871 meldet Karl Eberhard Weiss, Sohn eines Weingärtners in Obertürkheim, ein Gewerbe an: als „Fabrikant“ mit einer Werkzeugfabrik, die seit 1873 am Siegener Kirchweg steht. Er ist 1864 als junger Schmied nach Siegen gekommen, arbeitet zunächst bei „Ad. & Heinr. Oechelhäuser. Er hat zwei Söhne. Carl wird 1871 geboren, Ernst Heinrich 1875. Sie treten in die „Dampfschmiede-Werkzeugfabrik und Dampfschleiferei von Carl Weiss“ ein. 1899 gründen sie die „Siegener Stanz- und Hammerwerke GmbH“, 1908 die „Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft“ (SEAG), die 1910 mit den beiden anderen Betrieben fusioniert.

1916 kauft die Familie Weiss die „Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A.&H. Oechelhäuser“ (SMAG). 1918 kauft die Siegener Charlottenhütte, die mehrheitlich dem Kreuztaler Friedrich Flick (Jahrgang 1883) gehört, die SEAG.

1927 fusioniert die „Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals Gebrüder Klein“ in Dahlbruch mit der SMAG. Vorher hat Friedrich Flick mit der Charlottenhütte, die Großaktionärin bei Klein war, die Demag zur Abgabe ihrer Klein-Aktien bewegt. Flick wird Aufsichtsrat des fusionierten Unternehmens. Die Siemag besteht aus den Abteilungen Oechelhäuser (Kraft- und Arbeitsmaschinen), Klein (Walzwerke) und Weiss (Bergwerkseinrichtungen, Förder- und Transportanlagen).

Nicht nur Familie

Heinrich Weiss wird 1974 Vorstandsvorsitzender der SMS. 2013 wechselt er in den Vorsitz des Aufsichtsrats.

2004 wird Kay Mayland Vorstandsvorsitzender der SMS Demag AG, sein Nachfolger bei der SMS Siemag AG und der SMS Holding GmbH wird 2012 Burkhard Dahmen.

2016 überträgt die Familie Weiss das Unternehmen der Familie Weiss-Stiftung. Heinrich Weiss ist Vorsitzender des Gesellschafterausschusses und der Familienstiftung.

Heinz Heudorf (Jahrgang 1914), gelernter Exportkaufmann, wird 1939 Prokurist bei der Siemag und seit 1949 deren eigentlicher Leiter. Nach dem Krieg ist er unter Bernhard Weiss kaufmännischer Geschäftsführer. 1975 tritt er in den Ruhestand, unterstützt als Berater aber weiter Heinrich Weiss, der 1971 die Leitung des Unternehmens übernimmt. Im Ehrenamt ist Heinz Heudorf Kommunalpolitiker: Er ist von 1975 bis 1979 ehrenamtlicher Bürgermeister der Stadt Hilchenbach, in der folgenden Wahlperiode bis 1984 leitet der CDU-Stadtverordnete den Stadtentwicklungsausschuss.

1954 wird der Sitz der Siemag Siegener Maschinenbau AG von Siegen nach Dahlbruch verlegt. Fertigungsstandorte sind Dahlbruch, Buschhütten und Netphen. In Eiserfeld waren im Krieg die „Siemag-Stahlgelenkketten“ für die Wehrmacht gebaut worden; ab 1949 durften dort Schreibmaschinen hergestellt werden – bis zur Aufgabe dieser Fertigung 1969.

1973 verschmelzen die Schloemann AG, bei der Mannesmann und die Gutehoffnungshütte Großaktionäre sind, und die Siemag zur Schloemann Siemag AG, an der die Gutehoffnungshütte 51, die Familie Weiss 49 Prozent der Aktien hält. Firmensitz wird Düsseldorf. „Das neue Kürzel für die ‘Schloemann-Siemag Aktiengesellschaft’ beginnt sich durchzusetzen, bevor der Short Message Service ‘SMS’ 1992 seinen Siegeszug um die Welt antritt“, merkt Firmen-Biograf Gregor Schöllgen an, „damit können die Düsseldorfer nicht Schritt halten. In der öffentlichen Wahrnehmung steht ‘SMS’ seit Beginn der Neunzigerjahre für den Nachrichtendienst, nicht für den Anlagenbauer.“

1994 wird die SMS Gießerei in Buschhütten geschlossen, ein Erbe aus der Oechelhäuser-Übernahme von 1916, 1997 kommen die Hochofen- und Stahlerzeugungstechnik von MAN Gutehoffnungshütte zur SMS, 1999 fusioniert die SMS mit der Metallurgie von Mannesmann Demag, die Walzwerks- und Stranggießtechnik firmiert fortan als SMS Demag. 2005 gibt die SMS group die Battenfeld Spritzgießtechnik auf und verabschiedet sich aus der Kunststoffmaschinenfertigung. 2007 wird die Bergbautechnik abgegeben, die bei der Netphener Siemag verbliebenen Logistiksysteme gehen 2016 in der Amova auf, die 2021 nach Dahlbruch zurückkehrt.

2003 übernimmt die Familie Weiss die Mehrheit im Unternehmen, die MAN wird in den folgenden Jahren auch die verbliebenen 25,5 Prozent noch abgeben. „Wir haben 30 Jahre lang eine harmonische Ehe geführt“, wird Heinrich Weiss zitiert. Ab 2009 heißt der Unternehmensbereich Hütten- und Walzwerkstechnik SMS Siemag AG. 2023 wird der Hauptstandort des SMS group von Düsseldorf nach Mönchengladbach verlegt.

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Vater und Sohn

Bernhard Weiss (Jahrgang 1904) wird 1933 nach dem Tod seine Vaters Ernst Heinrich stellvertretendes Vorstandsmitglied. Er ist Neffe von Friedrich Flick – dessen Mutter Helene ist die Schwester von Flicks Ehefrau Marie. Der NSDAP tritt er nicht bei. Während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse formuliert er „Meine Einstellung zur Politik“: Er habe erwartet, „dass mit der Zeit auch die Haltung der Regierung zur jüdischen Frage maßvoll werden würde“. Gregor Schöllgen: „Bernhard Weiss ist gewiss kein nationalsozialistischer Parteigänger. Aber er ist Pragmatiker und Opportunist.“ Ende 1939 wird Bernhard Weiss von Friedrich Flick als einer seiner drei Generalbevollmächtigten nach Berlin geholt.

„Die strikte Weigerung von Bernhard Weiss, persönlich irgendetwas mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern zu tun gehabt zu haben, lässt sich in sämtlichen Dokumenten förmlich mit Händen greifen“, berichtet Gregor Schöllgen. Dass er wegen der Beschäftigung und Behandlung von Zwangsarbeitern ins Gefängnis kommen würde, „hat weniger mit der Situation im eigenen Betrieb als vielmehr mit den Verhältnissen im Kontern seines Onkels Friedrich Flick zu tun“. Bernhard Weiss wird 1947 zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt und im Dezember 1948 aus der Haft in Landsberg entlassen. 1949 wird er wieder alleiniges Vorstandsmitglied der Siemag.

Bernhard Weiss hat drei Töchter und einen Sohn. Bernhard Weiss stirbt 1973.

Heinrich Weiss wird 1942 in Berlin-Steglitz geboren. Er besucht ab 1948 die evangelische Volksschule in Dahlbruch, macht 1961 sein Abitur am Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium in Weidenau (Schöllgen: „Die Lehrer findet er allesamt furchtbar.“). Seine Diplomarbeit behandelt den „Entwurf eines Elektrospeicher-Personenkraftwagens für den Stadtverkehr“. 1968 tritt er als Geschäftsführer in die Siemag Maschinen- und Stahlbau Netphen ein. Der junge Heinrich Weiss ist Autonarr und begehrter Junggeselle. Er ist zwei Mal verheiratet, Sohn Georg wird 1991 geboren. „Den Junior zieht es nicht in die Nachfolge, und der Senior kann sich gut vorstellen, die Verantwortung irgendwann einem familienfremden Management zu überlassen“, berichtet Gregor Schöllgen.

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1980 tritt Heinrich Weiss in die CDU ein. 1983 wird er Vorsitzender des Wirtschaftsrats der CDU. 1989 wird er Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Er lehnt 1990 die Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR ab, überwirft sich mit Bundeskanzler Helmut Kohl, tritt 1992 als BDI-Präsident zurück und 1993 aus der CDU aus. Gregor Schöllgen: „Nicht erst heute wissen wir, dass Heinrich Weiss richtig lag.“ Heinrich Weiss unterstützt 2014 öffentlich die AfD, von der er sich 2015 distanziert. Er wendet sich Ende 2015 der FDP zu, der er ebenfalls nicht beitritt. „Seit er 1993 die CDU verlassen hat, ist sein Bedarf an Parteimitgliedschaften gedeckt.“

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Seiner Heimatstadt Hilchenbach ist der heute 81-Jährige nach wie vor eng verbunden. Die Villa seiner Familie lässt er als Unterkunft für aus der Ukraine Geflüchtete einrichten. Als die Kosten für den Kulturellen Marktplatz explodieren, rettet er das Vorhaben mit einer Zwei-Millionen-Euro-Spende. Und erst vor kurzem steuert er 850.000 Euro bei, damit die Feuerwehr eine neue Drehleiter anschaffen kann.

Das Buch über die SMS: Offene Archive

Die 150-jährige Geschichte des Unternehmens ist in einem Buch dokumentiert, das jetzt vorgelegt wird – zum einen regelrechte Unternehmensbiografie, die miterleben lässt, wie eine kleine Siegerländer Fabrik groß wird, Bindungen eingeht und wieder auflöst, Betriebszweige hinzunimmt und wieder abstößt. Wie sie in die Welt hinausgeht, schon kurz nach 1900 in China und schon in den 1930er Jahren in Russland präsent ist. Wie sie Krisen übersteht und sich häutet, die Fertigung abstreift, den Service in den Vordergrund rückt, digital wird und auch im Anlagenbau die Konsequenzen sieht, die aus der Klimaveränderung zu ziehen sind. Zugleich ist das Buch aber auch die Biografie von Vater und Sohn, Bernhard und Heinrich Weiss, die das Unternehmen geprägt haben. Die Familie hat sich dem Biografen geöffnet und auch Seiten zugänglich gemacht, die niemand gern geschrieben sieht: unternehmerische Fehlentscheidungen, Krisen mit Personalabbau, vor allem aber auch die Verantwortung, die Bernhard Weiss für seine Haltung im Dritten Reich zu übernehmen hatte.

Themen: Zwangsarbeit und Kriegsverbrecherprozess

„Die Familie Weiss und ihr Unternehmen haben sich ihrer Geschichte stets gestellt“, schreibt Autor Gregor Schöllgen, der auf einen stattlichen Fundus an Archivalien zugreifen konnte. Gregor Schöllgen ist Historiker und Autor mehrerer Unternehmensgeschichten; er hat bis 2017 an der Universität Erlangen gelehrt. „Bernhard Weiss und sein Sohn Heinrich waren zeitlebens intensive, geradezu besessene, zudem ausdrucksstarke und stilsichere Korrespondenten.“ Marianne Möser-Weiss, älteste Schwester von Heinrich Weiss, pflegt das Familienarchiv. Das Unternehmensarchiv in Dahlbruch wird seit 2011 von Archivar Torsten Edelmann betreut. Ausgewertet wurden Dokumente, die im Bundesarchiv, in den Landes- und Stadtarchiven aufbewahrt werden, ebenfalls die Literatur zu Friedrich Flick und den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und auch die Arbeit von Ulrich Opfermann zum Ausländereinsatz im Siegerland von 1939 bis 1945.

Das Buch „SMS. Ein deutscher Anlagenbauer in der Welt“ ist über 600 Seiten stark. Die Kapitel trennen die Zeitabschnitte bis 1939 („Die Formierung der Siemag“, bis 1945 („Die Siemag im Krieg“), bis 1971 („Bernhard Weiss ordnet das Portfolio“), bis 1973 („Die Ära Heinrich Weiss beginnt“), bis 1990 („Auf dem Weg zum Weltkonzern“) und bis 2021 („Der Eintritt in die digitale Welt“).

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