Siegen-Wittgenstein. Wohnungslosigkeit ist auch in Siegen für mehr Menschen ein Problem, als allgemein bekannt ist. Treffen kann es fast jeden. Hier gibt es Hilfe.
Das immer noch vorherrschende Bild von Wohnungslosigkeit – ein alleinstehender Mann auf der Parkbank – hat mit der Realität wenig zu tun. Diese Menschen gibt es, sie machen allerdings nur einen kleinen Anteil derjenigen aus, die von Obdachlosigkeit betroffen oder bedroht sind. Das sind nach Zahlen des Bundesarbeitsministeriums – von 2019 – immerhin sechs Prozent aller Haushalte. Mit dem Projekt „Endlich ein Zuhause“ setzt eine Trägerkooperation um die Alternative Lebensräume (ALF) eine Initiative des Landes NRW in Siegen-Wittgenstein um, die inzwischen erste Erfolge verbuchen kann.
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Wohnungsnot hat viele Gesichter, berichtet Sozialarbeiterin Lisa Assing, die bei ALF Projekte rund um Wohnungslosigkeit betreut, bei einer Konferenz zum Thema Wohnungsnotlagen, zu der jetzt der Kreis alle relevanten Akteure eingeladen hatte: Etwa die alleinerziehende Mutter von vier Kindern, die nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr auf die Beine kam und die Post nicht mehr geöffnet hatte. Alleinerziehend ist auch ein Vater mit drei Kindern, den seine Frau als Alleinverdienerin verließ und der in große finanzielle Schwierigkeiten kam. Eine Ukrainerin mit Kind und Hund konnte aus einer Gastfamilie in eine Wohnung vermittelt werden. Auch einem Pärchen, das sich aus einem Drogenumfeld lösen wollte, gelang der Schritt in eine eigene Wohnung.
Siegen: Bezahlbarer Wohnraum ist knapp – es gibt zu wenig geförderten Wohnungsbau
Die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) begleitet und evaluiert die Landesinitiative wissenschaftlich. Von Wohnungsnot betroffen sind eben nicht nur Menschen ohne Arbeit und mit Suchtproblematik, sondern auch Alleinerziehende und Familien, Menschen, die aus einer Reha entlassen werden, junge Erwachsene und Geflüchtete, so GISS-Mitarbeiter Axel Steffen. Etwa 85 Prozent der Betroffenen geraten in diese Situation aufgrund von Mietschulden oder wegen Problemen, die Miete zu bezahlen.
Info und Kontakt
„Endlich ein Zuhause!“, finanziell unterstützt vom Land NRW und der EU, bietet Beratung, Begleitung, Perspektiven für Menschen in Wohnungsnot.
Der Trägerverbund aus Beschäftigten der Alternative Lebensräume, dem Caritasverband Siegen-Wittgenstein und der Diakonie Soziale Dienste GmbH setzt Fachkräfte aus der Sozialarbeit als „Kümmerer“ ein.
Neu ist, dass hier Sozialarbeiterinnen gleichzeitig auch Immobilienmaklerinnen sind, die ihre Expertise gezielt für das Projektziel nutzen können. Sie sind Ansprechpartnerinnen für Vermieter.
Kontakt: Lisa Assing, Alternative Lebensräume GmbH, 0271/3 1747 35 oder per E-Mail an endlich-ein-zuhause@alf-siegen.de
Lars Stremmel, Sozialplanung des Kreises, verdeutlichte die zunehmend prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt vor Ort: 2019 waren 92 Prozent des Wohnraums Privateigentum, 17 Prozent Singlewohneinheiten (unter 60 Quadratmeter). Dem gegenüber stehe allerdings eine wachsende Zahl an Alleinlebenden, die Mieten im Kreis seien seither merklich gestiegen. Zudem wird der Soziale Wohnungsbau weniger, weil die Mietpreisbindung für immer mehr Objekte ausläuft und so gut wie nichts neu gebaut wird. Laut Prognose für 2035 stehen im Kreis noch 1630 Einheiten als sozialer Wohnungsraum zur Verfügung.
Siegen und Umland: Viele Betroffene sind „verdeckt“ wohnungslos
Im Kreis Siegen-Wittgenstein lebten 2019 demnach 260 Menschen in einer „ordnungsrechtlichen Unterbringung“, so die Bezeichnung: Die Kommunen unterhalten Anlaufstellen und vermitteln Zimmer in Unterkünften – auf der Straße schlafen muss in Deutschland niemand, der das nicht möchte. Hinzu kommen die verdeckt Wohnungslosen; Menschen, die sich irgendwie „durchschlagen“.
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Immer mehr Menschen verbringen immer längere Zeit in Notunterkünften. Bis 2030 will die Bundesregierung die Wohnungslosigkeit beenden. Was im Anblick der Datenlage und Prognosen als unmöglich gilt, könnte durch Projekte wie „Endlich ein Zuhause!“ erreichbar scheinen. In NRW haben laut GISS bislang 3841 Wohnungsvermittlungen stattgefunden, Lisa Assing verwies für Siegen-Wittgenstein auf zehn erfolgreiche Vermittlungen und zwei Wohnraumerhaltungen innerhalb der ersten sechs Monate. Im Kreis kümmert sich ein Trägerverbund aus ALF, Diakonie und Caritas um die Initiative.
Siegen-Wittgenstein: Viele Vermieter haben Vorbehalte gegen ehemals Wohnungslose
Die Ängste der Vermietenden würden sehr ernst genommen, die Träger agieren als „Kümmerer“ im Projekt, unterstützen und begleiten, ganz nach Bedarf, betonte Assing. Dieses Vorgehen sei zielführender und nachhaltiger als Betroffene in Notunterkünften unterzubringen, die bisherige Antwort von Politik und Gesellschaft auf das wachsende Problem. Wohnbegleitende Hilfen, Projekte wie dieses, seien noch Randerscheinungen, hätten aber das große Potenzial, der drohenden Wohnungsnot beizukommen. Das gehe nur gemeinsam, mit Politik, sozialen Trägern und Vermietern, so der Appell: „Jede Räumung ist eine zu viel. Wenn man früh genug ansetzt, kann man viel erreichen. Dazu braucht es Netzwerke und jede Menge Aufklärung, damit Vorbehalte bezüglich Menschen in Wohnungsnot abgebaut werden können.“
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Wenn Vermieter mit Ängsten, dass diese Klientel ihre Immobilie im Wert reduzieren oder gar das gesamte Wohnumfeld „runterziehen“ würde, auf die Menschen treffen, die die Sozialarbeit begleitet, „sind sie oft erstaunt, mitfühlend und wollen helfen. Denn es geht hier oft um besondere Schicksale von Familien“, so Lisa Assing. Auch bei Betroffenen brauche es Aufklärung, viele wüssten nicht um Hilfsmöglichkeiten. Also würden auch Anlaufstellen benötigt, „wo sie sich ohne Scham melden können, damit eine Räumung vermieden werden kann“.
Siegen: Bezahlbarer Wohnraum ist ein knappes Gut – die Politik ist gefragt
Wohnungslosigkeit sei weder naturgegeben noch unabänderlich, sondern eine durch „sozialpolitische Interventionen veränderbare Lebenslage“, betonte Axel Steffen. Bezahlbarer Wohnraum sei ein knappes Gut, führe aber nicht zwangsläufig zu einer gesellschaftlichen Krise – zumindest dann nicht, wenn rechtzeitig und vorbeugend gearbeitet wird. Verbesserte Kooperationen und funktionierende Netzwerke, Engagement und Aufklärung und fallbezogene Lösungen seien hier die Mittel der Wahl, um wohnungssuchende Menschen in prekärer Lage und Wohnungsgebende zusammenzubringen.
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