Siegen. Sagen: „Hier wohne ich“. Oder nach Feierabend nach Hause gehen – das können Wohnungslose nicht. Alternative Lebensräume Siegen will das ändern.

Das Gefühl, kein Zuhause zu haben, lässt sich kaum beschreiben. Ein Heim ist etwas so Selbstverständliches für die meisten, dass schon die Vorstellung schwerfällt, keins zu haben. Aber es gibt sie, die Menschen ohne festen eigenen Wohnsitz, auch in Siegen und dem Siegerland. Die gemeinnützige „Alternative Lebensräume“ (alf) bringt das Projekt „Housing First“ in die Region, ein neues Konzept gegen Wohnungslosigkeit.

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Das „Housing First“-Konzept ist in den 1990er Jahren in den USA entstanden: Wohnungslosen wird ohne Gegenleistung ein reguläres Mietverhältnis vermittelt. In Amerika wird es seither erfolgreich angewendet, in Europa hat sich ALF zufolge der Ansatz unter anderem in Portugal und Finnland bewährt. In Österreich hatten 98 Prozent der Nutzer auch nach zwei Jahren das Mietverhältnis aufrecht erhalten.

Kunstwerke von Gerhard Richter verkauft – Housing First in Siegen profitiert

Die alf hat eine Immobilie in einem ländlichen Siegener Stadtteil gekauft und hergerichtet. Das Haus musste komplett kernsaniert werden, berichtet Lisa Assing, die das Projekt betreut: Neue Heizung, neue Elektrik, neu Aufteilung des Gebäudes, damit dort zwei Parteien wohnen können: 65 Quadratmeter im Erdgeschoss für zwei Personen, 43 m2 in der oberen Etage für eine Frau. Das Haus steht mitten im Ort, nicht in einer dunklen Gasse, nicht in einer Schmuddelecke; es ermöglicht sichere Heimwege, Bushaltestelle und Einkaufsmöglichkeiten sind in der Nähe.

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Der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW und der Düsseldorfer Verein „fifty/fifty Asphalt“ ermöglichen die Finanzierung über den Verkauf von Kunstwerken Gerhard Richters: Mit dem Erlös wurden Organisationen wie die Alternative Lebensräume in Siegen unterstützt, Wohnungen oder Häuser zu erwerben.

Die Frauen schlagen sich irgendwie durch, ständige Sorge – auch in Siegen

Häufig von Wohnungslosigkeit betroffen sind Frauen, oft auch mit Kindern, etwa wenn sie vor einem gewalttätigen Partner fliehen mussten – oder auch nach einer Trennung, die ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog. Misshandlungen schon in der Kindheit sind keine Seltenheit, oft präge das einen Lebensweg vor, sagt Assing. Das heißt nicht zwingend, dass diese Frauen auf der Straße leben müssen. Es gibt Notunterkünfte, dort aber kaum Privatsphäre. Ein Zuhause ist etwas anderes. Oft schlüpfen sie irgendwo unter, schlagen sich irgendwie durch, berichtet Assing, die Frauen gehen nicht selten auch Beziehungen ein, nur um ein Dach über dem Kopf zu haben; ständig in Sorge, es wieder verlieren zu können. Fachjargon: Verdeckte Wohnungslosigkeit.

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Ein selbstbestimmtes Leben ist das nicht, die eigene Gesundheit, Arbeit müssen oft hintanstehen. Häufig sind die Frauen verschuldet. Ander sind auch aufgrund ihrer Vorgeschichte gar nicht in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen; oder es gibt Sprachbarrieren.

Auch unverschuldet Wohnungslosen erfahren in Siegen und Umgebung Vorurteile

Den Frauen wird ein Heim bedingungslos und unbefristet zur Verfügung gestellt, erklärt Lisa Assing: Denn aus der Wohnungslosigkeit heraus etwas zu bekommen ist schwer, der Wohnungsmarkt gibt so gut wie nichts her. „Die Frauen, die hier einziehen, sind die, die am weitesten vom normalen Wohnungsmarkt entfernt sind“, sagt die Sozialarbeiterin, sie seien schwer in normale Mietverhältnisse zu vermitteln. Auch, weil sie auf viele Vorurteile treffen.

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Die Frauen, an die sich das Angebot richtet, haben seit mindestens einem Jahr kein eigenes, festes Zuhause. Zusammen mit der Fachstelle für Wohnungslosigkeit wurden potenzielle Mieterinnen ins Auge gefasst, die es im ersten Moment kaum glauben konnten und dann hellauf begeistert waren. Bei „Housing First“ müssen sie keine Eignung unter Beweis stellen, keine Schufa-Auskunft vorlegen. Erstmal einziehen. Dann folgen nächste Schritte, bei Bedarf. Eine Wohnung ist die Basis für ein Leben, ohne geht es nicht. Individuelle Hilfen und Beratung können, müssen aber nicht in Anspruch genommen werden. Und wenn die eines Tages nicht mehr nötig sein sollten, müssen sie deshalb nicht wieder raus aus der Wohnung: Die Frauen sollen zur Ruhe kommen, ihr Leben neu ordnen können.

Mit Housing First Siegen haben die Frauen eine Chance auf ein neues Leben

Erstmals seit Langem wieder ein wichtiges Stück Autonomie. Entsprechend hoch sei in der Regel die Motivation der Frauen, sagt Lisa Assing: Denn bei „Housing First“ wird nicht eine Leistung fürs Amt erbracht oder den Sozialarbeiter. Wenn sie sich hier anstrengen, tun sie das für sich, ohne irgendeinen Zwang im Hinterkopf behalten zu müssen, „wie von einer Last befreit“, sagt die Sozialarbeiterin.

Die Situation für Wohnungslose

Bei der Unterbringung wohnungsloser Menschen besteht aktuell sehr hoher Bedarf, berichtet Lisa Assing – gerade für Frauen, für die in Notunterkünften, wo sie mit vielen anderen Menschen zusammenleben, immer auch eine erhöhte Unsicherheit besteht.

Über 15 teilstationäre Plätze für Frauen verfügt die Alternative Lebensräume in den beiden Kreisen Siegen-Wittgenstein und Olpe, fünf Plätze in Sozialpensionen für Frauen in akuter Wohnungsnot, weitere Plätze im ambulant betreuten Wohnen für Frauen und Männer. „Leerstand gibt es so gut wie nie“, sagt Assing. „Und wenn, dann nicht lange.“

Viele Klientinnen werden über längere Zeit begleitet, „wir müssen immer wieder gemeinsam kämpfen, dass sie nicht aufgeben.“

Auch für die Mitarbeiterinnen, die sich für die Projektbegleitung pädagogisch weitergebildet haben, sind das emotionale Erfahrungen: „So etwas zu begleiten ist eine sehr schöne Aufgabe“, sagt Assing. Wohnungslose haben Anspruch auf eine Erstausstattung mit Möbeln – auch dabei unterstützen Assing und ihre Kolleginnen. „Die meisten Frauen haben nichts außer einem Koffer.“ Notunterkünfte sind in der Regel möbliert – auch die eigene Wohnung einzurichten, nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, macht etwas mit den Frauen, ist Assing überzeugt: Sich Bad und Küche nicht mehr mit fremden Menschen teilen zu müssen, wieder einen eigenen Platz in der Gesellschaft zu haben, ein Gefühl von Identifikation und Heimat, Sicherheit und Geborgenheit zu entwickeln. „Einfach sagen zu können: Hier wohne ich. Oder nach Feierabend ‘nach Hause’ gehen zu können – das sind Alltäglichkeiten, die manche Menschen gar nicht haben“, sagt Lisa Assing. Hier werde Hilfe zur Selbsthilfe geleistet.

Alternative Lebensräume hofft auf weitere Housing First-Projekte in Siegen-Wittgenstein

„Ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Lisa Assing über das nun angeschobene Projekt. Die alf führt Gespräche mit weiteren Akteuren der freien Wohlfahrt, mit Wohnungsbaugesellschaften, Behörden. Dieses erste Haus soll der Startschuss sein für weitere solcher Angebote, um zu zeigen: Das funktioniert. Die Frauen sind unverschuldet in eine Notlage geraten – und sie kommen da auch wieder raus. Mit Hilfe von alf, denn die Mitarbeiterinnen begleiten ihre Klientinnen ja weiter, auch nach dem Einzug. Vorurteile in der Bevölkerung und bei potenziellen Vermietern will die alf abbauen; wenn etwas nicht funktionieren sollte, bleiben sie die Ansprechpartnerinnen. Finanziert wird die Miete über Sozialleistungen der Behörden.

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Ansprechpersonen und Informationen gibt es im Netz auf housingfirsteurope.eu und alf-siegen.de.