Siegen-Wittgenstein. Showdown vor Mitternacht: Die Mehrheit von SPD und CDU platzt, der Kreistag Siegen-Wittgenstein verpatzt den Etat. Am Ende geht gar nichts mehr.

Kurz vor 23 Uhr gibt der Kreistag am Freitagabend, 16. Dezember, auf. Einstimmig nehmen die Mitglieder den Vorschlag von Landrat Andreas Müller an, dass kein Stellenplan für die Kreisverwaltung – und damit auch keinen Haushalt – verabschiedet wird. Nach sieben Stunden ist die Haushaltssitzung des Kreistags geplatzt, der sich nach Abwicklung von ein paar verbleibenden Routinepunkten ins neue Jahr vertagt. Beendet sein dürfte mit diesem Abend auch die Kooperation von SPD und CDU, die beide Fraktionen zu Beginn der Wahlperiode vor zwei Jahren vereinbart hatten.

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1. Akt – Eröffnung: Wie die Risse sichtbar werden

Die Sitzung - diesmal in der Weidenauer Bismarckhalle – fängt an wie jede Haushaltssitzung des Kreistags im Dezember. Landrat Andreas Müller hält die einleitende Haushaltsrede, Kämmerer Thomas Damm schließt sich mit Details an. Die Zahlen haben sich so weit verschlechtert, dass nun 18,9 Millionen Euro Defizit entstehen und von der verfügbaren Ausgleichsrücklage nur noch ein paar hunderttausend Euro übrig bleiben. „Für weitere Kreistagsbeschlüsse besteht nur noch geringer Spielraum“, warnt er. Als ob er schon weiß, was in den nächsten Stunden kommt.

Julian Maletz, der neue SPD-Fraktionschef, eröffnet die Debatte und stellt die 35 Prozent Hebesatz für die Kreisumlage in den Raum. Man weiß: Die Kreisumlage, also der Beitrag der elf Städte und Gemeinden zum Kreishaushalt, ist die Ikone, um die sie alle tanzen – für den politischen Wettbewerb ist das die Größe, die entscheidet, wer am stärksten ist. Im Raum stehen: die 35,3 Prozent, die Landrat und Kämmerer wollen. Die 35 Prozent, auf die sich SPD und CDU am Freitagvormittag geeinigt haben. Die 34,8 Prozent, die 2022 gelten und bei denen Grüne und LKR bleiben wollen. Die 34,4 Prozent, die FDP und UWG beantragen. Die 32,8 Prozent, auf die die Bürgermeisterin und die Bürgermeister den Umlagesatz gesenkt haben wollen. Und eigentlich auch noch die „39 bis 40 Prozent“, die Ullrich Georgi (Linke) aber nicht beantragt: „So mutig sind wir nun doch nicht.“

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In ein paar Stunden wird das alles egal sein. CDU-Fraktionschef Hermann-Josef Droege als zweiter Debattenredner bringt zwei Mal die Worte „noch einmal“ unter, als er die Zustimmung seiner Fraktion zum Haushalt ankündigt. „Noch einmal“ im Sinne von „noch ein letztes Mal“. Hellhörig macht Christian Zaum (AfD), als er die „Brandmauer“ des Kreistags gegen seine Fraktion kritisiert: „Es gäbe eine bürgerliche Mehrheit.“ 28 Stimmen von CDU, UWG, FDP, SWM, LKR und AfD gegen 27 von SPD, Grünen, Linken und Landrat. Rede für Rede wird deutlicher, dass es für den Stellenplan nicht reichen könnte. Aber den verliert der Kreistag nun erst einmal aus den Augen.

2. Akt – Eskalation: Wie (k)eine Freundschaft zu Ende geht

Es geht ums Apollo. Dass der Kreis, wie die Stadt Siegen, drei Jahre lang jeweils 50.000 Euro dazu schießt, ist seit dem einstimmigen Nein des Kulturausschusses vom Tisch. Die SPD hat einen neuen Vorschlag: einmalig 100.000 Euro drauf aufs Kulturbudget, die nach Anteilen an der Kreisumlage verteilt werden. Das wären dann zwar nicht 50.000, aber noch um die 37.000 Euro für Siegen und auf Wunsch fürs Apollo-Theater. Man könnte das Geld von den 300.000 Euro nehmen, die noch als Kreis-Beitrag für das Siegerlandmuseum im Burgstraßen-Bunker im Etat stehen. Es sei doch „bis heute nicht bekannt, dass sich die Stadt Siegen vom Bunker verabschiedet hat“, wendet Hermann-Josef Droege (CDU) ein. Er erzählt, dass Siegener Ratsmitglieder Mitglieder des Kreistags „regelrecht zur Rede gestellt“ hätten. Das sei „unzumutbar“. Um weitere Repressionen auszuschließen, beantragt er geheime Abstimmung. Die kommt: 26 zu 25 für den SPD-Antrag. Es ist eng an diesem Abend.

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Julian Maletz (SPD) präsentiert „ein kleines kreiseigenes Entlastungspaket“: Nicht mehr unter 30.000, sondern unter 40.000 Euro Jahreseinkommen sollen Eltern von Kita-Beiträgen befreit werden. Macht bei aktuell 221 Kindern, die in den Genuss der Vergünstigung kämen, 105.000 Euro Beitragsausfall jährlich. Alle wissen, dass die Stadt Siegen mit ihrem eigenen Jugendamt mitziehen muss – sonst werden scharenweise Käner Kinder in Dielfen, Seelbacher Kinder in Lindenberg und so weiter angemeldet. CDU-Fraktionschef Droege weiß auch, dass die Kreistags-SPD bei der Stadt-SPD vorgearbeitet und so „Druck auf die Siegener CDU ausgeübt“ habe – die sind nämlich auch, wenn auch längst ohne Mehrheit, ebenfalls in einer „Kooperationsgemeinschaft“. Droege findet all das „bemerkenswert“, Maletz entschuldigt sich für den Schnellschuss – und erkämpft sich dann doch soeben eine 26:24-Mehrheit.

Es folgt die Debatte über das Wittgensteiner Wisent-Problem. In einer Sitzungsunterbrechung kann der Knoten soeben noch durchgeschlagen werden. Landrat Andreas Müller will das Finale einleiten, die Serie von Beschlüssen zum Haushalt 2023, die mit dem Stellenplan beginnt. Jetzt ist es wirklich knapp. Von der Bühne der Bismarckhalle werden 19 Gegenstimmen gezählt. Und erst 23 dafür, bevor in den Reihen der CDU noch vier Hände mehr während des Auszählens heruntergehen. Dann wären es nur noch 19. Das reicht nun nicht mehr, die verabredete Haushaltsmehrheit ist dahin. „Volatil“ nennt der Landrat dieses Abstimmen, bricht ab und unterbricht die Sitzung erneut.

3. Akt – Kollaps: Wie am Ende gar nichts mehr geht

In einer weiteren langen Pause reden die Fraktionsvorsitzenden nicht miteinander, Bemühungen um einen neuen Vorschlag sind nicht erkennbar. Hier und da wird gebrüllt, die Zeit der Freundlichkeiten ist vorbei. Landrat Andreas Müller eröffnet die Sitzung erneut, fragt, ob man die Abstimmung als nicht abgeschlossen betrachten und wiederholen will. Man will nicht. „Sie haben deutlich 19:19 gesagt“, erinnert Hans Günter Bertelmann (UWG) den Landrat. Und dann ist alles vorbei. Rainer Danier, Grünen-Ratsmitglied aus Wilnsdorf, hat sich das bis zum Schluss angeschaut. Er habe eigentlich erfahren wollen, wie viel Kreisumlage seine Gemeinde denn nun hinblättern muss. Die Kreis-Politik wird nun noch ganz andere Probleme haben.

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