Siegen. Angesichts der Krisen wächst bei vielen Menschen die Existenzangst. Nicht jeder kann damit umgehen. Hier gibt es praxisnahe Tipps vom Fachmann.

Armut, Blackout, Krankheit, Krieg: Krisen treten aktuell geballt auf, in der Folge entwickeln immer mehr Menschen konkrete Existenzängste. Das bekommt auch das Team der Telefonseelsorge Siegen zu spüren. Angst an sich sei ohnehin eines der Standardthemen, sagt Leiter Dietrich Hoof-Greve im Gespräch mit der Redaktion. Aber das Existenzängste „als solche explizit identifizierbar sind: Das ist neu.“

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Siegen: Was macht den Menschen in der momentanen Lage Angst?

Krieg in der Ukraine und Angst vor atomaren Angriffen, Inflation, galoppierende Energiepreise, Klimawandel, Pandemie: Eine derartige Häufung konkreter Bedrohungsszenarien wie in den vergangenen Monaten gab es in Deutschland über Jahrzehnte hinweg nicht. Zwar sei es auch derzeit keineswegs so, dass die Telefonseelsorge überrannt werde, betont Dietrich Hoof-Greve – die Zahl derer, die Kontakt aufnehmen, sei konstant. Inhaltlich zeige sich aber eine Verschiebung.

Auch online erreichbar

Die Telefonseelsorge Siegen wurde 1980 von den evangelischen Kirchenkreisen Siegen und Wittgenstein und dem katholischen Gemeindeverband Siegerland/Südsauerland gegründet. Zurzeit arbeiten 80 Ehrenamtliche mit.

Das Team ist nicht nur telefonisch erreichbar (unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222), sondern auch via Chat oder Email über telefonseelsorge-siegen.de.

Die Telefonseelsorge ist zwar ein ökumenisches Angebot, religiöse Inhalte spielen aber in den Gesprächen keine Rolle (sofern dies nicht von den Anrufenden selbst gewünscht wird). Als evangelischer Pfarrer merkt Leiter Dietrich Hoof-Greve aber an, dass Religion vielen Menschen Halt gebe. „Ein feste Burg ist unser Gott“, nennt er als Stichwort: „Das Gefühl, dass es etwas viel Größeres gibt als meine Angst.“ Gerade die Bibel enthalte zudem „starke Geschichten zum Thema Angst“.

Das sei nicht nur in Siegen so. Überall „haben Themen, die zum Beispiel mit Corona, dem Klima oder Energiekosten zu tun haben, zugenommen“, sagt der evangelische Pfarrer. Bundesweit liege der Anteil bei rund 4 Prozent. Wobei die statistische Erfassung schwierig ist, denn auch bei Gesprächen, deren Hauptthema etwas Anderes ist, wabere manchmal Existenzangst als Nebenaspekt mit. 4 Prozent klingt nicht umwerfend viel; doch bei etwa 10.000 Anrufen, die die Telefonseelsorge Siegen pro Jahr bekommt, macht es sich durchaus bemerkbar.

Pfarrer Dietrich Hoof-Greve ist Leiter der Telefonseelsorge Siegen. Im Zuge der derzeitigen Krisen nehmen mittlerweile auch Menschen das Angebot in Anspruch, die explizit unter Existenzängsten leiden.
Pfarrer Dietrich Hoof-Greve ist Leiter der Telefonseelsorge Siegen. Im Zuge der derzeitigen Krisen nehmen mittlerweile auch Menschen das Angebot in Anspruch, die explizit unter Existenzängsten leiden. © Kirchenkreis Siegen | Jasmin Maxwell-Klein

Mit welchen konkreten Problemen rufen Leute bei der Telefonseelsorge Siegen an?

Die Anrufe werden protokolliert. Dietrich Hoof-Greve sind die Inhalte also bekannt, „manche Schicksale sind bedrückend“. Zu einzelnen Fällen äußert er sich natürlich nicht öffentlich, denn die Vertraulichkeit ist ein entscheidender Faktor und ein hohes Gut. Doch der Leiter der ökumenischen Einrichtung, die beim Kirchenkreis Siegen angesiedelt ist und die ungeachtet von Konfession und religiösem (oder eben nicht religiösem) Hintergrund für jeden und jede offen ist, kann verallgemeinerte Beispiele geben.

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Es rufen Menschen an, die während der Pandemie in völlige Einsamkeit geraten sind; Leute, die über die gestiegenen Preise klagen oder die nach eigenen Angaben kein Geld mehr haben und nicht wissen, wie es weitergehen soll; oder Menschen, die befürchten, dass die Gesellschaft all die Krisen nicht mehr bewältigen können wird. Jüngere melden sich auch, weil sie sich um die Zukunft betrogen fühlen oder Sorge haben, dass die guten Jahre mit einer Aussicht auf Wohlstand und Sicherheit vorbei sein könnten. Und auch die Frage, ob die Stromversorgung komplett zusammenbrechen könnte, macht manchen Angst.

Wie hilft das Team der Telefonseelsorge Siegen den Anruferinnen und Anrufern?

Bei der Telefonseelsorge gehe es nicht um Coaching oder Selbstoptimierung, erklärt ihr Leiter. Zunächst einmal gehe es darum, einen Raum zu bieten, in dem Menschen offen und ohne Scham sprechen können – auch über Scheitern. „Wir können die Angst vielleicht nicht wegmachen. Aber wir können sie besprechbar machen“, sagt Dietrich Hoof-Greve. Das könne bereits zu einer Heilung beitragen; erst Recht, wenn die Anruferinnen und Anrufer sich wahrgenommen und verstanden fühlen. Daran könnten sich gemeinsame Überlegungen anschließen, wie sich mit den jeweiligen Problemen umgehen lasse – und das individuell.

Was bringt es Menschen, zu wissen, dass auch andere Angst haben?

„Angst zu haben, gilt nicht als chic“, beschreibt Dietrich Hoof-Greve die gesellschaftliche Konvention. Gerade das mache es für viele so schwer, über ihre Empfindungen zu reden – und das wiederum kann Gefühle des Schwach- und Alleinseins verstärken. Das Bewusstsein, dass es anderen ähnlich geht, könne entlastend wirken. „Aber diese Erfahrung kann man nur machen, wenn man es anspricht“, sagt Dietrich Hoof-Greve. Von daher könne es bereits entlasten, es offen äußern und zulassen zu können: „Ich habe Angst.“ Und das fällt leichter, wenn klar ist, dass man damit nicht allein auf weiter Flur ist.

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Siegen: Welche Tipps gibt es für den Umgang mit den Ängsten?

„Wir raten den Menschen nicht“, stellt Dietrich Hoof-Greve klar. Wer sich an die Telefonseelsorge wendet, bekommt keine Patentrezepte zu hören, sondern die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Team über Ideen und Auswege zu reflektieren. Gleichwohl gibt es grundlegende Ansätze, die sich oft als nützlich erweisen.

1. „Ein Realitätscheck ist wichtig“, sagt der Experte, „genau hingucken und überprüfen.“ Ist das, was die Angst einem sagt, überhaupt wahr und ein Fakt? Besonders deutlich wird dies am Beispiel körperlicher Symptome, aufgrund derer Menschen fürchten, an einer schlimmen Krankheit zu leiden: Hier kann eine Klärung beim Arzt zwar erschütternde Gewissheit schaffen, möglicherweise aber auch Entwarnung und Erleichterung bringen. Wobei angemerkt sei: Die Telefonseelsorge ist nach eigenem Verständnis keine medizinische Hotline und der Weg zum Arzt ist in Fällen körperlicher Beschwerden sowieso das Mittel der Wahl. Die reine Angst vor Krankheiten ist aber nun einmal nicht zwangsläufig mit tatsächlichen Erkrankungen korreliert.

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2. Die eigene Gedankenwelt bewusst gestalten. Beim russischen Krieg gegen die Ukraine und einer theoretisch denkbaren militärischen Bedrohung Deutschlands fällt das Ergebnis des Realitätschecks recht eindeutig aus: „Gibt es, ist so“, bringt des Dietrich Hoof-Greve auf den Punkt. Dagegen kann der Einzelne nicht wirklich etwas ausrichten. „Aber ich kann überlegen: Wie viel kann ich an meiner Angst verändern?“, betont der Leiter der Telefonseelsorge. „Wie viel Raum nimmt der jeweilige Gedanke am Tag ein, wie kann ich ihn steuern?“ Ein negatives Gefühl zu ändern, sei oft nicht unmittelbar möglich, „aber ich kann mein Handeln beeinflussen. Ich kann versuchen, gezielt meine Gedanken zu lenken, wieder ins Cockpit der Gedanken zu kommen, statt ihnen unter Deck ausgeliefert zu sein“.

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Konkrete Verhaltensweisen und Übungen können dabei helfen, erläutert der Fachmann: Etwa die Betrachtung von Fotos von schönen Orten und Momenten, die mittlerweile fastjeder auf dem Smartphone zur Hand hat. Oder man könne abends auf einem Zettel notieren „Wofür ich heute dankbar bin“. Das hört sich vielleicht banal an – bringt einen aber in die Situation, bewusst und gezielt das Augenmerk auf die positiven Dingen zu lenken, die es trotz aller Krisen ja immer noch gibt. Bezogen auf den Ukrainekrieg könne dies manchem auch ein Gefühl von Widerstand gegen Vladimir Putin geben, merkt Dietrich Hoof-Greve ein: Ein klares „Ich will seinen Terror nicht in meinen Gedanken.“

3. Mut nicht verlieren. Das sagt sich einfach. Doch der Theologe verbindet diesen Punkt mit dem Realitätscheck. Die Erfahrung zeige, dass die Menschen in Deutschland in Krisen schon oft Wege gefunden hätten, um Hilfe zu ermöglichen. Wenn zum Beispiel jemand einsam sei, unter knappen finanziellen Ressourcen leide und deshalb Hemmungen habe, zuhause die Heizung aufzudrehen, „gibt es auch im Winter Orte, wo Gemeinschaft stattfinden kann“, sagt Dietrich Hoof-Greve – und nennt Angebote der Kirchengemeinden. Niemand müsse sich schämen, Hilfe wie etwa einen Mittagstisch in Anspruch zu nehmen. Und der Pfarrer ist überzeugt, dass es weiterhin viele Projekte und Maßnahmen geben wird. „Ich glaube, wir sind als Gesellschaft noch lange nicht am Ende unseres Einfallsreichtums. Das macht mir Mut.“

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