Altenhof/Siegen. Der Blinde Helmut Sova aus Altenhof ist beim Weg zur Uni Siegen auf seine Hündin angewiesen. Überall gibt es Barrieren. Oft mangelt es an Hilfe.

Bald wird Helmut Sova (65) aus Altenhof sein Bachelorstudium abschließen – ob er danach noch ein Masterstudium anfängt, hängt von den Anreisebedingungen zur Uni Siegen ab. „Dabei war das Studium eine der besten Entscheidungen meines Lebens“, sagt er. Doch der Weg bis zur Universität steckt für den Blinden voller Hindernisse. Ohne seine Emma könnte Helmut Sova ihn gar nicht auf sich nehmen. „Er wäre nicht zu leisten“, sagt er. Sein Alltag zeigt, dass „Barrierefreiheit“ alles andere als alltäglich ist. Und es nicht überall eine helfende Hand gibt.

Blinder erzählt: Allein der Weg von Zuhause bis zum Bus hat Hindernisse

Es ist Donnerstag, fünf Minuten vor 8 Uhr. Die Labrador-Hündin Emma hat schon eine halbe Stunde Freilauf hinter sich, nun beginnt ihr Arbeitstag. „Ich muss den Bus um Viertel nach 8 nehmen, damit ich um 10.15 Uhr in meiner Vorlesung an der Universität Siegen sitzen kann“, berichtet Helmut Sova. Er hat einen weiten Weg vor sich: In Altenhof geht es los. Normalerweise funktioniert der Gang bis zur Bushaltestelle „wunderbar“, wie Helmut Sova sagt.

Helmut Sova ist immer mit seinem Blindenführhund Emma unterwegs. Auf dem Weg bis zur Uni Siegen gibt es viele Hindernisse, die er mit ihrer Hilfe hinter sich lassen kann.  
Helmut Sova ist immer mit seinem Blindenführhund Emma unterwegs. Auf dem Weg bis zur Uni Siegen gibt es viele Hindernisse, die er mit ihrer Hilfe hinter sich lassen kann.   © Privat | Privat

Es sei denn, es werden die Mülltonnen entleert – dann wird das Ganze zum Hindernislauf. Der Gehweg steht voll. Vor jeder Tonne bleibt Emma stehen, um das Hindernis zu signalisieren. Helmut Sova tastet sich mit seinem Blindenstock nach vorne, lauscht, ob nichts auf der Straße los ist. Dann läuft er auf der Straße an der ersten Mülltonne vorbei, steigt danach wieder auf den Gehweg. „Dieser Vorgang wird sich auf dem etwa ein Kilometer langen Fußweg noch etwa 20 Mal wiederholen.“ Eine Beschwerde bei der Kommune sei erfolglos gewesen. „Ich warte jetzt, bis sich eines Tages die Rollator-Fahrer beschweren und vielleicht einen Sinneswandel herbeiführen“, sagt Helmut Sova.

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Die Busfahrer, die ihn dann von Wenden nach Kreuztal fahren, seien immer „äußerst hilfsbereit“, freut sich der Philosophie- und Geschichtsstudent. „Sie parken den Bus sehr eng an der Bordsteinkante und senken sogar das Fahrzeug ab.“ So leicht wird es Helmut Sova bei der nächsten Busfahrt im Siegerland nicht mehr haben.

Fehlende Barrierefreiheit: In Kreuztal am Bahnhof wird es schwierig

Der Bus bringt ihn bis zum Bahnhof in Kreuztal. Als Helmut Sova noch keinen Führhund hatte, habe der Bahnhof ein „unüberwindliches Hindernis“ für ihn dargestellt. „Der Weg am Bahngleis entlang bis zur Treppe, um an den gegenüberliegenden Bahnsteig zu gelangen, ist mit Blumenkästen, Werbeschildern, Fahrkartenautomaten und Getränkeautomaten komplett zugestellt. Für die Blinden ist ein Leitstreifen knapp an der Bahnsteigkante vorgesehen. Der Blinde, der dort mit seinem Stock entlang tapert, ist entweder lebensmüde oder hat Nerven wie die Bauarbeiter auf einem New Yorker Wolkenkratzer. Das auch, weil auf diesem Gleis manche Züge ungebremst durchfahren.“ Selbst Helmut Sovas „stets optimistischer Mobilitätstrainer“ habe am Bahnhof Kreuztal kapituliert.

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Generell bekäme er fast überall Hilfestellung: „Ich will mich nicht beklagen“, so Sova. Mehr als goldwert ist in Kreuztal Emma: Sie läuft im Eiltempo Slalom durch das „Hinderniswirrwarr“ des Bahnhofes bis zur Treppe, die sie wieder durch ihr Stehenbleiben anzeigt. „Die einzige Aufgabe, die mir obliegt, ist mit Emma Schritt zu halten und ihr im wahrsten Sinne des Wortes blind zu vertrauen“, so Helmut Sova. Am gegenüberliegenden Gleis heißt es Warten auf den Zug – „und hoffen, dass dies nicht die Diesellok nach Betzdorf ist“.

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Doch Helmut Sova, der früher unter anderem als Geschäftsführer in der Fahrradbranche arbeitete, hat kein Glück: Der Betzdorfer Zug sei „gefühlt einen halben Meter niedriger als die Bahnsteigkante“. Emma findet den Eingang ohne Probleme. „Ich versuche mich mit meinem Stock heranzutasten. Auf mein Kommando springt Emma einen gewaltigen Satz in den Zug und reißt mich hinterher.“ Helmut Sova nimmt solche Situationen mit Humor – was bleibt ihm auch anderes übrig? „Ich war in meiner Jugend Weitspringer“, sagt er.

Vom Bahnhof bis zur Uni Siegen: Die Busfahrten unterscheiden sich eklatant

Nach der Zugfahrt am Bahnhof Weidenau angekommen, benötigt der Wendener das erste Mal die Hilfe seiner Mitmenschen. Dort habe man einen Treppenabgang wegen Bauarbeiten geschlossen und den gegenüberliegenden könne Emma nicht erkennen. Viele Studierende, die dort unterwegs sind, helfen Helmut Sova bis zur UX2-Bushaltestelle. Doch es kommt regelmäßig zu Ausfällen der Uni-Express-Linien. „Es kann also geschehen, dass ich fast eine halbe Stunde an der Haltestelle warte, um dann festzustellen, dass mein Bus um 9.30 Uhr nicht fährt.“

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Die Ausfälle hätten dazu geführt, dass kaum noch Studierende auf die UX-Linien warten, auf andere Linien ausweichen. „Für mich ist es allerdings unmöglich, an diese regulären Haltestellen zu kommen“, sagt Helmut Sova. Das sei sehr kompliziert und Emma sei nicht darauf trainiert. „Mir bleibt dann nur die Möglichkeit, mich bei anderen Kommilitonen durch Rufen bemerkbar zu machen.“ Unterstützung findet er dann meist schnell.

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Doch damit nicht genug der Odyssee: Die Busfahrer, die die Studierenden zum Adolf-Reichwein-Campus bringen, seien längst nicht so hilfsbereit wie in Wenden. „Mir ist auch schon passiert,, dass ich was fragen wollte und mir die Tür vor der Nase zugemacht wurde, der Bus ohne mich losfuhr.“ Viele Fahrer würden den Bus nicht absenken, auch nicht nah am Bordstein halten. Dabei würde das Helmut Sova den Einstieg deutlich erleichtern. Ab Siegen könne er meist weder mit Auskünften seitens der Busfahrer noch mit Erleichterungen, wie etwa der Absenkung, rechnen, kritisiert Helmut Sova.

Uni Siegen: Auch auf dem Campus gibt es Verbesserungsbedarf bei der Barrierefreiheit

„Am Campus angekommen, kann ich mit der Hilfe meines Führhundes alle Hindernisse, die diese Universität in großer Anzahl für einen behinderten Menschen bereithält, selbstständig lösen“, sagt der Sauerländer. Auch dort sieht er Verbesserungsbedarf: Am Zugang zum AR-Campus sei „eine absurde Schikane eingebaut, die für einen blinden Menschen ohne Führhund unüberwindlich erscheint“. Hündin Emma läuft mit ihm regelmäßig über die Bordsteinkante auf dem Grünstreifen an der Schranke vorbei.

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Wenn Helmut Sova dann nach eineinhalb Stunden pünktlich im Vorlesungssaal angekommen ist, ist er trotz des beschwerlichen Weges nicht so gefrustet, dass das seine Lust aufs Studium beeinträchtigen würde. „An der Uni fühle ich mich selbstständig. Ich gehöre wirklich dazu und studiere wahnsinnig gerne.“

Bachelorarbeit über Gerechtigkeit

Eigentlich wollte Helmut Sova seine Bachelorarbeit in Philosophie über Jean-Paul Sartre schreiben. Doch die Originalliteratur habe es in Deutsch nicht in digitalisierter Form gegeben. „Jetzt schreibe ich über Gerechtigkeit.“

Das Studium habe ihn 2017 aus einem „Riesenloch“ geholt. Als er 2018 durch eine Augenkrankheit vollkommen erblindete, hätte sich sein Leben verändert. Als er seine Kinder, die damals selbst studierten, schließlich fragte, was sie von einem Studium hielten, bestärkten sie ihn sofort. Das Studium gab Helmut Sova neuen Sinn. Einem Master gegenüber wäre er nicht abgeneigt. Vielleicht werden die Anreisebedingungen bis dahin besser. „Man darf doch wohl noch Träume haben.“

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