Brauersdorf. Am Anfang von Corona gab es noch Applaus für Pflegekräfte in Krankenhäusern und Heimen. Nun fühlen sich Pfleger in Netphen im Stich gelassen.

Das Haus St. Anna hatte unter den Bewohnerinnen und Bewohnern seit Ausbruch der Pandemie noch nie einen positiven Corona-Fall. Dass es nach zwei Jahren Pandemie im Netphener Demenzzentrum noch nie dazu gekommen ist, ist eine riesige Leistung – aber auch ein wenig Glückssache.

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Damit es so bleibt, ist die Vorsicht weiter groß. Er habe seine Kontakte im Privaten „zurückgefahren“, sagt Pfleger Kevin Preuß, würde auch dort „auf Abstand gehen“. Er ist sich immer bewusst, welche Verantwortung er für die Bewohnerinnen und Bewohner hat – darum schränkt er sich auch im Privaten ein. „Diese Dimensionen muss man sich mal überlegen“, sagt Einrichtungsleiter Stephan Berres. Pflegefachkräfte schränken sich außerhalb des Berufes ein, um eine Corona-Infektion nicht zu riskieren und andere Menschen zu schützen. Doch trotz des großen Einsatzes fehlt es oft an Wertschätzung.

Netphen: Wertschätzung für Pflege in Deutschland – Altenheime eher im Hintergrund

„Was habe ich von Applaus?“, sagt Kevin Preuß und erinnert damit an die Anfänge der Pandemie, als für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Krankenhäuser und Pflegeheime applaudiert wurde. Diese Wertschätzung ist schnell verpufft. „Von Lauterbach hört man gar nichts“, kritisiert Kevin Preuß. Und irgendwann sei auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit mehr auf die Krankenhäuser und Kliniken gerichtet worden – die Altenheime rückten in den Hintergrund.

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„In den Krankenhäusern war die Sterberate wesentlich höher“, dort habe es viele „schwere Verläufe“ gegeben“, versucht Dr. Christian Stoffers, Pressesprecher der Marien Gesellschaft Siegen, die Hintergründe zu erläutern. Auch wenn die Gründe vielleicht erklärbar sind, ändert es nichts daran, dass sich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der (ambulanten) Altenpflege zurückgestellt, weniger wahrgenommen fühlen.

Stephan Berres (54) leitet das Haus St. Anna in Netphen.
Stephan Berres (54) leitet das Haus St. Anna in Netphen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Netphen: Im Haus St. Anna wirft Corona immer wieder die Dienstpläne über den Haufen

Es wird gesellschaftlich vorausgesetzt, dass es auch dort einfach immer weiter läuft. Dabei ist der Aufwand für die Pandemie-Maßnahmen dort ebenfalls hoch. Wegen Omikron gibt es zudem immer wieder Personalausfälle – auch im Haus St. Anna. Von jetzt auf gleich müssen Dienstpläne umgeschmissen und umgestellt werden. Die Pflegefachkräfte im Haus St. Anna haben alle Prozesse schon längst verinnerlicht: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen und befolgen stets die neuesten Corona-Regeln. Eine Zeit lang hätte eine Verordnung die andere gejagt, so Stephan Berres. Immer wieder gibt es neue Regeln. Doch nach zwei Jahren habe man gelernt, mit Corona umzugehen, unterstreichen Marc Neuser und Kevin Preuß, ebenfalls Pflegefachkraft.

So könnten die Rahmenbedingungen besser werden

Um die Rahmenbedingungen in der Pflege bundesweit zu verbessern, fordert Stephan Berres, Einrichtungsleiter im Haus St. Anna, unter anderem folgendes: „Den Ausbau des Gesundheits- und Arbeitsschutzes in der Pflege sowie eine leistungsgerechte Vergütung sowie eine sofortige Einführung bundeseinheitlicher, verbindlicher Personalvorgaben und Regelungen, welche nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ dem tatsächlichen Pflegebedarf entsprechen.“ Ihm schwebt ein Anstieg der Personalvorgaben um mindestens 20 Prozent vor.

Weitere mögliche Maßnahmen sind seiner Ansicht nach Konzepte für langjährige und älter werdende Mitarbeiter (z.B. Reduzierung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und Anspruch auf regelmäßige Erholungsmaßnahmen) sowie eine stärkere Unterstützung von pflegenden Angehörigen.

„Pflegesätze müssen auch besondere Situationen, wie die Begleitung sterbender Menschen, in vollem Umfang finanzierbar und somit umsetzbar machen“, fordert Stephan Berres.

In die Einrichtung rein kommt nur, wer negativ getestet wurde – da hilft auch nicht, wenn man geimpft oder genesen ist. Auch die Angehörigen klären die Pflegefachkräfte über die aktuellen Corona-Regeln auf – nicht immer geht das ohne Diskussionen. Hinzu kommen die COVID-Tests bei den Bewohnerinnen und Bewohnern. Die, die nicht geimpft sind, werden alle zwei Tage getestet. „Fast alle Bewohner sind mittlerweile mehrfach geimpft und bei den Mitarbeitern gibt es eine komplette Impfquote“, betont Stephan Berres.

Haus St. Anna in Netphen: Menschen mit Demenz „erleben die Pandemie ganz anders“

Das ist umso wichtiger, weil viele der Bewohnerinnen und Bewohner gar nichts von Corona wissen. „Sie erleben die Pandemie ganz anders als wir“, erklärt Stephan Berres. „Sie tragen keine Masken im Gesicht oder desinfizieren sich die Hände. Abstand halten zwischen Bewohner und Mitarbeitern in St. Anna, unmöglich. Menschen mit ausgeprägter Demenz sind gedanklich nicht, und wenn doch nur ganz vereinzelt, in der aktuellen Lebenszeit des Jahres 2022.“ Hinzu kommt, dass Demenzerkrankte häufig einen ausgeprägten Bewegungsdrang haben – im Falle einer Infektion kommt das erschwerend hinzu. Im Haus St. Anna, das im Sommer 2019 eröffnet wurde, ist aber sowieso Flexibilität gefragt: „Wir passen uns den Bewohnern an“, sagt Kevin Preuß. Sie geben die Tagesstruktur vor, werden zum Beispiel nicht alle gleichzeitig morgens geweckt.

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Wenn genug Abstand gegeben ist, nimmt Kevin Preuß auch schon einmal die Maske ab. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen sein Lächeln, seine Mimik, sehen, sagt er. Die Corona-Regeln machen vieles schwieriger – schon allein für gesunde Menschen, umso unverständlicher muss es für erkrankte sein. Manchmal nehme eine Bewohnerin oder ein Bewohner ihn in den Arm, sagt Kevin Preuß. „Das bestärkt mich darin, dass ich das Richtige tue“, sagt er. Menschen zu pflegen ist so viel mehr als einfach „nur“ pflegen. „Wir sind Friseur und Stylist“, sagt Marc Neuser und lacht. Und manchmal seien sie eben auch wie „Angehörige“, so Kevin Preuß. Sie hören den Menschen zu, sind in der Not für sie da. Auch dann, wenn die eigentlichen Angehörigen nicht in die Pflegeeinrichtung kommen können oder wollen oder es vielleicht keine Angehörigen mehr gibt. Zu dem Beruf gehört unglaublich viel Nähe und Empathie. Jeder Tag ist anders, immer wieder warten neue Herausforderungen.

Netphen: Im Haus St. Anna gehört der Tod zum Berufsalltag der Pflegekräfte

Auch der Tod gehört zu dem Beruf dazu. Menschen, die Kevin Preuß oder Marc Neuser lange gepflegt haben, versterben. „Man kann nicht immer traurig sein“, sagt Kevin Preuß. Er nimmt sich Zeit, wenn die Menschen gehen. „Ich möchte ihnen Nähe geben, sie von den Schmerzen ablenken“, sagt er. Trotzdem dürfe man „nicht jeden Toten mit sich nehmen“, müsse irgendwann „umschalten“. Auch wenn man lerne, damit umzugehen, sei der Umgang damit jedes Mal anders, sagt Marc Neuser. Beide betonen, wie wichtig ein Ausgleich in ihrem Leben sei, um all das verarbeiten zu können.

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Die Wertschätzung für ihre Arbeit hat die Bundesregierung mit einem Coronabonus in Zahlen ausgedrückt. „Das ist nett. Aber das Geld könnte man besser in Personal investieren“, sagt Kevin Preuß stellvertretend für alle Pflegeeinrichtungen. Das würde die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege deutlich entlasten. „Dann können wir den Bewohnern mehr Zuwendung zukommen lassen“, führt Kevin Preuß weiter aus.

Netphen: Haus St. Anna hat mehr Personal als andere Einrichtungen der Altenpflege

Das Haus St. Anna habe schon mehr Personal als andere Einrichtungen, weil es eine gemeinnützige und spezialisierte Einrichtung ist, erläutern Stephan Berres und Dr. Christian Stoffers. Drei bis vier Pflegefachkräfte kümmern sich um 14 Bewohner, erzählt Kevin Preuß. Eine examinierte Fachkraft ist immer mit dabei. Auch gilt dort eine 5-Tage-Woche für die Pflegefachkräfte – die Arbeit mit Demenzkranken sei eine „andere Belastung“, sagt Stephan Berres. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen sich erholen können. Was auf den ersten Blick vielleicht „luxuriös“ erscheint, hat berechtigte Gründe. Damit hebt sich das Haus St. Anna auch deutlich von anderen Einrichtungen ab, wo 12-Tage-Schichten keine Seltenheit sind. Nach zwei freien Tagen kann es da mitunter sein, dass eine weitere 12-Tage-Schicht folgt.

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Viele Pflegeeinrichtungen würden mittlerweile rein profitorientiert arbeiten, bei der Ressource „Personal“ das Menschliche aus dem Blick verlieren, so Dr. Christian Stoffers. „Wer es mit der viel genannten ‘Wertschätzung’ der Pflegeberufe ernst meint, muss die reale Arbeitssituation verbessern. Markt und Wettbewerb richten es nicht, der Gesetzgeber ist hier in der Verantwortung“, unterstreicht Stephan Berres. „Gewinnmaximierung, hohe Renditen und Pflege als Spekulationsobjekt passt nicht zusammen, hat es noch nie.“ Im Haus St. Anna wird sich klar von diesem Verhalten abgegrenzt – das Personal steht an oberster Stelle: „Wir haben so tolle Mitarbeiter hier im Haus und Glück, dass wir sie gefunden haben“, sagt Stephan Berres.

Netphen: Viele Menschen haben ein falsches Bild von Berufen in der Altenpflege

In den Medien würden häufig die schlechten Seiten des Berufes vorgestellt – zum Beispiel, wenn es in Altenheimen zu Missständen käme, erläutert Dr. Christian Stoffers. Marc Neuser und Kevin Preuß beklagen, dass damit ein falsches Bild ihres Berufes erzeugt würde. „Man sollte einfach mal einen Tag hier arbeiten und sehen, wie schön das sein kann“, sagt Marc Neuser. Er und sein Kollege lieben ihren Beruf. Viele Schüler, die ein Praktikum im Haus St. Anna machen würden, kämen mit ganz anderen Job-Vorstellungen zu ihnen, erzählt Kevin Preuß. Er führt „Druck“ und „Personalnot“ als deren Assoziationen an. Dabei geht es bei der Pflege als Erstes um den Menschen, wie er unterstreicht.

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Am 12. Mai ist der internationale Tag der Pflege – diesen Tag wollen das Haus St. Anna und weitere Einrichtungen der Marien Pflege nutzen, um ihre Aktion „Vitamine für die Pflege“ zu starten, aktiv für den Berufsbereich zu werben. „Für uns ist es wichtig, den Weg in der Aktualität und die Zukunft der Pflege aufzuzeigen. Wir sind Menschen in einem sehr schönen beruflichen Umfeld, die nichts Anderes wollen als deutlich bessere Rahmenbedingungen. Dazu brauchen wir jetzt und zukünftig viele Menschen, die gerne in dem Bereich tätig sein wollen“, sagt Stephan Berres. Dafür sollen Stände in den Ortschaften der Einrichtungen aufgebaut werden, damit die Pflege ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt.

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