Kreuztal. Während ihrer Nachtschicht an der Tankstelle in Kreuztal wird ein Baby geboren: Ein Moment, den Alltagsheldin Traudel Becker nie vergessen wird.

Der Moment, den sie sich so gewünscht hatte und den sie nie vergessen wird: Er passierte während Traudel Beckers erster Nachtschicht-Woche an der Tankstelle in Kreuztal. Die Tankquittung des frischgebackenen Vaters hält ihn fest: Um 3.33 Uhr am 13. Oktober erblickt der kleine Pawel das Halogenlampenlicht der Welt. Dank Traudel Becker. Sie ist froh, dass sie da war. „Manche anderen wären sicher überfordert gewesen“, sagt sie lächelnd.

Kreuztal: Traudel Becker hilft bei Geburt mitten in der Nacht

Seit zwei Wochen arbeitet die 61-Jährige an diesem Tag erst an der Tankstelle an Kreuztals meistbefahrener Kreuzung, eine Woche Tag-, davor Frühschicht. Mitten in der Nacht kommt ein Mann herein, ganz aufgeregt, und fuchtelt mit dem Handy herum: Er braucht einen Krankenwagen, das Mobiltelefon funktioniert nicht. Traudel Becker nimmt das Gerät, ruft die 112, bekommt irgendwie mit, dass da eine Frau im Auto liegt. Und dass die Fruchtblase geplatzt ist. Traudel Becker ordert den Krankenwagen direkt zur Tankstelle, nicht zur Adresse der Familie.

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Draußen steht eine Frau neben dem Wagen, die Mutter des Mannes. „Das Kind ist schon da“, sagt die. Traudel Becker reißt die Autotür auf und sieht eine junge Frau auf der Rückbank liegen, ein Neugeborenes zwischen ihren Beinen. Es hat keine gesunde Farbe. „Keine Angst, ich bin die Traudel“, sagt sie zur zitternden Mutter; es ist kalt in dieser Herbstnacht, „ich helfe Dir jetzt.“ Vorsichtig reibt sie das Baby, berührt es am Kopf, es beginnt zu weinen. 5 Grad sind es draußen.

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Der frischgebackene Vater ist so aufgeregt, dass er Verbandskasten und Rettungsdecke nicht findet. Das Neugeborene droht zu unterkühlen, Traudel Becker holt ihre gefütterte Jacke, wickelt das Kind darin ein, legt das Bündel der Mutter auf den Bauch. Traudel Becker reibt auch sie warm, „ich hatte Angst, ihr Kreislauf kollabiert“.

Geburt an Tankstelle in Kreuztal: Nach 10 Minuten kommt der Krankenwagen

Nach einer gefühlten Ewigkeit – gut 10 Minuten waren es, das überprüfen sie später anhand der Videoüberwachung – kommt der Notarzt, der Krankenwagen bringt Mutter und Kind ins Krankenhaus. Traudel Becker gibt dem Vater sein Handy zurück, sagt ihm, dass er sich jetzt um seine Familie kümmern soll. „Der war total neben sich“, erzählt sie. Ein paar Tage später kommt der Mann wieder zur Tankstelle, bringt Blumen und Pralinen. „Das war doch selbstverständlich, dass man in so einer Situation hilft“, sagt Traudel Becker. Inzwischen sprechen die Leute sie in der Tankstelle an: „Sie sind doch die Hebamme!“

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„Ich bin ein bisschen esoterisch angehaucht“, sagt Traudel Becker und kichert – kurz zuvor hatte sie Karten gezogen. Den Park für die Öffentlichkeit. Den Stern für die Wunscherfüllung. Das Herz für die Liebe. Sie hat zwei eigene Kinder zu Welt gebracht, wusste immer noch, was zu tun ist; war bei der Geburt ihres Enkels dabei und hatte sich danach oft gewünscht, noch einmal so etwas Schönes zu erleben. Die Karten, so sieht sie das, waren das Zeichen, dass ihr Wunsch in Erfüllung geht. „Wenn da ein kleines Baby frisch geschlüpft liegt – das ist etwas ganz Besonderes.“

Kreuztal: Alltagsheldin Traudel Becker hatte es nicht immer leicht

Wer Gutes tut, dem widerfährt Gutes, daran glaubt Traudel Becker fest und das musste sie mühsam lernen. Sie hat viel erlebt und einiges durchgemacht. Nach einer jahrzehntelangen Ehe, die irgendwann nicht mehr funktionierte, hat sie sich aus diesem Leben befreit, verlor dadurch Freunde, die eigentlich keine waren. Menschen die ihr nahestanden, starben, sie pflegte sie bis zum Tod. Die Familie überlebte ein Feuer, ihre Firma ging pleite, weil Kunden zahlungsunfähig waren. Quasi über Nacht nahm sie zwei Pflegekinder an, deren Eltern gestorben waren. Traudel Becker arbeitete unter anderem für eine Sicherheitsfirma, wurde schließlich in eine Asylunterkunft versetzt, bekam darüber eine chronische Darmkrankheit. Nach sechs Monaten war sie gesundheitlich zu stark angeschlagen. „Man braucht eine raue Schale.“ Sie selbst, Typ warmherzige Großmutter, sei da zu empathisch, zu sensibel. Sie spürte die Ängste der Menschen. Als sie eine Zeit lang am Empfang der Beratungsstelle für Mädchen in Not arbeitete, vertrauten sich die Mädchen ihr an, schrieben ihr Postkarten aus dem Urlaub. „Sie hatten wohl das Gefühl: Die hört mir zu und kann sich einfühlen.“ Und es tut ja keinem weh, wenn sie der Kundin, die so traurig aussieht, sagt: Der Pullover steht Ihnen aber gut. Die Frau lächelte. „Es macht Freude, das Lächeln anzuzünden“, sagt Traudel Becker.

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Man kann immer etwas Gutes tun, sagt sie, und wenn man einfach nur freundlich zu den Menschen ist. Das ist sie an der Tankstelle, auch wenn sie sich da manchmal einiges anhören muss. Einmal ging sie dazwischen, als eine Frau im Bus bedroht wurde. „Sonst hat keiner was gemacht, sagt sie. Die Unbekannte bedankte sich später, via Facebook, bei der Frau, die sie vor ihrem betrunkenen Exfreund bewahrt hatte. Ein anderes Mal, es war bitterkalt, lag ein Betrunkener vor der Sparkasse in Kreuztal, nicht ansprechbar. „Alle guckten“, erzählt Traudel Becker. Sie ging hin, vertrieb ein paar Burschen, die mit dem Fuß gegen den Betrunkenen traten, wies die Umstehenden an, Hilfe zu holen, blieb da, bis der Notarzt kam.

Kreuztal: Alltagsheldin Traudel Becker fordert mehr Zivilcourage

Es sollte mehr Zivilcourage geben, findet Traudel Becker. Sie findet, dass sie da durchaus ein Vorbild ist. Denn eigentlich sollte jeder so sein. Nachdem sie dem kleinen Pawel auf die Welt geholfen hatte, meldete sich ihre eigene Tochter: Sie sei total stolz auf die Mutter. „Das Lob war fast das Größte für mich.“

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Nach dem Ende ihrer Ehe war Traudel Becker zunächst isoliert, „heute bin ich gerne Single, mich muss keiner mehr ergänzen, ich bin schon komplett“, sagt sie. Stundenlang geht sie im Wald spazieren, mit ihren beiden Hunden, mit ihrem Enkel, mit dem sie zusammen den Müll aufpickt. Die Arbeit an der Tankstelle ist nicht ihr Traumjob. Aber sie hat Kontakt zu Menschen. Das fehlte ihr zeitweise. „Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein“, sagt Traudel Becker. Sie ist bescheiden und zufrieden damit. Sie hatte Monate, in denen sie mit 100 Euro klarkommen musste, aber in denen sei sie zufriedener gewesen als in ihrer Ehe, wo ihr 1000 zur Verfügung standen.

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Traudel Becker hat sich den Glauben an das Gute bewahrt, auch wenn sie schwere Zeiten durchmachte. Sie hat beschlossen, dass sie auch mal Nein sagen, sich etwas Gönnen, ihr Ding machen kann. Sie ließ sich tätowieren. Wieso auch nicht? Jetzt ist die Phase, in der das Gute im Leben kommt. Bisher: ging so. Aber jetzt! Oft habe sie in ihrem Leben gedacht: Warum muss ich das durchmachen? Jetzt versucht sie, immer das Positive zu sehen. Wenn es regnet, freut sie sich für die Natur, die den Regen braucht. Und dass sie ihre Gummistiefel ausprobieren kann. „Mal schauen, wie man den Tag schön machen kann.“ Man müsse sich halt etwas einfallen lassen. Und das klappt immer besser.

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